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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Umgebung angepaßte Farbenmischung. Die hauptsächlich beim Stande des Nestes auf starken Astgabeln vorhandene rostartige Unterlage fand ich öfters nach dem Regen feucht. Sie scheint sonach zur Ableitung der Nässe zu dienen und ist auch viel lockerer als das Filzwerk des eigentlichen Nestes.

Zur Vollendung dieses Kunstbaues gebraucht das Schwanzmeisenpaar gewöhnlich drei Wochen, ja es ordnet und bessert noch in der Brutzeit öfters nach, sowohl am Aeußeren wie im Inneren. Unglaublich weit holen die Meischen bisweilen die Federn zum Auspolstern in die Waldungen; denn man bemerkt bei den Thierchen eine Vorliebe besonders zu Federn des Hausgeflügels. Am emsigsten bauen sie in den Morgenstunden bis zehn und elf Uhr, und in der Regel sah ich die Gatten in Zwischenräumen von sechs zu sechs Minuten abwechselnd mit Baumaterial zum Nistplatze zurückkehren.

Meistens entfernt sich das Paar nicht über zweihundert Schritte von seinem Stande, ausgenommen in den eben hervorgehobenen Fällen des Herbeiholens von Federn aus Dörfern oder Gehöften in ferne Waldungen. Die Mittagszeit wird gewöhnlich zur Ruhe und Erholung benutzt. Da sitzt das Pärchen, ein allerliebstes Vogelminiaturbild, und ordnet sich das Gefieder oder geht still der Nahrung nach.

Das Weibchen brütet allein, während es der Gatte alle zehn bis fünfzehn Minuten mit Futter versorgt, das er der Brütenden zum Fensterchen hereinreicht. Morgens um zehn Uhr und Nachmittags gegen zwei, manchmal auch gegen fünf Uhr bemerkte ich, daß das Weibchen das Nest verließ, um sich auszuspannen und vom Brüten zu erholen. Schon an dem verbogenen, äußerst weichbefiederten und deshalb sehr leicht Eindrücke empfangenden Schwanze kenntlich, der durch das Sitzen in der elliptischen Wohnung ebenwohl zeitweilig eine seitliche Krümmung erhält, macht es Toilette oder fängt sich an Blättern und Blüthen oder in der Luft in Begleitung des Männchens Insecten, bei welchem Fange die artigsten Purzelbäumchen geschlagen, sonstige überraschende Wendungen ausgeführt werden und die langen Schwänze als Balancirstäbchen fungiren. In dreizehn Tagen ist die Brut vollendet, deren Resultat zwischen neun bis zwölf, ja manchmal fünfzehn Jungen schwankt. Nun verdoppelt sich die Emsigkeit der Thierchen, und ihre Nutzen bringende Bethätigung springt jetzt noch mehr in die Augen. Mittelst des Fernrohrs gewahrte ich durchschnittlich auf je anderthalb bis zwei Minuten ein Zufliegen der Schwanzmeisen mit Futter. Nach meinen eingehenden Beobachtungen an Nistplätzen jagen die Alten hauptsächlich nach Kleininsecten, namentlich nach deren Puppen, und in kränkelnden Beständen der Lärche sind es die eingesponnenen Puppen der Lärchenmotte (Tinea s. Coleophora laricinella), welche die Schwanzmeisen ihren zarten Jungen bringen. Das Auslesen der winzigen Puppen geschieht mit unglaublicher Behendigkeit mittelst des Schnabels, in welchem die Vögelchen dicke Bündel zur einmaligen „Atzung“ der Jungen zu sammeln verstehen.

Nach vier bis sechs Atzungstouren (also durchschnittlich alle neun Minuten) erwärmt in der ersten Zeit das Weibchen die zarten Jungen etwa zehn Minuten lang; später wird das Füttern nur um die Mittagszeit durch die Ruhe der Alten unterbrochen. Welch eine ungeheuere Consumtion nur durch ein Nestpaar Schwanzmeisen den Tag über! Es wachsen bei solcher Pflege aber auch die Jungen sehr rasch heran. Schon in der zweiten Woche drückt sich die zahlreiche Schaar gegen die inneren Nestwände an, um Raum in der engen Wohnung zu gewinnen. Hierdurch wird die regelmäßige Form des Nestes verschoben, und nicht selten geschieht es, daß die unruhigen Thierchen Löcher in den Boden und die Seiten brechen, so daß ihre Schwänzchen hervorsehen.

Reizende Scenen gewährt das Füttern. Mit einem elastischen Schwunge nähern die Alten sich dem Neste, und unter anmuthigem Emporschnellen des Schwanzes wird den Kleinen die Atzung gereicht. Diese drängen sich meist – wie auf dem getreu aus der Natur von mir entnommenen Bilde – dicht auf einem Zweige zusammen und empfangen das Futter unter lebhaftem Sperren und den bald leiseren, bald lauteren Tönen „Si–Zi“. Bisweilen rücken die Geschwister dicht an einander, und dann vernimmt man ein leises, außerordentlich melodisches Gezwitscher. Auch die Alten nahen sich stets mit Lockrufen dem Neste, und naht sich eine Gefahr, namentlich ein Raubvogel, so fahren Alt und Jung messerspitz zusammen unter dem feinen, durchdringenden Warnrufe „Sisi“ und verharren längere Zeit unbeweglich in der geraden, aufrechten Stellung.

Bald sind die Jungen so flügge, daß sie von Zweig zu Zweig den Alten nachfolgen, und nun entsteht das beweglichste, munterste Treiben in der Familie. Die Eltern sind rastlos bemüht, die anfänglich nur auf kleine Umkreise sich erstreckenden Excursionen der Kinder zu erweitern, und erreichen ihren Zweck durch wiederholtes Voranziehen mit Atzung, wobei ihnen die Kleinen emsig folgen. Einen höchst unterhaltenden Anblick gewährt eine solche ziehende Schwanzmeisenfamilie. Der sich still und gedeckt haltende Beobachter sieht sich plötzlich von einem Dutzend kleiner beweglicher Wesen umgeben, deren Anwesenheit sich ebenso sehr durch Unruhe und Behendigkeit in allen möglichen Stellungen und Bewegungen, wie in den verschiedensten Tönen bekundet. Jeder Zweig belebt sich sozusagen in buntem Gewimmel und flüchtigem Dahinziehen, und kaum gedacht, ist das gaukelnde Völkchen wie Feengestalten eines Schattenspieles an uns vorüber, mit leisverhallenden Locktönen im Gezweige verschwindend.

Im Herbste begegnen wir den lieben Vögelchen wieder, zuweilen in ihrer Zahl verstärkt durch sich anschließende andere Schwanzmeisenfamilien, oder auch durch Gesellschaften verwandter Meisen, wie Kohl-, Blau- und Sumpfmeisen, sowie der Goldhähnchen. Schon von Weitem zeigen die Munteren und ewig Geschwätzigen den Zug an; sie erscheinen wie vom Windstoße hergetragene Federbällchen mit schnurrenden Flügelschlägen und schwungreichem Bogenfluge vor unseren Blicken, um in demselben Allegro ihres beweglichen Wesens zu verschwinden. Aber bei aller Raschheit des Ziehens durchsuchen die Thierchen fleißig das Baumwachsthum. Zwar entwickeln sie nicht das beharrliche, gründliche Beklettern der einzelnen Zweige, wie die Blaumeise, allein ihre viel größere Beweglichkeit gestattet ihnen in jedem Augenblicke ein anderes Plätzchen – hier den Zweig, dort Blatt und Blüthen – zu durchforschen. So treiben sich die Schwanzmeisengesellschaften vom Herbste durch den Winter bis zum Frühjahre emsig umher und entwickeln eine erstaunliche, von den nützlichsten Folgen für den Garten-, Feld- und Waldbau begleitete Thätigkeit, die, wie wir gesehen haben, sich beim Nisten noch erhöht.

Abweichend von unseren anderen Meisenarten sind die Schwanzmeisen sanfter, friedlicher Natur, und ihre Zähmung gelingt deshalb unter sorglicher, geeigneter Pflege leicht. Sie ergötzen dann durch ihr allerliebstes zutrauliches Wesen. Die Paare sind auch in der Gefangenschaft sehr zärtlich gegen einander, und das Männchen füttert das Weibchen öfters in höchst anmuthender origineller Weise, indem sich beide Vögel von den Zweigen oder Sitzstangen in den Volièren herabbiegen, um sich unterhalb ihrer Sitze mit den Schnäbelchen zu begegnen. Auch unterhält die männliche Schwanzmeise durch angenehmes Gezwitscher und sehr melodischen leisen Gesang, welchen sie besonders zur Paarungszeit hören läßt.

Adolf Müller. 




Der märkische Hans Sachs.

Ein Lebensbild von Hermann Jahnke.

„Gehe vom Häuslichen aus und verbreite dich,
so du kannst, über die Welt!“

 Goethe.

In der „märkischen Schweiz“, jener anmuthigen Landschaft, welche sich inmitten der Provinz Brandenburg am linken Rande des Oderthales ausbreitet, etwa acht Meilen von der deutschen Reichs-Hauptstadt entfernt, liegt, umgeben von reizvoll bewaldeten Höhen, das Städtchen Freienwalde. Dieser Ort erfreut sich namentlich seit der Zeit, da ihn eine Eisenbahnlinie mit der Residenz verbindet, als Zielpunkt für Nachmittags- und Sonntagsausflüge bei den Berlinern großer Beliebtheit.

Nicht selten pflegte es dort nun zu geschehen daß eine Schaar von Sängerbund-Extrazüglern, welche die dem Walde zuführende Hauptstraße der Stadt durchzog, vor einem von Linden und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_295.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)