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verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Die Massage.

Eine neue, aber doch uralte Heilmethode.

Wenn die Dämmerung längst eingetreten ist und nun Alles in ihren grauen Schleier eingehüllt hat, dann hört man in den Straßen der japanesischen Städte hin und wieder ein eigenthümliches, melancholisches Pfeifen. Bald ertönt es hier, bald dort; forscht man nach dem Urheber dieser sonderbaren, nächtlichen Musik, so erblickt man einen Mann in japanischer Tracht und mit geschorenem Haupte, der langsam einherschreitet und mit Hülfe eines langen Stockes vorsichtig den einzuschlagenden Weg betastet. Dann und wann führt er eine kleine Rohrpfeife zum Munde und entlockt derselben klagende, wehmüthige Töne. Der Unglückliche hat, wie so viele seiner Mitmenschen in Japan, sein Augenlicht durch die Blattern verloren, und um nicht durch Almosen sein Leben fristen zu müssen, hat er einen Beruf erwählt, den auch ein blinder Mann noch erfüllen kann; er ist „Ammasan“ geworden.

Hat der Ton seiner Pfeife einen Kunden angelockt, so läßt er sich von diesem an die Hand fassen und in dessen Wohnung geleiten, um die wohlerlernte Kunst eines Ammasans auszuüben, die im Massiren, das heißt im Kneten und Streichen leidender Körpertheile, besteht. Wünscht der Patient eine allgemeine Behandlung, so entfaltet der Ammasan die Summe seiner ganzen Geschicklichkeit; er streicht die Haut, klopft, knetet, drückt, hackt und reibt die Muskeln, und da ist kein Theil des Körpers, der sich über eine Vernachlässigung zu beklagen hätte. Alles wird mit großer Sachkenntniß gründlich verarbeitet und zwar in der mannigfaltigsten Weise. Die Kunst des blinden Mannes ist aber keine moderne; denn seit uralter Zeit gab es in Japan Lehrer, die Unterricht in der Massage ertheilten und dieselbe zu einer wirklichen Kunst heranbildeten. Das Volk aber benutzte frühzeitig das vortreffliche Heilmittel gegen Rheumatismus etc., und bis auf den heutigen Tag erfreut sich die Massage bei den Japanesen einer außerordentlichen Beliebtheit; denn nicht allein gegen die verschiedensten Krankheiten wird in Japan die Massage angewandt, sondern auch als ein Erfrischungs- und Stärkungsmittel für die Gesunden.

In Indien ist die Massirmethode mindestens zweitausend Jahre in Gebrauch; denn ein griechischer Historiker, der dort 300 v. Chr. verweilte, erzählt uns, daß zu seiner Zeit unter den Brahminen ein Orden von Aerzten bestanden habe, der sein Heilverfahren besonders auf Diät und Enthaltsamkeit, in Verbindung mi] äußeren Proceduren, gegründet habe. Wahrscheinlich waren die letzteren nichts Anderes als ein System von heilkräftigen Behandlungen; existirt doch gegenwärtig noch in den „Fluren des Ganges“ ein Brahminen-Orden, dessen vornehmste Heilmethode ein hygienisches Frottiren und Massiren (Shampooing) nach dem Bade ist.

Die in Indien ansässigen Engländer haben Verschiedenes über dieses Verfahren mitgetheilt. Der Behandelte liegt ausgestreckt auf einem Lager, während der Brahmine seine Glieder verarbeitet, als ob er einen Teig knete. Dann streicht er den Körper sanft mit der flachen Hand, parfümirt und salbt ihn und beschließt seine heilsame Handlung damit, daß er die Gelenke der Zehen, der Finger und des Genickes beugt und streckt. Nach Vollendung der ganzen Operation bemächtigt sich des Patienten ein Gefühl von Wohlbehagen und Kraft. Die indischen Damen sollen sich zu einem großen Theile täglich durch ihre Sclaven in der angegebenen Weise massiren lassen.

Aehnliche Methoden sind bei anderen Völkern des Orients im Gebrauche, beispielsweise bei den Türken. Den alten Griechen und Römern war der wohlthuende Einfluß des Massirens ebenfalls bekannt; denn sie ließen sich nach dem Bade durch ihre Sclaven reiben, kneten und salben, und der berühmte Hippokrates legte einen Werth darauf, daß der Arzt neben anderen für sein Fach wichtigen Dingen auch die Massage verstehe.

Der bekannte römische Arzt Asclepiades, der hundert Jahre vor Christo lebte, war gleichfalls ein Anhänger dieser Heilmethode, und ich könnte noch manches Andere anführen, das den Beweis liefert, wie schon in alten Zeiten dieses für die Menschen so segensreiche Verfahren ausgeübt worden ist.

Man darf wohl behaupten, daß die instinctiven Anfänge der mechanischen Behandlung von Krankheiten mit dem Auftreten der ersten Menschen auf unserem Planeten zusammenfallen; denn nichts ist natürlicher, als den Versuch anzustellen, irgend einen schmerzhaften Theil des Körpers durch Streichen, Reiben etc. zu beruhigen. Es blieb jedoch unserem Jahrhundert vorbehalten, diesem Heilverfahren eine wissenschaftliche Grundlage zu verleihen und ihm eine allseitige Beachtung in der gelehrten Welt zu verschaffen.

Der Schwede Pehr Henrik Ling war es, der mit der Aufstellung eines gymnastischen Systems auf rein anatomisch-physiologischen Grundsätzen auch die passiven Bewegungen einführte und den letzteren, deren hervorragender Theil die Massage bildet, eine wissenschaftliche Basis verlieh. Dies geschah im zweiten Decennium dieses Jahrhunderts, und die Schüler Ling’s haben die Massirmethode im ausgedehntesten Maße verwendet und sie auf rationelle Weise ausgebildet. Unter denselben ist besonders Herr Professor Branting in Stockholm rühmlichst hervorzuheben. Seit langer Zeit werden in Schweden sämmtliche Arten dieser passiven Bewegungen, wie Streichen, Klatschen, Klopfen, Kneten, Reiben, Hacken, Punktiren etc. mit großem Erfolge angewandt, aber trotzdem wurde das Heilverfahren außerhalb des genannten Landes in den anderen abendländischen Staaten nicht populär.

Neuerdings hat nun ein Holländer, Namens Metzger, der mit Hülfe der Massage glänzende Erfolge erzielte, sowohl die Aufmerksamkeit der Gelehrten, wie auch diejenige des großen Publicums auf sich gezogen, und Viele pilgerten nach Amsterdam, theils um dort Heilung zu suchen, theils um das Verfahren Metzger’s kennen zu lernen. Dieses letztere bringt nun hauptsächlich vier Arten von Manipulationen in Anwendung:

1) Effleurage: sanftes und langsames Streichen mit der flachen Hand.

2) Massage à friction: kräftiges Streichen und kreisförmiges Reiben abwechselnd, entweder mit einer Hand oder mit beiden Händen.

3) Pétrissage: Kneten.

4) Tapotement: Klopfen, Pochen und Schlagen, mit der flachen Hand oder deren Kante und mit der geschlossenen Hand. Auch wird zu diesem Zwecke unter Umständen ein Percussionshammer verwendet.

Die Knetung wird je nach den Verhältnissen zwei- bis viermal täglich zur Anwendung gebracht, und zwar gewöhnlich sechs bis acht Minuten. Das ist die sogenannte forcirte Curmethode, und es ist eins der hervorragendsten Verdienste Metzger’s, dieselbe eingeführt zu haben.

Außer der Massage werden als Hülfsmanipulationen noch andere passive Bewegungen mit den Patienten vorgenommen, wie die letzteren auch active gymnastische Uebungen ausführen müssen. Uebrigens kommen noch häufig Gypsverbände, Bäder nebst Anderem zur Verwendung.

Wir sehen also, daß die Massage nicht ohne Hülfsmittel betrieben wird und daß selbst Metzger, als bedeutender Specialist in diesem Fache, die activen Bewegungen als wesentliche Unterstützung der Cur ansehen dürfte, wenngleich er von diesem Theile der Heilgymnastik nur einen beschränkten Gebrauch macht. Ling legte dagegen einen sehr hohen Werth darauf, den gesammten Organismus durch sinnreich erdachte Uebungen zu kräftigen, und er wandte die Massage, wenn es irgend thunlich war, in Verbindung mit den verschiedenartigsten Körperbewegungen an. So hat er z. B. die höchst originellen Widerstandsbewegungen eingeführt, bei welchen der Gymnast dem Patienten einen gewissen, dem vorhandenen Kraftmaße anzupassenden Widerstand zu leisten hat.

Massage und active Bewegungen stehen übrigens in so naher Beziehung zu einander, und die letzteren gewähren der ersteren einen so außerordentlichen Beistand, daß selbst die Völker des Alterthums diesem wichtigen Umstande Beachtung schenkten und meist beiden die richtige Würdigung zu Theil werden ließen.

Es darf daher nicht Wunder nehmen, daß die gymnastischen Uebungen zum Zwecke der Kräftigung und Heilung des Körpers ebenfalls eine uralte Heilmethode bilden; es sollen z. B. die Chinesen schon 2698 v. Chr. ein besonderes System von Körperbewegungen in gedachter Hinsicht zur Anwendung gebracht haben, und Pater Amiot, ein französischer Missionär, hat uns über die Heilgymnastik der Chinesen, welche den Namen „Kong-Fou“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 445. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_445.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)