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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

anzustarren, „Aurel, es ist eine wunderliche Welt. Da bin ich nun um mein gutes altes Leben auf der Farm gekommen. Und die Farm selber, an der mein Herz hing, ist hingegeben. Und Du, Du bist auch um Deine Stellung gekommen. Du warst hier im Lande groß und mächtig und konntest noch viel Gutes thun. Und jetzt bist Du nichts mehr. Wir Beide sind um unsere Ehre gebracht worden, wenigstens um unsern guten alten Namen in derselben alten Stadt, in der wir Beide aufgewachsen sind und als Kinder gespielt haben und … und … an der uns doch liegt, Aurel!“ endete der alte Herr rasch mit einem wahrnehmbar weicheren Klang seiner Stimme, die ihn wohl vorziehen ließ, weiter nicht viel darüber zu sagen, um nicht zu verrathen, wie es mit seiner männlichen Fassung aussah. Aurel nickte leise mit dem Kopfe.

„Es ist so, in Wahrheit,“ sagte er, „und das Alles – weshalb?“

„Ja, weshalb?“ antwortete nach einer längeren Pause der alte Herr. „Denke, hast das Richtige getroffen, Aurel, wenn Du von einer Moral redest, wie sie auch der Teufel entwickelt, wenn er mit seiner Großmutter ein gemüthliches Plauderstündchen hat. Haben heutiges Tages so etwas wie eine solche Moral, eine Moral, wonach die Weiber ihren Männern entlaufen, welche ihre Seelenbedürfnisse nicht verstehen, und die Männer den Frauen, welche ihr geistiges Leben in seiner Entwickelung hemmen – sie nehmen dann andere, weniger hemmsame Weiber. So entlaufen natürlich auch die Töchter den Eltern, welche ihre glückshungrige Seelentiefe nicht begreifen. Und so weiter und so weiter. Kommt das Alles ja tausendmal vor, heutigen Tages. Und den, der darunter leidet – wer bemitleidet, wer denkt an den?“

„So ist es. An ihn denkt man nicht, aber wie darunter gelitten werden kann, das empfinden wir Beide in dieser Stunde.“

„Ja, empfinden es – empfinden es sehr schmerzlich, Aurel. Greift mir an’s Herz das, Aurel, und weiß nicht, ob ich’s überstehe. Fürchte, es wird meinem morschen abgerackerten Leben zu viel sein. Weiß nicht, was aus mir werden soll, ohne die Grasmücke.“

In des alten Herrn Wimpern leuchteten von Neuem die Thränen auf – Thränen, welche vielleicht nicht mehr darin geglänzt hatten, seit er ein gereifter Mann geworden.

Aurel sah schweigend auf ihn nieder. Vielleicht wäre es das Natürlichste gewesen, ja seine Pflicht, den alten Mann zu trösten. Aber auch über ihn kam etwas, was er nicht gefühlt, seit er ein Mann geworden, etwas von einer Stimmung, von einem Zustande, als ob ihm die Welt zu einem Traumgebilde ohne Werth und Inhalt geworden, zu einer schattenhaft an ihm vorüberziehenden Bilderreihe. Es war wie die unbewußte Erkenntniß, die ihn als Empfindung überkam, daß, wenn der sittliche Kern aus dem, was vor unseren Augen an Geschehenem vorüberzieht, dahinschwindet, die Welt den Werth eines Traumgebildes enthält. Von dieser Empfindung fühlte er sich nun gebannt; er war wie gelähmt, nicht besiegt oder gebrochen durch eine Kampfesarbeit, nicht zerschmettert in einem männlichen Ringen, sondern betrogen, um den Lebensmuth und den Willen zum Leben bestohlen.

So stand er und blickte mit gedankenvollen Augen und unbewegten Mienen auf seinen Vater nieder; er hätte vielleicht noch lange so gestanden, wenn nicht der Diener gekommen wäre, um zu fragen, ob sein Wagen noch länger unten warten solle.

„Ich komme,“ sagte er. „Und Du, Vater, begleitest mich. Ich muß zurück; es kann da Unaufschiebliches geben, aber Dich darf ich nicht verlassen jetzt. Du bleibst in meiner Nähe.“

Dem alten Manne war es gleich, wo er sich befand. Es mochte ihm selbst wohl thun, jetzt dem Sohne nicht von der Seite zu weichen. Er war daher einverstanden und folgte ihm. Als sie Aurel’s Wohnung erreicht hatten, sorgte dieser mit stummbeflissener Zärtlichkeit für des Vaters Bequemlichkeiten, und indem er dann sich den Einläufen auf seinem Schreibtisch zuwandte und flüchtig diese zu durchmustern begann, sorgte er, daß dazwischen nie ganz ihr Gespräch versiechte, damit der alte Mann nicht seinem schmerzlichen Gedankengange ganz rückhaltlos verfalle.

So verrannen ein paar Stunden, als der Diener eine Karte hereinbrachte mit der Meldung, der betreffende Herr wünsche dringend die Ehre einer Unterredung mit der Excellenz haben zu können.

Aurel las den Namen eines ehemaligen Collegen aus der Zeit, in der er selbst ein einfacher Advocat gewesen, des Justizraths Doctor Gruber. Er ließ ihn bitten, einzutreten.

Doctor Gruber war ein ältlicher Herr mit einem langen gelben Gesicht und über den Acten hohlgewordenen Wangen, aber mit scharf gebliebenen, stechenden grauen Augen, die den richtigen Blick für das Leben, das nicht in die Acten kommt, nicht verloren zu haben schienen. Auch war er der Anwalt, den sich, wenn es verwickelte Rechtsfragen und Fälle zweifelhafter Art galt, jede Partei im Lande zu sichern suchte.

Aurel erwiderte seine Verbeugung, indem er ihm die Rechte bot und dann auf einen Stuhl deutete.

„Wir haben uns lange nicht gesehen, Doctor,“ sagte er dabei. „Hoffentlich kommen Sie nicht als Herold irgend einer juristischen Fehde-Erklärung?“

„Im Gegentheil, Excellenz, ganz als ein Friedensuchender. Ich komme als Mandatar eines ebenso verliebten wie leichtherzigen jungen Mannes, dem an dem Frieden mit Ihnen so viel gelegen ist, wie dies bei solcher liebenswürdigen Charaktereigenschaften nur immer der Fall sein kann.“

„Sie kommen – doch nicht im Auftrage des Herrn –“

„Franz Falster – Sohnes von Anton Falster, Weinhändler und Besitzer in Giersbach, Kreis Langenrath am Rhein.“

„Nun“ rief hier der alte Thierarzt aufspringend und herantretend dazwischen, „so werden wir, denk’ ich, etwas Neues hören. Sie kommen – Sie haben den Muth, Herr –“

„Still, Vater!“ sagte Aurel, beschwichtigend seine Hand auf den Arm des alten Herrn legend; „dies ist mein Vater, Doctor Gruber. Was Sie mir zu sagen haben, wird auch für ihn sein.“

„In der That – völlig so,“ versetzte Doetor Gruber, sich leicht vor dem alten Herrn verbeugend, „freut mich, beide Herren zusammen zu treffen; wir werden, hoffe ich, desto schneller zu gedeihlichem Ende kommen.“

Aurel deutete noch einmal auf einen Stuhl, auf den Doctor Gruber sich, nachdem auch Aurel seinen Arbeitssessel wieder eingenommen bequem niederließ, ohne den zornigen Blicken, mit denen der alte Herr, stehen bleibend, seine Bewegungen verfolgte, die geringste Rücksicht zu schenken.

„Sehen Sie, Excellenz,“ hob Doctor Gruber zu Aurel gewandt an, „dieser junge Mann, von dem die Rede ist, kam zu mir und klagte mir seine Lage, oder eigentlich besser gesagt, die Lage einer gewissen jungen Dame, mit deren Verhältnissen ich nicht nöthig habe, die beiden Herren näher bekannt zu machen. Diese Verhältnisse hatten an und für sich nichts, was außergewöhnlicher Art und exceptioneller Natur war; der einzige Zug darin, der ihnen ein tragisches Moment beimischte, war, daß die junge Dame eine so weite Reise gemacht, um eine Erfahrung zu gewinnen, die andere leichtgläubige Frauengemüther ohne den Aufwand so großer Reisespesen machen dürfen. Sonst waren die Verhältnisse, welche mir geschildert wurden, nicht außergewöhnlich, aber sie hatten sich in letzter Zeit ganz bedenklich complicirt durch den Umstand, daß zwischen der betreffenden jungen Dame und meinem jungen Manne ein Verhältniß von so leidenschaftlicher Natur entstanden war, wie wir kaltblütigeren Leute es uns je nach unserer respectiven Glaubensfähigkeit für solche Dinge um irgend vorzustellen vermögen. Ich kann jedoch über das, was in dieser Beziehung meiner allgemein menschlichen Theilnahme anvertraut wurde, hinweggehen und mich an das geschäftliche Resultat und die praktischen Folgerungen halten, die mich nun eben zu Ihnen führen; denn das war nun einmal das Bittere in der Lage unserer jungen Dame, daß die tiefen und poetischen Regungen ihres unschuldigen Herzens von so wunderlichen juristischen Bedenken und civilistischen Zweifeln begleitet sein mußten, und sie sich keinem Gefühle hingeben, keinen Gedanken fassen konnte, ohne daß die bürgerliche Moral und das Gewissen, oder wie wir das nennen wollen, kamen, um ein Fragezeichen dahinter zu machen. In dieser Verlegenheit wandte sich dann Herr Falster an mich um Rath und um Beihülfe zur juristischen Regulirung der Lage seiner Geliebten, und es wäre wider meine Geschäftspraxis gewesen, die Vertretung so interessanter Parteien abzulehnen. Ich hoffe, Excellenz, daß Sie mir deshalb nicht übel wollen. Ich würde untröstlich sein, wenn Sie mich nur irgendwie im Lichte eines Widersachers erblickten, wenn Sie glaubten, ich hätte irgend einen andern Wunsch und Gedanken bei der Sache, als das Glück der jungen Leute in einer Weise zu vermitteln, welche möglichst auch Ihren Anschauungen entspricht: ich komme, Excellenz, nur in der Absicht, mich über diese Anschauungen zu unterrichten, mich in meinem Procedere, so weit es irgend angeht, ihnen zu unterwerfen.“

Vater und Sohn waren dieser langen wortreichen Auseinandersetzung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_355.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)