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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

wissen, und wenn ich ihn dann nicht mit diesen meinen Händen erwürge …“

„Ach, Vater, Du wirst nichts erwürgen – das würde Deiner Grasmücke viel zu großen Kummer bereiten und verdürbe den Charakter des Stückes! Und deshalb laß mich lachen – lachen über uns arme Thoren, die wir unsere Rollen darin so schrecklich ernst und schwer und tragisch nehmen“

Der alte Lanken antwortete nicht. Er mußte Luft schöpfen. Die Erschütterung war ihm zu stark. Er mußte sich auf das Sopha niederlassen. Er mußte wieder und wieder tief Athem holen, und bleich und bleicher werdend starrte er vor sich hin, während ihm der helle Schweiß auf die Stirn trat.

Aurel stand noch eine Weile regungslos da – dann, des Vaters verändertes Aussehen bemerkend, trat er zu ihm und legte sanft seine Hand auf seinen Scheitel.

„Es ist nun einmal nicht anders, Vater,“ sagte er. „Wir haben da Beide eine Erfahrung machen müssen, die uns, so alt wir sind, unmöglich schien. Deine Tochter Lily ist nicht das, wofür Du sie hieltest, sondern ein wenig leichtsinnig, ein wenig flatterhaft, ein wenig von der Menschensorte mit der neuen Moral von heute, einer Moral, die am Ende der Teufel auch hat, wenn er an Sonntagnachmittagen gemüthlich beim Kaffee mit seiner Großmutter plaudert. Du mußt es zu verwinden wissen – einen alten Republikaner, wie Dich, dessen erste Mannessorge der Staat, die Allgemeinheit ist, darf das, was ihn in seinem eigenen Hause trifft, nicht zerschmettern; Brutus, weißt Du, ließ seine Söhne …“

„Hol’ der Teufel Brutus und seine Söhne!“ stöhnte der alte Herr: „hol’ ihn der Teufel, zusammt dem Republikanerthum und der Moral dieser gottverlassenen Zeit! Wollte, ich hätte Lily …“

Er vollendete nicht – er schöpfte nur wieder tief Athem.

„Du wolltest, Du hättest Lily ein wenig anders, ein wenig ernster, ein wenig strenger und ein wenig nachsichtiger gegen ihre Launen erzogen. Mach’ Dir darüber keine Skrupel, alter Governor, Du warst nicht der Mann dazu. Du hättest es auch nicht durchsetzen können; denn ich fürchte, es hätte sich mit Euren Sitten, Euren Grundsätzen drüben nicht vertragen. Wär’ nicht angegangen, fürcht’ ich.“

Da sein Vater schwieg, fuhr Aurel fort:

„Also laß uns aufrecht bleiben bei diesem Schlage, der Dir eine Tochter geraubt hat – eine Tochter, an der freilich Dein Herz hing – aber Dir doch einen Sohn läßt, Vater – einen Sohn, an dem Du freilich nicht viel Freude erlebt hast, der sich sogar zu einem Fürstendiener, einem Minister, einem Tyrannenwerkzeuge entwürdigte, der aber doch weiß, was Sohnespflicht ist …“

Der alte Lanken faßte wie mit müder, schwerer Hand nach der Hand seines Sohnes, die jetzt auf seine Schulter herabgeglitten war; er hielt sie fest, aber er antwortete nicht.

So blieben Beide lange wortlos. In des alten Thierarztes Augen traten ein paar dicke Tropfen, die an seinen Wimpern hängen blieben. Aurel sah gerührt auf ihn nieder. Sein Auge blieb trocken, aber wer hätte sagen können, daß er in dieser Stunde, in der das Bewußtsein seines Verlustes sich mit doppelter Schwere ihm auf’s Herz legte, weniger litt als sein getäuschter Vater?




13.

Sie redeten lange kein Wort, die beiden Männer. Redseligere Leute als sie hätten vielleicht das dringende Bedürfniß empfunden, jetzt sich gründlichen Erörterungen und Untersuchungen hinzugeben, wie diese Flucht Lily’s, dieses Durchgehen mit einem fremden jungen Menschen möglich gewesen, auf welchem Wege es dazu gekommen und wie es ausgeführt worden; aber weder der Vater noch der Sohn empfanden ein Bedürfniß dazu. Sie konnten es sich ja vorstellen; sie konnten die allmähliche Entwickelung des Verhältnisses zwischen Lily und ihrem Verführer sich ausmalen und sich vorstellen. Der junge Mann, aus einem wohlhabenden Hause stammend, schien in seiner Thätigkeit am hiesigen Platze ganz außergewöhnlich viel Mußestunden übrig gehabt zu haben. Und Lily, die er in der Pension Schallmeyer’s kennen gelernt, hatte eben auch der Muße so viel, so sehr viel gehabt, zu viel für solch ein unbehütetes junges Ding. Und das hatte sie denn öfter und länger zusammengeführt, als Lily’s „dear governor“ wahrgenommen oder beachtet, oder es hatte nicht gegen seine amerikanischen Sittenbegriffe verstoßen. Lily hatte Franz ihr Vertrauen geschenkt, und Franz hatte mit seiner Ansicht nicht zurückgehalten, daß es ihrer sehr wenig würdig, einen Gatten, der bei ihrer Ankunft feige davongelaufen, sich durch Processe und Advocaten wieder einzufangen; vielleicht war es Franz’ aufrichtige Ansicht gewesen. Vielleicht hatte er ihr ein Bild ihrer Zukunft in dem düsteren Grafenschlosse entworfen, hatte ihr geschildert, wie sie dort zwischen einem Gatten, der nicht wagte, sie zu vertheidigen, und einem Schwiegervater, welcher gezwungen werden mußte, sie in sein Haus aufzunehmen, einen wenig beneidenswerthen Platz einnehmen werde – vielleicht war Lily vor solcher Zukunft erschrocken. Und da nichts dawider sprach, daß Franz sich wirklich in die reizende junge Dame verliebt hatte, so mochte ihr die Zukunft, welche sie an seiner Seite im Hause oder im Kreise der Seinigen finden würde, in bestem Glauben freundlich und verführerisch genug erschienen sein. Das Alles konnte man sich denken. Und da Lily schon einmal in ihrem Leben, bei dem raschen Erglühen ihrer Neigung zu Ludwig und dem schnellen Entschlusse, für immer die Seine zu werden, Proben abgelegt, daß ein großer und seltener Fonds von muthiger Thatkraft für übereilte, entscheidende Entschlüsse neben nur geringer Anlage für besonnenere Erwägungen in ihrer jungen Seele lag – so hatte sie nun den richtigen Augenblick benutzt, wo ihr „dear governor“ sich in einer eigenthümlich difficilen Situation befand, die ihr Handeln ihrer eigenen Verantwortlichkeit überließ, um mit dem jugendlichen Franz durchzugehen, der, wie sie schrieb, der Einzige war, welcher mit ihr empfand.

„Dieses Eine,“ rief endlich der alte Thierarzt auf und schlug dabei verzweifelnd mit der geballten Rechten auf sein Knie, „dieses Eine werde ich ihr nie verzeihen können: sie, für die ich Alles that, was ich ihr an den Augen absehen konnte, hat mich mit keiner Silbe ahnen lassen, was in ihrem Herzen vorging und was sich hinter meinem Rücken anspann und abspielte. Hätte sie mir doch nur offen gesagt –“

„Was, Vater?“ unterbrach ihn Aurel. „Daß sie von Ludwig nichts mehr wissen wolle?“

„Nun ja, und daß ein Anderer ihre Neigung gewonnen.“

Aurel schüttelte den Kopf.

„Seien wir darin gerecht, Vater!“ sagte er. „Es ist nicht anzunehmen, daß, wenn sie so offen gegen Dich gewesen wäre, Du etwas Anderes geantwortet hättest als ein zorniges: ‚ich bin über’s Meer gekommen, um meiner Tochter Recht zu fordern, und ich will dieses Recht. Es handelt sich um Deine und meine Ehre, und wir wollen unsere Ehre wahren, auch wenn wir darüber zu Grunde gehen sollten.‘ Und sodann – davon bin ich überzeugt – würdest Du Herrn Franz Falster zur Thür hinausgeworfen haben.“

Der alte Lanken seufzte tief auf. „Es mag so sein,“ sagte er mit einem leisen Wiegen seines Kopfes und einer Stimme voll tiefer Betrübniß, „es mag so sein, daß diesem Franz Falster ein solches Schicksal geblüht hätte. Oder hättest Du mir, wenn ich Dich erst um Rath gebeten, etwas Anderes zu thun empfohlen?“

„Schwerlich, Vater. Und dazu wird kommen, daß Lily unter dem Drucke seines Willens stand, indem sie gegen Dich über Alles schwieg. Er hat Deine Lage durchschaut und vorausgesehen, wie Du handeln würdest, wenn Lily Dir ihr Geheimniß verriethe.“

Der alte Herr nickte wieder, und dann nach einer Pause sagte er halb flüsternd:

„Es ist sehr grausam, das Alles so durchdenken zu müssen. Wenn sie, wie Du eben sagtest, es durchschauten daß unsere Ehre davon abhing, Lily’s Recht durchzusetzen, so hätten sie uns dies nicht anthun müssen. Aurel. Wer wird jetzt nicht einen Stein auf uns werfen und behaupten, ich habe eine Schwindelei wider Ludwig Gollheim versucht, ein Märchen vorgebracht, mit Documenten geprahlt, die gar nicht vorhanden gewesen, und jetzt, wo Lily sich einen anderen reichen Gelbschnabel eingefangen, die ganze Intrigue fallen lassen?“

„Man wird sehr viel behaupten, Vater; Dinge wird man wissen und verbreiten, an welche unsere Seele nicht gedacht hat. Dessen dürfen wir überzeugt sein.“

Der alte Lanken stützte seinen Ellenbogen auf’s Knie und blickte, wie unter dem Druck seiner Gefühle zusammengekauert, trübsinnig vor sich hin.

„Aurel!“ sagte er dann, sich ein wenig emporrichtend und beide Hände auf seine Kniee stemmend, um so noch immer den Boden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_354.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)