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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

„Tropf Du!“ schrie der Gefangene und stieß die gefesselten Hände mit solcher Gewalt gegen die Brust des Schreibers, daß er ihn an die Mauer warf. Mit einem Aufschrei des Schmerzes sank dieser zu Boden.

Nun wollte der Wüthende noch weiter auf ihn eindringen, aber die Aufseher stürzten herein und befreiten den Blutenden von seinem Würger, der wie ein Rasender sich wehrte und kaum bezwungen und in festere Bande gelegt werden konnte.

Der Verwundete wurde zu einem Arzte gebracht.

Trotz der vorgerückten Nachtzeit hatte der Vorfall einige Leute herbeigezogen die voll Neugier und herumfragend ihre Muthmaßungen und Bemerkungen vorbrachten; denn man hatte aus dem Innern des Gefängnisses den besagen Streit und das Jammern des Verwundeten gehört. Schwer aufathmend lag der Gefangene in seiner Zelle, er, der sich noch vor einer Stunde so sicher geglaubt, er war nun gebunden den Folgen seiner That überliefert.

Stunden lang blieb er so in einer Art von Betäubung, stöhnend, sich verzweiflungsvoll auf dem Stroh herumwälzend; nach und nach kam die Besinnung, kam ein Gefühl von Reue über ihn. Sein Muth war gewichen; er gab sich auf, und den Mord zu leugnen fiel ihm nicht mehr bei; er wünschte nur noch, daß das ihm bevorstehende Urtheil bald vollzogen würde. In den dumpfen Zustand seiner Ergebung drängte sich bald der Gedanke an sein Kind; er erinnerte sich der Worte des Schreibers; er fühlte, daß dieser Recht habe. Das einzige Gute, das er im Leben noch thun könne, schien ihm: daß er des armen Kindes mit keiner Silbe erwähnte und durch nichts verrate, daß er dessen Vater sei.

„So muß es sein. Die Schande soll nicht auf sie kommen; ich kann mich nicht verteidigen; ich kann nichts bereuen, aber ich kann schweigen.“

In diesem Entschluß fühlte er sein Gewissen erleichtert, und er nahm sich fest vor, das Geheimniß mit in’s Grab zu nehmen

Er hielt Wort. In dem Verhör, das sogleich am nächsten Morgen statt hatte, gestand er seine Schuld unumwunden ein. Auf die Frage nach dem Beweggrund seiner That schwieg er anfangs, ließ sich jedoch später zu dem Geständniß herbei, daß er einen Act der Rache verübt, seinen ärgsten Feind, der es tausendfach an ihm verschuldet, aus der Welt geschafft habe. Weiteres war nicht aus ihm herauszubringen, und als man ihm mit körperlicher Bestrafung drohte, schwur er, lieber sich die Zunge abzubeißen als über sein Unglück noch ein Wort zu verlieren.

Einige Tage darauf fanden ihn die Aufseher, als sie den Kerker betraten, todt; er hatte seinem Leben auf furchtbare Weise ein Ende gemacht.

Sebald, dessen Verletzungen nicht tödtlich waren und der sich bereits außer Gefahr befand, hörte die Nachricht mit Entsetzen; die Vorwürfe in seinem Herzen erwachten mit erneuter Gewalt, und mit wahrer Seelenangst blickte er zu dem Mädchen auf, als sie kam, nur nach seinem Befinden zu fragen, aber in ihren Blicken lag nichts, als die Besorgniß nur ihn; keine Wolke trübte noch diese reine Stirn. Er wußte nun, daß der Unglückliche nichts verraten hatte. Die Strafe würde ihn doch früher oder später erreicht haben, sagte er sich, und wer weiß, wie er noch sein Kind mit in’s Verderben gezogen hätte.

Nach einigen Wochen war er so weit hergestellt, daß er nach Hause fahren und bei seiner Schwester der völligen Genesung entgegensehen konnte. Ehe er aber dazu kam, ward ihm die freilich nicht ungetrübte Freude zu Theil, von seiner Schülerin zu hören, daß sie aus der Stadt wieder in ihre zweite Heimath zurückgekehrt sei. Ihre Dienstherrschaft, die sich ihrer anfangs so warm angenommen, hatte ihre Theilnahme aufgegeben; es waren ihr seltsame Gerüchte über des Mädchens Herkunft zugetragen worden, und man fand darin eine hinreichende Ursache, sie auf anständige Weise loszuwerden, Mit Geschenken und unter den ehrenhaftesten Zufriedenheitsbezeigungen wurde sie in das Dorf zurückgebracht. Sebald reichte ihr die Hand zum Willkomm und unterdrückte die bittere Empfindung, die ihn beschlich, als er sie wieder der Armuth und Niedrigkeit anheimgegeben sah. Gedachte er erst all des Andern, was unterdeß geschehen, so hatte er Mühe, den Sturm in seinem Inneren zu beschwichtigen. Ihr Anblick bewegte ihn zu Thränen, aber er gelobte bei sich im Stillen, für sie zu sorgen.

Nach Verlauf einiger Tage war sein Befinden derart, daß er seinen Dienst wieder antreten konnte. Innige Freude überkam ihn, als der Anwalt ihm den vollen Gehalt einhändigte, ohne die Zeit seiner Krankheit in Abrechnung gebracht zu haben; dessen Warnung aber, daß er seine Gesundheit mehr als bisher schonen müsse, beachtete er keineswegs; er legte bald wieder nach wie vor den weiten, nicht immer unbeschwerlichen Weg im Winter wie im Sommer zurück und gönnte sich nur die geringste und ärmlichste Kost. Er sparte, aber nicht aus Geiz, nicht für sich – für sie kargte und entbehrte er. Bald war eine beträchtliche Summe, waren einige hundert Gulden zurückgelegt; sie sollten das Heirathsgut der Waise oder ihr Nothpfennig im Alter werden.

Mit stolzer Befriedigung sah er, wenn er Nachts spät von der Stadt zurückkam, nach ihrem erleuchteten Fenster hinauf; er wußte, daß sie noch las und schrieb; er war glücklich, die Keime der Erkenntniß und Bildung in ein empfängliches Gemüth gelegt zu haben. Aber Entbehrung und Mühsal zehrten an seinem Leben; oft fror ihn, daß er sich kaum erwärmen konnte; oft spürte er ein Stechen unter den Schultern; ein Hüsteln stellte sich ein, das immer wieder kam und schlimmer und schlimmer wurde. Mit dem Frühjahr erklärte der Arzt seiner Schwester, daß ihr Bruder an einer Brustkrankheit leide und unrettbar verloren sei. Sie und Veronika wichen bald nicht mehr von dem Krankenbette des treuen Sebald; Veronika war unermüdlich im Wachen, Vorlesen und Beibringen von lindernden und erfrischenden Mitteln; sie blieb auch in seinen letzten Tagen, was sie ihm stets gewesen war, ein gütiger Engel.

Als man ihn in die Erde gesenkt hatte, ließ sie über seinem Grabe ein schlichtes Denkmal aufrichten und da kam zuerst wieder jener Name zum Vorschein, den auch der majestätische Berg trug, der so hoch und stolz über die Kirchhofmauer hereinschaute auf den armen Namensvetter im kleinen Erdhügel, unter dem ein stillgewordenes, armes Menschenherz schlief.




Die erste elektrische Eisenbahn der Welt.

Wenn uns jetzt das Dampfroß der Anhaltischen Eisenbahn der deutschen Reichshauptstadt zuführt, so bemerken wir unweit derselben, auf der Station Groß-Lichterfelde, dort, wo uns aus der Ferne der stolze Prachtbau der deutschen Central-Cadettenanstalt entgegenwinkt, einen Schienenweg, auf dem in gar wundersamer Weise, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben ein schmucker Tramwagen in raschem Fluge dahinruckt. Vergeblich sucht unser Auge die treibende Kraft an diesem Gefährt zu entdecken, das Geheimniß seiner Bewegung zu enträtseln; man vermag, so weit man auch späht, nichts mehr als einen gewöhnlichen Bahnkörper und den darauf sich anscheinend von selbst bewegenden Wagen wahrzunehmen. Selbst wenn man, von der seltsamen Erscheinung angezogen, auf der gedachten Station dem Eisenbahnzuge entsteigt und den räthselhaften Wagen aus unmittelbarer Nähe betrachtet, bietet sich dem Auge, außer einer Hebelstange auf dem Perron, auch nicht das Geringste dar, was auf das Vorhandensein eines Bewegungsmechanismus schließen ließe. Wendet man sich nun, um des Räthsels Lösung zu erfahren, etwa an ein Bäuerlein, das eben im Begriffe ist, an der wundersamen Fahrt Theil zu nehmen, so wird es wohl mit der gleichgültigsten Miene von der Welt, als ob es mit den hier wirkenden Kräften vollkommen vertraut wäre, die kurze Antwort geben. „Dies ist ja die neue elektrische Eisenbahn.“

Ja, eine elektrische Eisenbahn ist es, was das staunende Auge hier erblickt. Der Gedanke, den die weltberühmte Firma Siemens und Halske schon auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung in einer kleinen elektrischen Bahn (vergl. „Gartenlaube“ 1879, S. 630) zum Ausdruck brachte, ist nun zur reifen That geworden. Und diese neue glänzende Errungenschaft unseres Zeitalters, deren Vorarbeiten schon seit einem Menschenalter manchen forschenden Geist beschäftigt haben, vermochte unser an bedeutsamen Erfindungen so verwöhntes Menschengeschlecht kaum mehr zu überraschen, sodaß selbst der Bauer in der Erscheinung dieses von einer unsichtbaren Kraft in Bewegung gesetzten Wagens durchaus nichts Wunderbares

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 392. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_392.jpg&oldid=- (Version vom 17.6.2022)