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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

„Ja – wohin Sie blicken im Leben, ist es so. Sehen Sie in die Familien! Der Sohn studirt, vergeudet, glänzt in der Gesellschaft und wird am Ende doch nichts Tüchtiges, während die braven Schwestern in enger Häuslichkeit daheim das sich abdarben, was er verzehrt. Dem stillen, arbeitsamen verdienten Beamten nimmt der Streber die Beförderung vorweg. Dem großen, seinem Genius treu schaffenden Künstler, dem idealen, hohen Gedanken lebenden Schriftsteller wendet die Menge den Rücken, um sich dem, was die Tagesmode ihr anpreist, gefangen zu geben – unser ganzes gesellschaftliches Leben ist nach dem Principe aufgebaut, daß der Erde Güter nicht an die Würdigen kommen, weil erst so viel Unwürdige damit ausgestattet werden müssen.“

Regina schwieg eine Weile.

„Was ist nun zu thun?“ fragte sie dann. „Mein Vater wird niemals einwilligen in Ludwig’s Ehe; er wird Himmel und Erde in Bewegung setzen dagegen – und Ludwig selbst? Ich bin über die Tragweite seiner Charakterstärke, über den Umfang seiner Widerstandskraft durchaus nicht im Klaren.“

„Das heißt, Sie zweifeln an Beiden, wie ich es thue. Und darum fällt die ganze Last des Kampfes auf mich, ganz allein auf mich. Ich muß meiner Schwester Recht, meiner Schwester Frauenehre schützen – ich muß sie vertheidigen mit allen Mitteln, die mir zu Gebote stehen. Es wird ein gerichtlicher Skandal werden, eine cause célèbre; die Journale werden sich der Sache ausführlichst bemächtigen – aber –“

„Aurel,“ unterbrach ihn hier lebhaft Regina – „Sie wollen sich unmittelbar an die Gerichte wenden?“

„Muß ich das nicht? Nach der Unterredung mit Ihrem Vater bleibt mir nichts übrig, als gegen ihn auf Anerkennung der Ehe meiner Schwester klagen zu lassen“

„Hören Sie, Aurel – darin liegt eine Hoffnung; der Widerwille gegen das Aufsehen, welches weit und breit die Sache machen würde, die Furcht vor dem Skandale, die schreckliche Lage, mit dem eigenen Sohne zu processiren – das Alles hat vielleicht die Macht, den Willen meines Vaters zu brechen. Es muß ihm nur richtig vorgestellt werden –“

„Und wollten Sie das thun, Regina?“

„Das will ich thun, versuchen“ versetzte sie lebhaft. „Von dieser Seite kommt uns eine Hoffnung friedlichen Austrages. Versprechen Sie mir, keine weiteren Schritte zu thun, bevor ich Sie wieder gesehen oder Sie einen Brief von mir haben! Ich kann Sie nicht wieder aufsuchen, Aurel, wie ich es heute gewagt habe, wo die Noth und die Erschütterung mich die Schranken der Sitte durchbrechen ließ. Sie können zu mir nicht kommen; wir sind“ – fügte sie schmerzlich lächelnd hinzu – „wie die armen Königskinder: ‚das Wasser war viel zu tief‘ – aber schreiben können wir uns – das ist ein Recht, für das wir alt genug sind, um es uns nicht anfechten zu lassen; ich werde Ihnen schreibe, und Sie, Sie warten –“

„Ich warte und stelle meine Hoffnung auf Sie, Regina, auf die Magie Ihres Wortes, Ihres Willens, Ihres Gemüthes, von dem ich nicht lasse, daß ihm etwas in der Welt widerstehen könne.“

Sie hatte ihm beide Hände zum Abschied gereicht; er zog sie zu sich hinan und hauchte einen Kuß auf ihre Stirn; sie lehnte diese Stirn an seine Brust und ließ sie wie in stiller Selbstverlorenheit da ruhen – dann riß sie sich los. Aurel sah bei dem raschen Aufschlag ihrer Lider, mit dem sie ihm tief in’s Auge blickte, zwei große Perlen an ihren Wimpern hängen, und im nächsten Augenblicke war sie entschwunden. Eine Minute später fuhr ihr Wagen unter dem Thorwege mit dumpfem Rollen davon,




8.


In den Nachmittagsstunden hatte Aurel Lanken Vortrag beim Herzog. Ein wenig gespannt – Regina hatte ja gesagt, daß ihr Vater beim Herzoge gewesen – schritt er im Residenzschlosse durch die weiten, kunstgeschmückten Vorgemächer. Die Hoheit empfing ihn wie gewöhnlich – vielleicht um eine Nüance kühler, doch darin konnte er sich ja täuschen – und winkte ihm, an dem für die Ministervorträge bestimmten Tische Platz zu nehmen, indem er sich ihm gegenüber setzte. Aurel öffnete sein Portefeuille und begann mit einer kurzen Auseinandersetzung von finanzieller Natur; er suchte den trockenen Stoff so concis wie möglich zu geben, und der Herzog dabei so viel Aufmerksamkeit, wie ihm möglich war, an den Tag zu legen, wobei es ihm nicht immer gelang, seine Augen vom Umherschweifen nach den Personen, die über den Schloßhof gingen, nach den Wagen, welche vorüberfuhren, abzuhalten. Der Herzog war ein großer, aristokratisch aussehender Herr mit blondem Vollbart; ein Ansatz zum Embonpoint machte ihn ein wenig älter aussehen, als er war, konnte aber nur den Eindruck von gutmüthig-behaglichem Wesen erhöhen, den er auf Jeden, der ihn sah und sprach, machen mußte; er war in bürgerlicher Tracht, wie fast immer, wo er der einzwängenden Uniform, die ihn jedesmal um eine starke Nüance gebieterischer und souveräner machte, nicht bedurfte. Aurel, der ihm seit längerer Zeit so nahe getreten, verehrte ihn nicht blos als den Fürsten; er liebte ihn auch als eine durchaus reine und wohlwollende, wenn auch vielleicht nicht tiefgründige Natur, die man nun einmal von einem solchen Herrn nicht immer verlangen dürfte.

„Ich bin mit dem allen einverstanden, Lanken,“ unterbrach er nach einer längeren Zeit den Minister; „geben Sie nur Ihre Verordnung her! Ich unterzeichne auch, ohne das Weitere gehört zu haben. Wir überschreiten damit das Budget nicht – das ist richtig; aber freilich hatte ich gehofft, gerade hier Ersparungen gemacht zu sehen und einen Fonds für ideale Zwecke aus diesem erhofften Ueberschusse bilden zu können; ich möchte so gern für das Theater mehr thun, Lanken – doch, was ist zu machen? Ich muß genehmigen, daß das Geld für – nöthigere Dinge, wie Ihr das nennt, ausgegeben werde. ‚Kein Mensch muß müssen‘, sagt Lessing – wahrhaftig, ein armer Fürst, wie ich, hat alle Tage Gelegenheit, seine Betrachtungen über diese seltsame Behauptung anzustellen.“

Aurel Lanken legte dem Herzoge die von ihm entworfene Verordnung, auf welche sein ganzer Vortrag hinauslief, vor.

„Unser Theaterdirector,“ sagte der Herzog, während er seinen Namen langsam und mit großen klaren Zügen unter das Document schrieb – „unser Theaterdirector war bei mir …“

„Der Aermste!“ meinte Aurel. „Haben Hoheit ihn mit einem Troste entlassen können?“

„Welchen Trost hätte ich ihm zu geben! Der Mann hat wirklich das beste, achtungswertheste Streben und den schönsten Eifer für die Ehre und Würde unseres ‚Hof- und Nationaltheaters‘; er treibt die Sache wirklich mit einem respectabeln sittlichen Ernst und redet über die Bedeutung der Schaubühne für den öffentlichen Geist und das, was er ‚die ethische Stimmung der Volksseele‘ nennt, wie ein Buch –“

„Sein Repertoire ist in der That im letzte Jahre überraschend gut gewesen,“ stimmte Aurel bei.

„Aber was hilft ihm das?“ fuhr der Herzog fort. „Das Haus bleibt unbesetzt; seine Casse bleibt leer; der Zuschuß, den ihm die Hofcasse bezahlt, füllt die Lücke nicht; das Publicum läuft zu niederträchtigen Possen in das ‚Apollotheater‘, das, wie er sagt, alle Abende bis zum Brechen gefüllt ist – wir verdanken ja unserer neuen, unbedingten Gewerbefreiheit dieses angenehme Concurrenz-Institut, das ich, wenn’s nach meinem Wille gegangen wäre, niemals concessionirt hätte. Da werden jämmerliche Schwänke, unsittliche Operetten aufgeführt, und dahin wälzt sich natürlich der große Haufe. Was ist zu machen? Unser Hoftheater steht vor einem Krach. Wissen Sie Rath? Ich weiß keinen. Die Sache wird wohl damit enden, daß einmal wieder das Gute vom Schlechteren verdorben wird, das Edle dem Unedlen weichen muß und der brave Director sich dem Gemeinen geopfert sieht; in die verlassene Räume des Hoftheaters wird die Apollotruppe triumphirend einziehen …“

„Und dort blühen, bis irgend eine Akrobatenbande kommt und auch sie auf’s Trockene legt,“ sagte Aurel bitter, eigenthümlich bewegt, daß nun auch der Herzog auf eine Gedankenreihe, welche ihn und Regina am Morgen so tief ergriffen, anknüpfte.

„Das ist der Welt Lauf!“ fuhr der Herzog fort. „Er ist nicht zu ändern. Wie manchem tüchtigen, strebsamen Menschen, der mit einem offenbaren Talente der Welt etwas leisten könnte, wenn man ihm die Sorge abnähme, habe ich nicht schon helfen wollen – und ich konnte es nicht, da Hof- und Schatullencasse genug zu thun hatten, die Gehalte für Nichtsthuer, die Pensionen für Staatsschmarotzer zu zahlen. Aber lassen wir das! Was haben Sie sonst noch?“

Aurel zog den ganzen Inhalt seines Portefeuilles hervor und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_306.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)