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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

war keine gewöhnliche Figur, das Gesicht gehörte zu denen, welche durch Schnitt und Ausdruck sich aus der großen Menge hervorheben und deshalb von Jedem leicht in der Erinnerung behalten werden. Seine Züge waren offen und freundlich, aber unter der breitgewölbten Stirn funkelten ein paar stahlblaue Augen von ungewöhnlicher Energie, und die frühe Falte zwischen beiden Brauen konnte sich gewaltig vertiefen, wenn der Anlaß dazu vorlag. Im Augenblick war sie kaum zu bemerken; der junge Mann sah mit etwas ironischem Lächeln Herrn Nordstetter's diensteifrige Bemühungen und wandte sich dann zu seiner Nachbarin.

„Wer ist denn diese vom Himmel gefallene Vorsehung, die Sie so plötzlich hier in Beschlag nimmt? Eine Bekanntschaft von früher, gnädiges Fräulein?“

„Nur von einer Woche in Riva,“ flüsterte sie, „ein F…er Banquier, der dort viel mit uns zusammen war. Er ist sehr reich und langweilt sich -“

„Und möchte, wie es scheint, diesem Uebel abhelfen,“ sagte Erich Björnson sarkastisch. An Weiterem verhinderte ihn das Neuherantreten des Genannten, der ihm mit vieler Höflichkeit den vierten Platz in der Gondel anbot.

„Ich danke sehr,“ erwiderte hastig der junge Mann, „mein Quartier liegt in der entgegengesetzten Richtung. Ich werde mit dem Alten dort fahren,“ setzte er hinzu, indem er dem Fräulein die Hand zum Einsteigen bot und dann noch einen Moment mit gezogenem Hute neben dem schwarzen Fahrzeug stand, während Leontine sich in die Kissen zurücklehnte und den leichten Gazeschleier ihres Reisehütchens wieder fest um das Gesicht steckte.

„Adieu, Herr Björnson, hoffentlich auf baldiges Wiedersehen – hier oder dort!“ rief sie lachend, „das heißt in unserem Hotel oder auf Ihrem Atelier, wo wir Sie überfallen werden. wenn Sie nicht Wort halten.“

„Darüber seien Sie außer Sorgen, gnädiges Fräulein!“ rief er mit glänzenden Augen. „Das Worthalten ist mir in meinem Leben noch nicht so angenehm erschienen, als in diesem Falle. Ich darf Sie nicht länger aufhalten – auf Wiedersehen!“

Er trat grüßend einen Schritt zurück; das Ruder zog an, und in der nächsten Minute glitt die Gondel, wie mit eigener Bewegung begabt und nur von dem Ruf des Gondoliers gelenkt, hurtig und geschickt zwischen den vielen übrigen Fahrzeugen auf den dunklen Wassern nach dem Rialto zu

Erich Björnson stand noch eine Weile mit dem Gefühl eines Menschen, dem plötzlich die Flüchtigkeit auch der reizendsten Reisebekanntschaft klar wird, und sah dem weißen flatternden Schleier nach. Da zog sie hin, und ein Anderer saß jetzt an seiner Stelle ihr gegenüber; er konnte das leise aristokratische Parfüm ihrer Nähe einathmen und die elegante Einfachheit des weichen grauen Reisekleides mit dem männerartig übergeklappten Paletot und der kleinen dunkelrothen Cravattenschleife bewundern, gerade wie er es seither gethan hatte. Aber pah! Woher sollte der nüchterne Geschäftsmensch die Augen nehmen, um zu sehen, wie köstlich dies Alles mit dem blassen Ton ihres Gesichtes harmonirte und mit den tiefgesteckten blauschwarzen Flechten unter dem kleinen dunklen Reisehut! Woher sollte ihm die künstlerische Empfindung kommen für die Feinheit dieser Profillinie, deren leisen Hebungen und Senkungen nachzugehen allem schon Beschäftigung für lange Stunden gab, selbst wenn die Augen nicht das gewesen wären, was sie in Wirklichkeit waren, ein Paar blauer, schwarzumsäumter, räthselhafter Sterne, die so melancholisch kalt und traurig bleiben konnten, um sich dann plötzlich im Gespräch und Scherz glänzend zu erhellen, als lägen Schätze von Begeisterung und Zärtlichkeit auf dem Grunde der Seele verborgen, bis man die undurchdringliche Scheidewand wieder merkte, die das Hineinsehen verwehrte. All das stand noch so lebendig vor ihm, und nun – dort zog sie hin; dort flatterte der weiße Schleier noch einmal auf und verschwand dann um die Ecke eines kleinen Canals.

Plötzlich zu sich kommend, warf der junge Maler einen Blick rundum und sah den alten Antonio eben im Begriff, da er nicht gehört wurde, sich mit allem Respect fühlbar bemerklich zu machen.

„Ja, Alter, ich komme!“ rief Erich dem graubärtigen, treuherzigen Spitzbubengesicht freundlich zu, warf sein Köfferchen in das Fahrzeug und schwang sich selbst hinterdrein. „Wahrhaftig, ich hatte noch keine Zeit, Euch guten Abend zu sagen. Ist aber schön von Euch, daß Ihr noch lebt; hoffe, die ganze Casa Bertucci folgt Eurem Beispiel. Was macht Donna Erminia?“

Der Alte schüttelte langsam den Kopf. „Es geht ihr nicht gut, Herr; sie ist geduldig, wie eine Heilige, aber der Husten, der böse Husten! Haben Sie schon ein Lämpchen ausglimmen sehen, immer schwächer und schwächer, daß man immer denkt nun verlischt es?“

„Und das Kind, die Ninette?“

„Das Kind?!“ Antonio machte ein krauses Gesicht. „Nun die ist hübsch groß geworden in den sechs Jahren, seit Sie nicht hier waren. – Stali-i-i-i,“ tönte sein langgezogener Ruf zu einem voranfahrenden Steinschiff hinüber, und im nächsten Augenblicke hatte sie ebenfalls ein kleiner Seitencanal zwischen seine düsteren Häuserwände aufgenommen. – –

Die Drei in der andern Gondel waren sich ein paar Augenblicke schweigend gegenüber gesessen. Leontine’s Augen hatten die Richtung über die Köpfe der beiden Herren hinaus genommen und umfaßten – ob mit Vergnügen oder Gleichgültigkeit, konnte man nicht wissen – das eigentümliche und in allen Wendungen sich gleich bleibende Bild des venetianischen Seitencanals: düstere, fensterarme Facaden, dann und wann eine hochgeschwungene Bogenbrücke dazwischen; die eine Häuserreihe tief im Schatten, der obere Theil der anderen grell von der Sonne beschienen, Wäschestücke an den Fenstern, droben ein dreieckiges Stückchen Himmelblau hereinleuchtend – aber welche Tinten in Architektur, Wasser und Luft!

Herr Nordstetter, welcher durch seinen angesetzten Zwicker vom Vordersitze aus recht wohl Erich’s minutenlanges Nachstarren bemerkt hatte, brach endlich das Schweigen.

„Wer ist denn dieser junge Mann?“ fragte er. „Ein Künstler vermuthlich?“

„Ein sehr bedeutender sogar!“ parirte Fräulein Leontine mit einiger Lebhaftigkeit die etwas geringschätzige Frage.

In spe, mein Kind,“ fügte ihr Papa vorsichtig hinzu. „Bis jetzt sind seine künftigen Bilder nur große Entwürfe und Skizzen, allerdings von ganz außergewöhnlichem Talent, aber ob er ein Publicum für seinen eigentümlichen Stil findet, das fragt sich.“

„Du vergißt das Bild auf der Wiener Anstellung, welches ihm mit einem Male einen Namen gemacht hat.“

„Es giebt zweierlei ‚Namen‘ in Deutschland, einen blos ehrenvollen und einen lucrativen. Ich wünsche ihm von ganzem Herzen, daß er den Weg zum letzteren auch finden möge; bis jetzt sieht es mir nicht darnach aus.“

Herrn Nordstetter’s etwas nachdenkende Miene hatte sich bei den letzten Worten des Barons bedeutend aufgeklärt; er sagte mit dem Tone ungeheuchelten Wohlwollens.

„Er scheint ein sehr angenehmer junger Mann zu sein.“

„Das ist er in der That,“ meinte der Baron, „eine liebenswürdige Menschennatur, die Einem das Herz von Grund auf erwärmt, so voll und stark und ungebrochen, wie diese Nordländer eben sind, im Gegensatz zu unserer von Pessimismus angefressenen Jugend, die schon mit neunzehn Jahren über das Elend der Welt seufzt. Ich sagte es ihm gestern in Verona im Amphitheater; er stand da, wie der breitschulterige blauäugige Totilas, der in modernem Anzug gekommen ist, sich die alten Stätten wieder einmal anzusehen.“

Herr Nordstetter hatte seine guten Gründe, auf solche historische Excurse, wie sie der Baron liebte, nie einzugehen; es war ihm überdies sehr gleichgültig, was der blauäugige Totilas jemals in Verona zu schaffen hatte, wenn ihm nur sein Ebenbild in Venedig nicht in die Quere kam.

„Und zu welchem Zweck ist Herr Björnson hier?“

„Zunächst, wie wir Alle, diese merkwürdige Zusammenkunft Franz Joseph’s und Victor Emanuel’s mit anzusehen, dann, wenn es wieder still geworden ist, um Studien zu machen für ein großes ‚Begräbniß Tizians‘, welches er in B. vollenden will. Ich habe die Photographie der Skizze gesehen – ausgezeichnet!“

Herrn Nordstetter’s Stirn wurde immer heiterer.

Der junge Mann war also gänzlich ungefährlich, und es bestand kein Grund zu Befürchtungen, wie sie sich ihm vorhin beim unerwarteten Anblick des so heiter plaudernden Paares aufgedrängt hatten. Er hatte sich in der vorhergehenden Woche in Riva der Erkenntniß nicht verschließen können, daß seine Person ohne den goldenen Hintergrund seines F…er Hauses und der fürstlichen Villa am Rheine gar nicht den überwältigenden Effect machte, welchen er seit seinem zweijährigen Wittwerstand in der heimathlichen Gesellschaft zu bemerken gewohnt war, ja, er hatte von der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_406.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)