Seite:Die Gartenlaube (1881) 338.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

diesen seinen Gedanken gestört. Einzelne Männer und kleine Arbeitergruppen schritten rasch an ihm vorüber; es waren deren so viele, die ihn überholten und weiter eilten, daß sie ihm auffallen mußten.

„Bei diesen wackeren Thebanern ist irgend etwas in den Bänken,“ sagte er sich und folgte ihnen gemächlich nach. Er kam auf diese Art in die Akazien-Allee, welche zum Bahnhof führte, und sah, daß die sämmtlichen Arbeiter, gemischt mit bürgerlich gekleideten Herren, in demselben Bürgergarten verschwanden, in welchen er bei seiner Ankunft Aurel gezogen, um von diesem das niederschmetternde Geständniß zu erhalten daß er, sein Sohn, sein eigenes Fleisch und Blut, ein herzoglicher Minister sei. In dem Garten selbst, in dem heute kein einziger Gast an den offenen Tischen verweilte, drängte sich Alles einem hinten an das Wirthschaftsgebäude angebauten Fest- oder Tanzsaal zu, dessen geöffnete Thüren weit aufklafften für Alles, was Lust hatte einzutreten. Diese Lust verspürten nicht wenige; Lanken fand im Saal mehrere Hunderte von Männern versammelt, auf Bänken, Stühlen, Tischen und Fensterbrüstungen sitzend, rauchend, die Bierseidel neben sich, wenn Platz für Seidel da war, und in Ermangelung des Platzes sie in der Hand haltend, aber Alle schweigend, um den Redner, der auf einer Art Tribüne im Hintergrunde stand, nicht zu unterbrechen – für Störung sorgte ja ohnehin schon die fortwährend vor neu Eintretenden sich öffnende und wieder zufallende Thür.

Der Redner aber war Niemand anders als der unvermeidliche Doctor Milchsieber, und unter ihm, an einem großen runden Tische, sah Lanken seinen Freund, das „Känguruh“, nebst vier oder fünf anderen Herren, welche jener ebenso zutreffend zoologisch unterzubringen gewiß bereit gewesen wäre, wenn er darum ersucht worden wäre. Für den ersten Moment begnügte er sich mit einer allgemeinen Artenclassificirung, indem er halblaut ausrief:

„Da ist ja das ganze Schlangennest bei einander.“

Doctor Milchsieber – das war offenbar – hatte seine Gläubigen zu einem „Meeting“ zusammenberufen; die wie ein Comité aussehende Gesellschaft an dem runden Tische unter ihm deutete auf etwas, wie einen Verein, auf periodische Zusammenkünfte dieser Art in dem Gartenlocal; jedenfalls war jetzt Doctor Milchsieber im besten Zuge, seinen Hörern etwas klar zu machen – etwas klar zu machen, was allerdings, wenn man ihn nur eine kurze Weile hatte mit dem tiefsten Brustton edler Ueberzeugung reden hören, ganz außerordentlich klar war und ganz merkwürdig offen auf der Hand lag, so klar wie das Licht der Sterne und der alten Sonne am Himmelszelt. Man begriff gar nicht, welche Sorte von Menschengehirnen dieser Mann vor sich sah, dieser Mann, der da mit so viel warmströmender Beredsamkeit, so hitzig, daß sein ganzer Apollo-Kopf in diesem Augenblick nur noch ein einziger blutrother Fleck war, auseinandersetzte: es sei das Recht des Arbeiters, den Staat nach seinen Bedürfnissen einzurichten und die Zukunft so zu gestalten, daß Menschenwerth und Geltung, so zu sagen der Adel, der nach den vorurtheilsvollen Begriffen einer von Fürsten und Pfaffen verdorbenen Vergangenheit im Kopfe und im Herzen gesucht sei und gewissermaßen darin gesteckt habe, nur noch in den fleißigen Armen und schwieligen Händen als seinem wahren Sitz gefunden werde und von diesen als seinem einzig richtigen Boden, auf dem er erwachsen könne, ausgehe.

„Der Adel, der früher im Kopf steckte, zieht sich in die Fäuste – und dann nach dem Gesetz des weiteren Fortschritts in den Bauch! Auch gut!“ sagte der alte Thierarzt ingrimmig vor sich hin, doch laut genug, daß die Nächststehenden ihm über die Störung unwillig ein: „Ruhig – still da!“ zuriefen.

Doctor Milchsieber arbeitete weiter. Er erhitzte und schürte seine Beredsamkeit zu einem wahren Glühofen, in dem die Gründe, die packenden Schlagworte, die Phrasen nur so prasselten, und endlich, nach Verlauf einer Viertelstunde, konnte der Ofen die Gluth gar nicht mehr fassen; die Sätze fingen an zu knattern wie petroleumbegossene Scheiter; sie zischten wie Raketen aus einander, und dann, dann gab es als Schlußeffect ein großes Feuerrad von sprühenden Invectiven, von knatternden Witzschlägen, von zu Weißglühhitze gebrachten Gemeinplätzen wider den armen alten, nur noch von Pfaffen verehrten Herrgott, wider die unglückliche, nur von betrunkenen Poeten bewunderte erbärmliche Weltschlacke Erde und die bejammernswerthe, von blödsinnigen Metaphysikern und Philosophen mißleitete Menschheit … ein wahres zischendes, sprühendes, mit seinem Funkenregen schwindligmachendes Feuerrad war es, aus dem wie aus einer Nabe der Kopf des Doctor Milchsieber gleich einer glühenden Kugel blickte.

Es war natürlich, daß solch eine oratorische Leistung die empfänglichen Zuhörer fortriß; sie wurden lauter und lauter mit ihren bewundernden Unterbrechungen und beifälligen Zurufen – Bekräftigungen aller Art schwirrten durch die Versammlung; mit den Bierseideln wurde im Ueberschwang der Begeisterung auf die Tische und Bänke gestoßen, oder ein lautes Gelächter erschütterte die Wände, bis, als Milchsieber bei seinen Endworten angekommen und noch ehe diese ganz gesprochen waren, ein tosendes Beifallgeschrei und Gelärm ausbrach.

In Lanken hatte die Rede selbst nur eine grimmige Verachtung hervorgerufen, fast ein Mitleid mit all diesen phrasenhaften Dummheiten und lahmen Witzen. Der Beifallsturm aber, der Jubel allgemeiner Zustimmung machte ihn wild; das Maß Alles dessen, was er gestern und heute nun schon erleben müssen, war voll und das Gefäß schäumte über.

„Unsinn!“ rief er sich abkehrend laut aus, „ist der miserabelste Unsinn, den ein Mensch vorbringen kann; ist, calculire ich, der ekle Schleim, worin die Narren eingeweicht werden, wie die Stockfische im Salzwasser, damit man sie nachher verpfeifen kann …“

Diese heftig ausgestoßene Gemüthserleichterung des alten Herrn hatte auf seine Nachbarn, welche sie angehört, unmittelbar eine explosionartige Wirkung, wie es bei einer der allgemeinen Strömung so kühn sich entgegenwerfenden Opposition nicht anders sein konnte. Lanken wurde angeschrieen; Fäuste streckten sich nach ihm aus; Stöße fuhren ihm in den Rücken und in die Rippen; ein allgemeines Halloh entstand, in welchem es bald nicht mehr möglich war, das, was gerufen wurde, zu verstehen, während die allgemeine Tendenz der entstandenen Bewegung in ihrer Richtung auf ein gründlich gewaltsames Hinauswerfen des alten Herrn aus dem Local nur desto deutlicher verständlich war.

Aber der alte Herr war nicht umsonst so viele Jahre lang Farmer gewesen und hatte bei der Arbeit muskulöse Arme und eisenfeste Fäuste bekommen. Auch hatte er ein unerschrockenes Herz in der Brust, und so wehrte er sich wie ein Löwe. Dadurch bekamen die Herren vom Comité Zeit, sich beschwichtigend heranzudrängen; Doctor Milchsieber, dem es gar nichts verschlug, einen glänzenden oratorischen Triumph über einen Opponenten zu erringen, rief, sich zwischen Lanken und seine Bedränger werfend:

„Laßt doch den Herrn, wenn er anderer Meinung ist, sich aussprechen! Laßt uns doch hören, was er zu sagen hat! – Jedem Mann seine freie Meinung! – Auf die Bühne, alter Herr, auf die Bühne mit Ihnen! Wir kennen uns ja – Sie sollen nicht sagen, daß wir unsere Gegner nicht zu Worte kommen lassen …“

Lanken athmete von seinem Ringkampfe auf, wischte sich die Stirn mit seinem Tuche ab, unter dem her seine Augen den Doctor mit einem verzehrenden Zorne anglühten, und rief:

„Laß die Bühne gern Leuten wie Ihnen. Bin nicht gekommen, hier Reden wider Leute wie Sie zu halten. Aber meine Meinung will ich Ihnen nicht vorenthalten. Meine Meinung kann jeder hören, der Lust hat. Ist, daß Sie lauter Unsinn vorgebracht haben – blutigen Unsinn! Was wissen Sie hier von der Zukunft, von der Sie so viel geschwatzt haben? Wird sich abspielen nicht hier, sondern in Amerika, die Zukunft – wissen Sie! Nicht hier, wie Sie’s träumen! Sind fertig, die Menschen hier, mit diesem alten Lande. Haben’s cultivirt, haben’s beackert, haben’s drainirt und halten es säuberlich gejätet aller Orten. Wege laufen die Kreuz und die Quer wie zwischen Gartenbeeten; an jeder Gabelung steht ein Wegweiser: Schoppenstedt drei, Komma, fünf Kilometer. Jeder Baum und jeder Strauch hat seinen Herrn, jedes Stück Wild, denk ich, eine Nummer hinten aufgebrannt. Jeder Bach hat seine Rinne vorgeschrieben bekommen, jeder Fluß seinen Pegel, an dem ihm vorgezeichnet ist, wie hoch er steigen darf. Was ist denn nun für den Menschen, der auf den Kampf mit der Natur angewiesen ist, hier noch zu thun? Er hat die Natur ‚klein gekriegt‘ – sehr klein! Und aus Mäßigung fängt er nun zu hadern an mit denen, die dabei die Hauptarbeit gethan und also auch das größte Stück bekommen haben. Die Arbeit des Armes soll dabei so gut wie die des Kopfes gewesen sein? Wenn ein Erfinder wie Stephenson brütend über seinem Maschinenmodell sitzt, tritt der Hanswurst zu ihm und sagt: ‚Sieh, auf meiner Stirn hängt der Schweiß, den mir meine Capriolen im Circus ausgepreßt haben, wie auf Deiner Stirn die Schweißperlen, die

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_338.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)