Seite:Die Gartenlaube (1881) 305.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 19.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Zum Gedenktage des Frankfurter Friedens.
(10. Mai 1871)

Das war ein Maitag, wie ihn nimmer
Ein deutsches Auge noch erschaut!
Welch blendend Meer von Blüthenschimmer,
Von lichtem Himmel überblaut!

5
Vom Main her scholl die Friedenskunde

Hinein in all das Lenzesweh’n;
Die Glocken priesen in der Runde
Des Deutschen Reiches Aufersteh’n.

Und heut? – Zehn Jahre Kampf und Streben –

10
Wie mühsam dünkt der Weg und weit!

Was aber gilt im Völkerleben
Solch winzig kurze Spanne Zeit?
Um künft’ge Früchte heißt es werben;
Und fiel auch mancher Blüthe Pracht,

15
So reicher Frühling kann nicht sterben

In einer einz’gen frost’gen Nacht.

O seht des Lenzes rastlos Walten!
Die ew’ge Sonne niederscheint –
Wie klein, mein Volk, was dich gespalten,

20
Wie groß, was dauernd dich vereint!

Der einstigen Begeist’rung Brände,
O wecke sie, Erinn’rungsgruß:
Die Schwerter fort! Reicht euch die Hände
Und feiert neuen Friedensschluß!

 Ernst Scherenberg.




Bruderpflicht.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Regina hatte einen Augenblick gedankenvoll geschwiegen „Sein Herz hatte Ludwig drüben in Amerika verloren,“ begann sie dann wieder, „an Ihre Schwester verloren, Lanken; er war, wie er sich ausdrückte, schneller als er selber gedacht, Bräutigam geworden, hatte Lily nach praktischer Yankee-Manier geheirathet, ohne die Einwilligung seines Vaters eingeholt zu haben, und sich vorgenommen, dies später, mündlich abzumachen, wenn er wieder daheim sei … dann war er endlich von seiner Reise zurückgekehrt und hatte sich nun dem neuen Grafenthum unseres Vaters als einer höchst niederschlagenden Ueberraschung gegenübergesehen, einem Grafenthum, das mit einer Fideicommiß-Errichtung verbunden war, welche seine Fähigkeit, der Erbe unseres Vermögens zu werden, von einer standesmäßigen Ehe abhängig machte. Und so verschloß er denn für’s erste sehr niedergeschlagen, aber auch sehr energielos sein Geheimniß in seiner Brust, vermied es sogar, seine freilich wider seinen Willen hierher ihm nachgekommene arme junge Frau zu sehen – bis plötzlich Ihr Vater, Lanken, hier auftauchte. Ludwig zog nun vor, dem drohenden Ausbruch des Sturmes auszuweichen, zu fliehen und sich in einen Winkel Steiermarks zu retten, um dort Gemsen zu schießen. Ist es nicht entsetzlich? O, entsetzlich war auch die kühle Feindseligkeit gegen mich, mit der er die Thatsache, daß er auch mir, seiner einzigen Schwester, dies Alles verschwiegen, damit erklärte, er habe in mir Ihre Freundin, Aurel, gesehen und mich gefürchtet. O mein Gott, welch ein Mensch ist er – mein Bruder! Und auch Ihre Schwester, Lanken – so rasch entschlossen, dem fremden Mann zu folgen, so unbekümmert um die Verhältnisse, den Familienkreis, in welchen dieser sie führt!“

„Mein Gott, Regina, sie haben sich geliebt und sind jung,“ antwortete schwermüthig lächelnd Aurel. „Aber führt Ludwig seinen Plan aus, oder haben Sie ihn bewogen …“

„Zu nichts habe ich ihn bewogen – das ist das Bitterste. An meiner Beredsamkeit hat es nicht gefehlt. Aber seine Angst vor dem Sturm war größer. Er läßt sich jetzt, während wir davon reden, vom Dampfroß nach Steiermark fortwirbeln; dorthin will er Ihre Schwester sich nachkommen lassen, und unterdeß, bis sie bei ihm anlangt, Gemsen schießen.“

„Dann,“ sagte Aurel, schmerzlich aufathmend, „liebt er auch meine Schwester nicht mehr; dann war seine Liebe ein Strohfeuer, das verflogen ist; er würde sonst hier an ihrer Seite stehen.“

Regina schüttelte den Kopf.

„Darüber – auch mir trat ja der Gedanke nahe – bin ich mir nicht klar geworden. Ich habe bei ihm danach getastet, geforscht – sein wahres Gefühl war immer schwer zu ergründen. Jedenfalls blieb mir nichts übrig, als sofort zurückzukehren. Ich habe die Tante Hedwig gar nicht einmal gesehen. Ich bin mit dem nächsten Zuge zurückgekehrt; ich mußte meinem Vater jetzt zur Seite stehen; ich mußte Sie sprechen, Lanken. O mein Gott, in welche Lage bringen uns dieser Bruder, diese Ihre Schwester! Unsere Hoffnungen, unsere Zukunft! Lassen Sie mich in dieser Stunde offen zu Ihnen sprechen, Aurel! Ich habe bis zu diesem Augenblicke fest und ohne an unserem Stern zu zweifeln, die Ueberzeugung gehegt, daß Ihre Zukunft auch die meine und umgekehrt meine die Ihrige sein werde, aber jetzt ist meine Hoffnung, meine Kraft, mein Lebensmuth zusammengebrochen – es ist hiermit Alles zu Ende, Alles Krieg, Alles unversöhnlicher Hader. Aurel, wir sind die Opfer des grauenhaften Leichtsinns dieser zwei Menschen; wir müssen uns opfern für Andere, welche weniger werth sind als Sie, und ich darf sagen: als ich.“

„Das ist des Weltlaufs Gesetz,“ sagte trübe Aurel.

„Was? Daß die des Glückes Würdigeren es opfern müssen um der Unwürdigeren willen?“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_305.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2021)