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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

gemacht; im schärfsten Gegensatze zu jenen Erdbeben, die mit den Faltungs- und Störungsvorgängen in der Rinde des Planeten in directem Zusammenhange zu stehen scheinen.

Diese häufigsten und verbreitetsten Erdbeben, die oft nur als unbedeutende und locale Erschütterungen sich bemerkbar machen, bisweilen aber sehr große Theile der Erdoberfläche umfassen und die entsetzlichsten Verheerungen anrichten, gehen nie von einem vereinzelten Punkte aus, sondern stets von einer Linie. Schon dieses Verhältniß bedingt eine scharfe Unterscheidung der vulcanischen Erdbeben, deren Herd immer ein thätiger oder erloschener Schlot ist, und dieser an „Stoßlinien“ gebundenen Erschütterungen, welche man „tektonische“, Structur“- und „Stauungsbeben“ genannt hat, weil sie ihre Ursache in der Aenderung im Aufbaue, in der Faltung und Stauung der Erdrinde finden.

Diese Beben ereignen sich vorzugsweise in Kettengebirgen, und zwar entweder auf Stoßlinien, welche der Richtung der Ketten, dem „Streichen“ des Gebirges entsprechen (Längs- oder Longitudinalbeben), oder aber auf solchen, welche senkrecht zu dem Streichen des Gebirges stehen (Quer- oder Transversalbeben).

Die gewaltigen Erdbeben, die an der westlichen Küste Südamerikas in enormer Ausdehnung auftreten, hängen keineswegs mit dem an jener Küste ebenfalls im größten Maßstabe sich bethätigenden Vulcanismus zusammen, der nur eine secundäre Folge der Störungen im Bau der Rinde ist, sondern direct mit dem Brechen und Spaltenwerfen derselben.

Wenn wir hören, daß bei dem großen Erdbeben vom 24. Mai 1750 der Hafen von Concepcion trocken gelegt wurde und in Folge des Bebens an der ganzen chilenischen Küste die Muschelbänke etwa 4 Fuß über dem Meere abstarben, so dürfen wir diese Verschiebung des Meeresniveaus wohl nicht auf eine durch vulcanische Kraft bewirkte Hebung des Landes zurückführen – denn eine solche ist nach den heutigen Anschauungen der Geologie in dieser Ausdehnung unmöglich – sondern nur auf die plötzliche Ausgleichung einer Spannung in der Erdrinde, hervorgerufen durch die allmähliche Contraction des Erdkernes, welcher die starre Rinde nur ruckweise und unter jenen Erscheinungen, die wir als Erdbeben empfinden, zu folgen vermag. Das Gebiet des Stillen Oceans ist allmählich gesunken; wir erkennen es vornehmlich durch die geistvolle Theorie Darwin’s, nach welcher die Korallen-Inseln der Südsee durch langsames Sinken des Untergrundes und dem entsprechendes Fortbauen nach oben entstanden sind.

Doch kehren wir zurück zu Gebieten, die uns näher liegen! In dem Kettengebirge der Alpen sind Erdbeben eine ungemein häufige Erscheinung. In den Jahren 1850 bis 1857 wurden in den Alpen nicht weniger als 1086 Erdbeben verzeichnet, von welchen wegen mangelhafter Beobachtung nur 81 auf die Ostalpen kommen, sodaß die genannte Zahl vielleicht um die Hälfte hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Wenn auch alle Theile der Alpen häufige Erschütterungen aufweisen, so sind doch jene südalpinen Gebiete, welche in weitem Bogen das adriatische Meer und die oberitalienische Ebene umspannen, Schauplatz der häufigsten und intensivsten Erdbeben. Schon die geographische Lage der von dem Kettengebirge abhängigen Schütterzonen zwingt uns zu der Annahme, daß die in Kettengebirgen so häufigen Erdbeben mit der Entstehungsursache derselben im engsten Zusammenhange stehen. Es sei gestattet, für die oben angeführten beiden Kategorien der Longitudinal- und Transversalbeben einige Beispiele anzuführen. Der ersten Gruppe können wir zuzählen das Erdbeben von Klana im österreichischen Küstenlande (1870); das erzgebirgische Beben vom 23. November 1875 und in gewissem Sinne die calabrischen (peripherischen) Erdbeben von 1783. Als Transversal- oder Querbeben haben wir zu bezeichnen jenes von Belluno (1873), jenes von Agram (9. November 1880) und jenes furchtbare Erdbeben von 1348, welches Villach und Udine zerstörte. Ich will als Beispiel für die lineare Verbreitung jener Erdbeben, die mit der Gebirgsbildung zusammenhängen, in Kurzem die Wirkungen des letzterwähnten Erdbebens aufzählen. In Venedig wurde der Canal grande trocken gelegt und viele Paläste umgestürzt, in Friaul mehr als vierzig Schlösser und feste Plätze zerstört; besonders litten die Städte Udine, Tolmezzo, Gemona, Venzone etc. Villach wurde fast gänzlich zerstört, da Feuer die Verheerungen des Erdbebens vervollständigte. Das entsetzlichste Ereigniß aber war der Einsturz des südlichen Theiles des Dobratsch, durch welchen zwei Märkte und siebenzehn Dörfer theils von dem Bergsturz begraben, theils vom Flusse überschwemmt wurden – vom Gailflusse nämlich, der zu einem See gestaut wurde, bis er sich mühsam durch die „Schütt“ Bahn brach. Noch heute aber sumpft das Thal aus dieser Ursache. In ähnlicher Weise läßt sich bei allen übrigen angeführten Erdbeben eine mehr oder minder lange Stoßlinie nachweisen.

Von besonderer Bedeutung erscheint ferner der Umstand, daß ein und dieselbe Linie stets wiederholt zum Erdbebenherde wird, und daß dieselben Orte im Laufe von Jahrhunderten wiederholt zerstört oder doch von schwächeren Erschütterungen heimgesucht werden. So wurde Agram seit dem 26. März 1502, an welchem Tage es unter einer zerstörenden Erschütterung zu leiden hatte, die etwa dieselbe Intensität hatte, wie jene vom 9. November 1880, bis zu unseren Tagen von häufigen Erdbeben (Professor Kispatič zählt in der „Agramer Zeitung“ im gedachten Zeitraume deren vierzig auf) betroffen. Bei Transversalbeben zählen die Stöße, welche dem Hauptstoße folgen nach Hunderten, und eine solche Schütterphase dauert eine Reihe von Monaten.

In Agram zählte man vor Kurzem den dreihundertsten Stoß seit jenem vom Morgen des 9. November; in Velluno ereigneten sich ebenfalls nach dem Hauptstoß vom 29. Juni 1873 einige Hundert Stöße, welche bis in’s Jahr 1874 andauerten. Auch bei diesen Querbeben ist der Hauptangriffspunkt der seismischen Kraft immer derselbe, wenn er auch auf derselben Stoßlinie gelegen ist. Noch deutlicher aber spricht sich das „Wandern der Stoßpunkte“ bei den longitudinalen oder peripherischen Beben aus.

Sueß hat bei Besprechung der Erdbeben Süditaliens zuerst dieses Wandern und Zurückspringen der Stoßpunkte auf einer peripherischen Linie gezeigt. Insbesondere bei dem furchtbaren Erdbeben von 1783, welches Tausenden den Untergang brachte, wanderten durch Monate die Ausgangspunkte zerstörender Stöße auf der die Senkung des Tyrrhener Meeres begleitenden calabrischen Schütterzone. Ein ganz ähnliches Wandern und zeitweises Zurückspringen der Stoßpunkte zeigt das Erdbeben von Klana.

Solche Erscheinungen sprechen entschieden dafür, in derartigen Erdbeben die unmittelbare Folgewirkung von Bewegungen in der Erdrinde zu suchen. Eine longitudinale Erschütterung entspricht der Entstehung eines Sprunges in der Richtung jener langen Falten, welche die Erdrinde aufwirft und welche wir Gebirgsketten nennen. Solche Brüche entstehen nicht auf einmal in ihrer ganzen Länge; sie werden auch wiederholt dadurch aufgerissen, daß die Bewegung auf der einen Seite der Bruchlinie eine andere, vielleicht geradezu entgegengesetzte ist, als auf der anderen. Diese Bewegungen aber sind stets mit Erderschütterungen an der Schütterzone verbunden, welche also einem großen Längsbruche oder einem System von mehreren Brüchen entspricht. Das Wandern oder Zurückspringen der Stoßpunkte wird so leicht erklärlich. Anders verhält sich die Sache bei den Transversalbeben; sie werden hervorgerufen durch die zeitliche Verschiebung einzelner Schollen der Erdrinde, die man in vielen Fällen auch im geologischen Bau des Gebirges nachzuweisen im Stande ist.

Die genaue Untersuchung der Erdbebenerscheinungen giebt uns Mittel an die Hand, diese Behauptung zu prüfen. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erdbeben hat Maltet anläßlich des großen Erdbebens von Calabrien 1857 näher untersucht. Die Erdbebenwelle hatte damals eine Geschwindigkeit von 305 Meter in der Secunde. Es kann die Schnelligkeit der wellenförmigen Fortpflanzung eines Erdstoßes jedoch, je nach der Beschaffenheit des Gesteins, auf 150 Meter herabsinken, aber auch bis 800 Meter per Secunde erreichen. Durchschnittlich können wir annehmen, daß Erdbebenwellen ungefähr mit gleicher Schnelligkeit in der Erdrinde sich bewegen, wie Schallwellen in der Luft (340 Meter).

Daß diese Erdbeben in Vorgängen in der äußeren Rinde unseres Planeten ihre Ursache finden, lehren ferner jene Berechnungen, welche Maltet, von Seebach und von Lassaulx mit großem Erfolg auf die Stoßstärken, die Zeitbestimmungen über den Eintritt des Stoßes an verschiedenen Punkten und die Stoßrichtungen gründeten, nur den Ursprungsort für verschiedene Erdbeben zu bestimmen. Es würde zu weit führen, die complicirten Methoden solcher Berechnungen zu erörtern. Es sei nur angeführt, daß die muthmaßliche Tiefe des Herdes für das calabrische Erdbeben von 1857 mit 10,667 Meter = 1½ geographischer Meile, für jene, von Herzogenrath bei Aachen 1873 mit 11,130 Meter, für jenes von Gera 1872 mit 17,956 Meter oder 2,4 Meile, für das Erdbeben von Sillein in den Karpathen 1858 mit 26,266 Meter und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_315.jpg&oldid=- (Version vom 9.2.2024)