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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

zu sehen, welche Stellung der Protestantismus in der protestantischen Kirche selbst einnimmt.

Die erste Veranlassung zu der Reformation ist bekanntlich in der Erkenntniß zu suchen, daß sich in die Kirche bestimmte Mißbräuche eingeschlichen hatten, deren Beseitigung gebieterisch gefordert wurde. Uns ist der Gedanke an kirchliche Mißbräuche jetzt so geläufig, ja fast selbstverständlich, daß wir die volle Tragweite desselben nur selten übersehen. Und doch war dieser einfache Gedanke ein so großer, daß er im Grunde schon der ganzen mittelalterlichen Denkweise den Todesstoß versetzte. Können sich in die Kirche Mißbräuche einschleichen, so kann die Kirche irren. Und kann die Kirche irren, so ist sie nicht das, wofür sie sich ausgab und wofür sie gehalten wurde, eine unantastbare göttliche Institution. Sie unterliegt als menschliche Einrichtung der Kritik. Der denkende, kritisch prüfende Mensch steht über jeder kirchlichen Autorität.

Luther selbst erschrak, als er sich in der Disputation mit Dr. Eck zuerst zu der Behauptung fortreißen ließ, daß auch ein kirchliches Concil irren könne, und doch war er erst mit dieser Behauptung wirklich Protestant und Reformator.

Der moderne Protestantismus thut nun zunächst nichts Anderes, als daß er dieses ursprünglichste Recht des Protestantismus, an der Kirche Kritik üben zu dürfen, consequent und allseitig durchzuführen sucht. Der alte Protestantismus hatte die Möglichkeit, daß die Kirche irren könne, nur auf die spätere Zeit bezogen aber insbesondere die vier ersten Jahrhunderte der kirchlicher Entwickelung von dieser Möglichkeit ausgenommen. So verwarfen die officiellen Bekenntnißschriften der älteren Protestanten, namentlich die Augsburger Confession, viele Concilienbeschlüsse und päpstliche Decrete späterer Jahrhunderte, nahmen aber die Beschlüsse der ältesten allgemeinen Concilien und die Glaubensregel der ersten Jahrhunderte ohne Weiteres an. Diese Inconsequenz war zu einer Zeit, in der eine wissenschaftliche Theologie noch kaum sich zu bilden anfing, begreiflich. Je mehr der ganze kirchliche Nimbus auf den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirche lag und je ferner dieselben der Zeit nach dem Bewußtsein der Reformatoren gerückt waren, desto schwieriger mußte ein unbefangenes critisches Urtheil über dieselben werden. Erst der neueren Theologie ist es vorbehalten geblieben, auch in das Dunkel dieser Jahrhunderte Licht zu bringen.

Die neuere Theologie betrachtet mit Recht die Entwickelung der Kirche als ein organisches Ganzes. Der imposante Bau der mittelalterlichen Kirche ist von einer einheitlichen Grundidee getragen. Alle Lehren, Cultusformen und Verfassungseinrichtungen derselben haben sich organisch aus dieser Grundidee entwickelt. Deshalb muß auch der Keim zu allen späteren Verirrungen der Kirche schon in der Grundidee selber liegen. Der immense Aufwand von Scharfsinn und Gelehrsamkeit, mit dem seit etwa fünfzig Jahren die Quellen aus jener ältesten Zeit der Kirche durchforscht, die scheinbar geringfügigsten Notizen für das Gesammtbild der Zeit verwertet worden sind, hat deshalb unvermeidlich dahin führen müssen, den Glauben an die Unfehlbarkeit, welche die Kirche den ersten Jahrhunderten beilegte, zu zerstören. Nach den dogmengeschichtlichen Untersuchungen der neueren protestantischen Theologie gehört heute eine wenig beneidenswerte Dreistigkeit, die Dreistigkeit der Ignoranz, dazu, um an die protestantische Kirche noch die Zumutung zu stellen, sie solle sich auch fernerhin an die kirchliche Glaubensregel der drei ersten Jahrhunderte gebunden erachten. Es sind besonders die Lehrbestimmungen über die göttliche Dreieinigkeit und die Gottheit Jesu, die in jener Zeit durch das Nicänische Concil ihre amtlichen Festsetzungen erhalten haben. Die Kirche behauptet, in dem Dogma des Nicänischen Concils, daß der Sohn „wesensgleich“ sei mit dem Vater, das eigentliche Fundamentaldogma des Christenthums zu besitzen. Sie behauptet, dieses Dogma sei unter der Leitung des „heiligen Geistes“ entstanden. Die Wissenschaft dagegen zeigt, wie dieses Dogma wesentlich einer außerhalb des Christentums stehenden Gedankenwelt, nämlich derjenigen der alexandrinischen Religionsphilosophie und des Platonismus, seine Entstehung verdankt, und daß recht unheilige Factoren, das Bündniß der Politik und der Hierarchie, Palastintriguen der byzantinischen Hof-Theologen und die Charakterlosigkeit der Mehrzahl der Bischöfe, mitwirken mußten, um schließlich dem orthodoxen Dogma zum Siege zu verhelfen.

Doch die Theologie des modernen Protestantismus geht noch einen Schritt weiter. Sie verfolgt den Faden der Kritik aus der Zeit der ältesten Kirche bis in die Tage der Apostel. Auch die kirchliche Entwickelung der drei ersten Jahrhunderte ruht ja wieder auf den Schultern des sogenannten apostolischen Zeitalters, welches bei dem älteren Protestantismus in ganz besonderem Sinne eine Ausnahmestellung eingenommen hatte und gewissermaßen als das paradiesische Zeitalter der Kirche erschien. Hier sollte Alles urbildlich und vollkommen, Alles ein Herz und eine Seele sein. Da entdeckte die Kritik unter Führung des großen Tübinger Theologen F. Chr. Baur, daß die Gegensätze, welche in der späteren Kirche ihre Vermittlung suchen bis in diese Zeit der Apostel hineinreichen und in dem deutlich hervortretenden Gegensatz zwischen Paulus und Petrus, zwischen dem freieren Hellenismus und dem conservativen Judaismus, ihren Ausgangspunkt haben. Die Schriften des Neuen Testaments, in welchen die Orthodoxie nur den einheitlichen und widerspruchslosen Ausdruck göttlicher Offenbarung erblickte, sind alle mehr oder weniger von diesem Gegensatz einer freieren und einer conservativen Auffassung des Christenthums mitberührt worden. Sie vertreten also eine jede nur einen bis zu einem gewissen Grade einseitigen Standpunkt. Damit wird aber die behauptete Urbildlichkeit des apostolischen Zeitalters und die Autorität der neutestamentlichen Schriften von selbst hinfällig. Wenn der Jacobus-Brief mit bewußter Polemik an der paulinischen Rechtfertigungslehre Kritik übt, wenn Paulus selber es verweigert, sich unter die Autorität der Apostel, welche in Jerusalem das Ansehen hatten, zu stecken, so haben die Protestanten wahrlich keine Veranlassung, die Denkweise der Apostel als Norm und Schranke für ihre eigene religiöse Denkweise anzunehmen.

Aber ist denn die critische Geschichte der Kirche mit dem Zeitalter der Apostel an ihrem letzten Punkte angekommen? Keineswegs. Die Apostel sind ja nur die Vertreter einer religiösen Bewegung, die ein Anderer erzeugt hatte, und in die sie fast unwillkürlich mit hineingezogen waren. Hat der moderne Protestantismus den Muth, auch an den geistigen Urheber des Christenthums, an Jesum von Nazareth selber, den Maßstab seiner Kritik anzulegen? Die Theologie wäre sich selber untreu, wenn ihr dieser Muth fehlte.

Für unsere deutsche Theologie war es Dav. Friedr. Strauß, der zuerst klar und deutlich die Nothwendigkeit erkannte, die Arbeit der protestantischen Kritik bis in das Leben Jesu hinein fortzuführen. Gewiß gilt von Strauß dasselbe, was in Beziehung auf Ferd. Baur in den „Worten der Erinnerung“ gesagt ist:

„Es gehört viel Muth und ein klares, festes Gewissen dazu, um das, was dem christlichen Volke heilig ist, nach der Weise menschlicher Dinge zu prüfen und darüber zu urtheilen; es gehört ein reiner Geist und ein männliches Herz dazu, nur auch bei solcher Arbeit und unter allen Kämpfen, die sie hervorruft, bezeugen zu können: Ich bin mir nichts bewußt, nichts - als in meinem Theile der Wahrheit zu dienen.“ (Karl Schwarz, „Zur Geschichte der neuesten Theologie“, S. 169.)

Auf keinem Gebiete hat die neuere Theologie wohl glänzendere Resultate aufzuweisen, als gerade in ihren Arbeiten über das Leben Jesu. Da galt es, um überhaupt nur den Boden für eine geschichtliche Behandlung des Lebens Jesu zu gewinnen, zuerst das Quellenmaterial zu sichten. Hatte Baur durch seine epochemachenden Untersuchungen über die vierte der uns überlieferten Evangelienschriften wenigstens das Eine festgesteckt. daß die Schrift, das sogenannte Evangelium nach Johannes, als Quelle für die Geschichte des Lebens Jesu nicht verwendet werden könne, so that Strauß den weiteren Schritt, daß er in sämmtlichen Evangelien bedeutende mythische Bestandteile nachwies und wenigstens den Versuch machte, das Mythische von dem Geschichtlichen zu sondern. War auf diese Weise der Boden für eine geschichtliche Betrachtung des Lebens Jesu einigermaßen geebnet, so galt es weiter, den geschichtlichen Rahmen festzustellen, innerhalb dessen sich dieses Leben bewegt hatte. Die religiösen, politischen und geographischen Verhältnisse Palästinas mußten neuen Untersuchungen unterworfen werden, um durch die Verbindung des Lebens Jesu mit der gesammten Geschichte seiner Zeit neue Gesichtspunkte für die kritische Betrachtung zu gewinnen. Erst im Zusammenhange mit allen diesen wissenschaftlichen Vorarbeiten konnte die Cardinalfrage des modernen Protestantismus gestellt und beantwortet werden: Was ist Jesus an sich gewesen? Was ist er für die Entwickelung der protestantischen Kirche?

Die Beantwortung dieser Frage besteht darin, daß die neuere

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 399. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_399.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)