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verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

heraus; ferner war auf einem Fenster der Marktkirche bis zum Jahre 1527, wo es renovirt worden, der tückische Entführer mit seinen jugendlichen Opfern leibhaftig dargestellt, und einige Schriftsteller wissen sogar von einer mit ähnlichen Bildern versehenen Gedächtnißmünze, die aus Anlaß jener traurigen Begebenheit geschlagen worden sein soll; ein holländischer Gelehrter, Johann Lactus, aber überbietet all dies noch durch die Behauptung, die Hamelner Bürger hätten bis 1643 ihre officiellen Schriftstücke „anno x nach unserer Kinder Ausführung“ datirt.

Eine von solcher Fülle angeblicher Wahrheitsmomente unterstützte Sage mußte natürlich den Erklärungseifer von Gelehrten wie Ungelehrten mit gleicher Stärke erwecken, und eine ganze Reihe theils bedeutender und geistreicher, theils aber auch plumper und fader Lösungsversuche zeitigen.

Beachtenswerth von diesen verschiedenen Auffassungen erscheinen nur zwei, von denen die erstere Hamelns Kinderverlust mit den namentlich zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts auch in Deutschland grassirenden Flagellantenfahrten und Veitstänzen zusammen bringt, während die andere jenes Unglück mit den aus Frankreich nach Deutschland importirten und mit ungeheurem Fanatismus besonders in Thüringen ausgeführten Kinderkreuzzügen auf dasselbe Blatt setzt.

Einen bedeutenden Schritt vorwärts in der Erklärung der Rattenfängersage that 1749 ein Geistlicher Hamelns, der Garnisonprediger Fein, indem er mit seiner Schrift „Die entlarvte Fabel vom Ausgange der hämelnschen Kinder“ auf ein wohlbeglaubigtes Ereigniß in der Geschichte Hamelns, nämlich auf die am 28. Juli 1259 stattgehabte Schlacht bei Sedemünder hinwies, in welcher die kampffähige Jugend der Stadt theils im Streite gegen Bischof Wedekind von Minden fiel, theils in des Letzteren Gefangenschaft gerieth.

Die ausziehenden Kinder sind besagtem Geistlichen die ausrückenden jungen Krieger mit einem Pfeifer an der Spitze, und die Straße nach Sedemünder führt wirklich aus dem Osterthore und über den Hamelner Koppenberg. Dort verliert die nachschauende Bürgerschaft die Kriegerschaar aus den Augen – mit anderen Worten: die Jugend verschwindet scheinbar im Koppen, und von den Sieben-Bergen her, das heißt über die Hausberge bei Minden, kehren die von Wedekind gefangenen Streiter und Geiseln, nach zu Stande gekommenem Vergleiche zwischen Stadt und Bischof, in ihre Heimath zurück. Aus den Sieben-Bergen des Weserlandes hat die Volksphantasie mit Zuhülfenahme des auffallenden Gleichklanges beider Namen Siebenbürgen in Ungarn gemacht, und eine derartige, in geographisch ungeschulten Zeiten gar nicht auffällige Verwechselung lag um so näher, als sich im siebenbürgischen Gebirgslande mehr als ein Calvarienberg – wie der hämelnsche Koppenhügel noch genannt wird – befindet. Aber gerade diese Fein’sche, auf den ersten Blick bestechende, rein historische Deutung hat den jetzigen Oberlehrer Dr. Dörries in Hameln veranlaßt, der Sache noch tiefer auf den Grund zu gehen. Gestützt auf Jacob Grimm und zahlreiche Belege, behauptet er, daß die Rattenfängersage mehr als eine nur historische Deutung zuläßt. Er erklärt den Hamelner Mythus für eine internationale Wandersage. In der That wird von einem Kapuzinermönche im Dorfe Drandy bei Paris, ferner von einem Dudelsackpfeifer zu Belfast und endlich von einem Brandenburger Leiermann Aehnliches gefabelt, wie vom Hamelner Rattenfänger.

So dürfte denn dem Leser klar geworden sein, daß in dem wunderbaren Gewebe der Rattenfängersage der Auszug historisch, der Einschlag dagegen entschieden mythisch ist. Wo sich aber Geschichte und Mythe zu einer Sage verschmelzen, da entsteht als Drittes und Neues immer das psychologische Element, und diese geistige Substanz ist es, welche Sagen und Märchen Jahrhunderte überdauern macht, ihrer dichterischen Gestalt immer neuen Reiz verleiht und die Künstler aller Epochen anspornt, an derartigen Stoffen ihre schöpferische Kraft zu erproben.

In unseren Tagen verband sich die Poesie mit der Musik und der darstellenden Kunst und gab in dieser Mächtigkeit des Ausdruckes der bisher nur local hamelnisch gefärbten internationalen Rattenfängersage ein deutsch-nationales Gepräge.

Nachdem Goethe, auch in dieser Beziehung seiner Zeit vorauseilend, mit genialem Blicke das psychologische Moment der Rattenfängersage erfaßt und in seinen bekannten drei Balladenstrophen zum ersten Mal offenbart hatte, sodaß Gläser in seiner frühesten Rattenfängeroper den Fußstapfen dieses Altmeisters folgen konnte, stand 1875, wie über Nacht, ein neuer Dichter, Julius Wolff in Berlin, auf; er griff mit glücklicher Hand in die vergilbten Pergamentblätter der kleinen Weserstadt und schuf – alles bis dahin über diesen Gegenstand Geschriebene und Gedichtete weit hinter sich zurücklassend – der beinahe verschollenen Aventiure vom Hamelner Rattenfänger in dem Gewande eines modernen, lyrischen Epos neuen Ruf und frisches Leben.

Seit Wolff’s „Hunold Singuf“ seine sechsundzwanzig zündenden Rattenfängerweisen ertönen läßt, ist die Bearbeitung der Hamelner Sage, wie schon bemerkt worden, zu einer Art Cultus geworden. Görner’s phantastisches Volksstück „Der Rattenfänger von Hameln“ hat im Berliner Bellealliance-Theater nahe an 250 Wiederholungen erlebt; V E. Neßler’s gleichbetitelte Oper, zu der Friedrich Hofmann bekanntlich den der Musik sich trefflich anschmiegenden poetischen Text geschrieben, ist im königlichen Opernhause zu Berlin und an nahezu fünfzig Hof- und Stadttheatern in Scene gegangen, und augenblicklich bereitet der Hofcomponist Bratzky eine Operette dieses Namens für das Friedrich Wilhelmstädtische Theater vor. Ja, sogar der Reichshauptstadt erster Circus „Renz“ hat sich den Stoff nicht entgehen lassen und in seiner Weise großartige Leben und Farben sprühende Tableaus daraus arrangirt.

So hat der wundersame Rattenfänger das kleine Hameln an der Weser zu einer viel genannten Stadt gemacht. Wohl selten hat eine internationale Wundermär ihrer deutschen Niederlassung und Heimstätte so viel Ruhm eingebracht und Millionen Herzen, nah und fern, so mannigfachen künstlerischen Genuß bereitet, wie Hamelns Rattenfängersage.

Dr. Hermann Hoffmeister.




Die Sachsen in Siebenbürgen.

Eine Bitte um „deutsche Waffen“ für den verlassenen Bruderstamm.

Oesterreich hieß noch nicht „die österreichisch-ungarische Monarchie“, sondern es stand als „Kaiserthum Oesterreich“ noch an der Spitze des „Deutschen Bundes“, als sein Ministerpräsident, der clerical-feudale Graf Beleredi, gegen die national- und freigesinnten Männer des durch ihn sistirten Wiener Reichstages die Drohung ausstieß: „Man muß diesen Deutschen zeigen, daß man Oesterreich ganz gut ohne sie regieren kann.

Diesen Gedanken hatte wohl jede der anspruchsvolleren nichtdeutschen Nationalitäten des völkerreichen Staates oft genug gehegt; er war nicht neu – aber an dieser Stelle, der nächsten neben dem Throne, hatte ihn noch Niemand so scharf und so laut auszusprechen gewagt, und eben darum mußte seine Wirkung so sein, wie sie es wurde: aufregend und ermuthigend für die herrschsüchtigen Theile und unheilvoll für das Ganze des Staates, dem nur ein Wille und ein Gesetz eine geschlossene Kraft, aber in dieser mit dem Gefühl der Sicherheit gegen außen den Segen der Ordnung und Freiheit im Inneren verleihen konnte.

Stellen wir uns das Völkerbild Oesterreichs einmal vor Augen![1] Es scheidet sich von selbst in drei Theile: in einen nördlichen, einen mittleren und einen südlichen, in deren jedem sich compacte Massen von besonderen Nationalitäten an einander reihen. Im Norden sehen wir die Czechen, von allen Grenzgebirgen her von einem starken Rahmen Deutscher eingeengt, im Innern Böhmens sich ausbreiten; an diese schließen im Osten sich die Mähren, die Slovaken, die Polen und die Ruthenen an, sodaß wir vom Herzen Böhmens bis an die russische Grenze nur eine slavische Völkerreihe vor uns haben.

Den mittleren Theil bilden im Westen die Deutsch-Oesterreicher; östlich von ihnen breitet sich das Gebiet der Magyaren und neben diesen das der Rumänen (Walachen) aus, die, wiederum in starker und compacter Masse, die siebenbürger Szekler und Sachsen völlig vom magyarischen Gebiete trennen.

  1. Man vergl. die treffliche „Ethnographische Karte von Oesterreich-Ungarn“ im 18. Band (Jahres-Supplement von 1880 bis 1881) von „Meyer’s Conversationslexicon“ dritter Auflage.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_375.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)