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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Ringen unserer Zeit seinen elementarsten, weil allgemein menschlichen, Ausdruck in den Gegensätzen des religiösen Lebens, und von diesen Gegensätzen ist wohl kaum eine einzige der bestehenden Religionsgemeinschaften völlig unberührt geblieben. Selbst aus dem fernen Orient erhalten wir seit einiger Zeit Kunde von religiösen Kämpfen, die auffallend viel Aehnlichkeit mit denjenigen haben, die uns bewegen. Am gewaltigsten gährt es indeß augenblicklich ohne Zweifel, wenn auch vielfach noch im Verborgenen, in der protestantischen Kirche. Der religiöse Kampf zeigt hier am deutlichsten seinen inneren Zusammenhang mit dem gesammten Culturleben; unter dem Gegensatze verschiedener, sich unter einander befehdender theologischer und kirchlicher Parteien verbirgt sich ein Principienkampf, der recht eigentlich darauf angelegt ist, ein Culturkampf zu werden. Die unerbittliche Consequenz der Geschichte hat diesen Kampf vorbereitet, und so wird uns die Geschichte auch den besten Aufschluß über die Mächte geben können, welche sich in demselben gegenüberstehen.

Die Entwickelung des Protestantismus hat einen fast wunderbar dramatischen, in seinen einzelnen Acten deutlich erkennbaren Verlauf genommen. Der erste Act ist die Reformation. Wie Frühlingsodem weht es uns entgegen, sobald wir den Vorhang heben und das Bild jener Zeit an uns vorüberziehen lassen, in der zuerst der Reformationsgeist sich mächtig zu regen beginnt. Da ist eine neu entdeckte Welt, welche den Gesichtskreis erweitert und für Handel und Gewerbe neue Bahnen eröffnet. Die Buchdruckerkunst ist erfunden, durch die auch dem Volke die Theilnahme an den höchsten geistigen Fragen ermöglicht wird. Die Feuerwaffe nöthigt den Adel, von seinen bisher für unbezwingbar gehaltenen Burgen herniederzusteigen und sich, wenn auch erst nach langen Kämpfen und mit verhaltenem Grolle, in den immer fester werdenden inneren Verband des Staates einzugliedern. Von Italien her ergießt sich ein Strom neuen geistigen Lebens, und während das Studium der alten Sprachen wieder auflebt, werden die alten Classiker mit Begeisterung aus dem Staube hervorgesucht. In ihnen verjüngt sich die Philosophie, welche im Zeitalter der kirchlichen Scholastik ein mehr als kümmerliches Dasein gefristet hatte. So konnte Ulrich von Hutten seine Zeit mit dem classischen Worte begeistern: „O Jahrhundert! Die Studien blühn; die Geister erwachen. Es ist eine Lust zu leben.“ Und doch wäre diese „Lust zu leben“ bald wieder vergangen, wenn nicht gleichzeitig der fühlbare Bann, den die Kirche auf die Gewissen gelegt hatte, wenigstens für kurze Zeit gesprengt worden wäre.

Vor neuen Entdeckungen und Erfindungen, selbst vor Pulver und Blei, ist der Kirche nie bange gewesen. Sie ist noch weit erfinderischer als alle Erfinder. Meisterhaft verstand sie von jeher die Kunst, Mittel ausfindig zu machen, um sich jede neue Errungenschaft zu unterwerfen und dieselbe „zur größeren Ehre Gottes“ zu verwerthen.

Eine Kirche, welche die Gewissen der Menschen beherrscht, wird auch immer Macht genug finden, um jede unbotmäßige Regung der Wissenschaft zum Gehorsam zu bringen und aller Cultur schließlich wieder den clericalen Stempel aufzudrücken. Der im Namen der Religion auf die Gewissen geübte Druck konnte deshalb nur durch eine religiöse That durchbrochen werden, indem das Gewissen sich ebenfalls im Namen der Religion gegen die clericale Tyrannei auflehnte und sich in seiner eigenen Selbständigkeit erfaßte. Im Namen der Religion war der Fluch gelegt worden auf alle Cultur, die nicht in den Kirchenmauern selber entstanden oder wenigstens nicht kirchlich sanctionirt war. Im Namen der Religion mußte auch der Fluch gehoben, das Profane heilig gesprochen und der Gottesdienst aus der Klosterzelle in das Gebiet des sittlichen Lebens verpflanzt werden. Beides hat die Reformation gethan. Sie hat das persönliche Gewissen als die oberste Instanz für alle religiösen Fragen eingesetzt und Alles für heilig erklärt, was aus ernstem, sittlichem Streben geboren wird, gleichviel ob der Priester es segnet oder verdammt.

Hierdurch ist das Programm des Protestantismus, das die Reformation mit der Flammenschrift religiöser Begeisterung in die Geschichte hineingeschrleben hat, gegeben. Die Verwirklichung desselben ist nun Sache der weiteren geschichtlichen Entwickelung.

Jede weltbewegende Idee findet ihre Schranken an der Persönlichkeit der Männer, von denen sie getragen wird. So dürfen wir uns nicht wundern, daß auch der Protestantismus nur allmählich zum Verständniß seines eigenen Wesens gekommen ist, und daß auch in der protestantischen Kirche gerade die beschränkten Seiten des Mannes, dessen Name auf ewig mit der deutschen Reformation verknüpft bleibt, zunächst ihre Nachwirkungen übten. Auf das Zeitalter der Reformation folgte in grellem Farbenwechsel das Zeitalter des orthodoxen Lutherthums. An die Heldengestalten der Reformation reihten sich die Epigonen derselben, die Männer, welche Lessing kurzsichtige Starrköpfe nennt, die Luther’s Pantoffel in der Hand, aber Luther’s Geist verkennend, den von ihm gebahnten Weg schreiend, aber gleichgültig daher schlendern.

Luther, der einst so kühn alle religiöse Ueberlieferung, auch die der Bibel, vor das Forum seines protestantischen Gewissens gezogen hatte, war schließlich in dem Streite mit Karlstadt und Zwingli doch wieder an der Autorität eines geschriebenen Wortes: „Das ist mein Leib“, hängen geblieben. So war die Bibel nicht mehr Urkunde der Religion, sie war Autorität geworden, und die lutherische Orthodoxie hatte nichts Eifrigeres zu thun, als diese Lehre von der unbedingten Autorität der Bibel zum kirchlichen Dogma zu erheben. Es gab jetzt wieder heilige und profane Wahrheit. Was irgend ein namenloser oder pseudonymer Schriftsteller geschrieben hatte, galt, sofern die Kirche seine Schrift canonisirt hatte, als absolute Wahrheit, als Wort Gottes. Was aber die Heroen des classischen Alterthums, was die Denker und Dichter der eigenen Nation geschaffen hatten, war Menschenwort, wenn nicht gar, sobald es dem Buchstaben der Bibel widersprach, ein Erzeugniß des Teufels.

Luther hatte einst den Glauben an die Heiligen der Kirche, als an übernatürliche Heilsvermittler, abgeschüttelt. Aber in einem Punkte hatte er diesen Glauben nicht zu überwinden vermocht, in dem Glauben an das stellvertretende Verdienst des Gottmenschen. Der kirchliche Christus nahm für das orthodoxe Lutherthum dieselbe Stelle ein, die früher die kirchlichen Heiligen eingenommen hatten. Der Glaube an das den Gläubigen zugerechnete überverdienstliche Leiden und Sterben des Gottmenschen sollte den Menschen rechtfertigen, wie dieses früher die überverdienstlichen Werke der Heiligen hatten thun sollen.

So schuf die Orthodoxie eine neue Glaubensautorität, die Bibel, und eine neue kirchliche Leistung, die Anerkennung des Dogmas von dem stellvertretenden Opfertode des Gottmenschen. Die alten Stützen der mittelalterlichen Kirche waren in neuer Form wieder aufgerichtet. War aber einmal eine unfehlbare Autorität in Glaubensfragen vorhanden, so war auch ein besonderer Stand nöthig, um diese Autorität zu handhaben und auszulegen. So kam die Kirche unter die Herrschaft der orthodoxen Pastoren, die in ihrem hierarchischen Amtsbewußtsein ebenso intolerant, ebenso anmaßend wurden, wie der mittelalterliche Clerus es gewesen.

Wozu brauchte diese Orthodoxie wissenschaftliche Studien? Die Kenntniß der reinen Lehre war ja die Hauptsache. Wozu brauchte sie Früchte des sittlichen Lebens? Ein fremdes Verdienst sühnte ja alle Schuld, und die guten Werke erschienen ja sogar der Glaubensgerechtigkeit hinderlich. Die auf actenmäßigem Material basirenden Schilderungen, die ein kirchlich durchaus unanfechtbarer Theologe, Tholuck, von dem kirchlichen Leben des siebenzehnten Jahrhunderts entworfen hat, geben grausige Beispiele von den Verwüstungen, welche die Orthodoxie in dem einen Jahrhundert ihrer Alleinherrschaft angerichtet hat.

Es konnte nicht ausbleiben, daß durch die immer laxer werdenden sittlichen Grundsätze der Orthodoxie und ihrer Heißsporne eine kräftige Gegenströmung hervorgerufen wurde. Diese Gegenströmung trat in der Geschichte der protestantischen Kirche auf unter dem Namen des „Pietismus“. Man darf bei diesem Namen nicht an das denken, was man heutzutage als Pietismus zu bezeichnen pflegt; denn ursprünglich war der Pietismus eine kirchliche Reformbewegung, hervorgegangen aus dem Bestreben, die Kirche von den Verirrungen der Orthodoxie zu reinigen.

Den Anstoß zu der pietistischen Bewegung gab Spener im Jahre 1678 durch seine Schrift: „Pia desideria, das ist: herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche, sammt einigen dahin einfältig abzweckenden christlichen Vorschlägen“. Er beklagt darin auf’s Tiefste den Verfall des christlichen Lebens, die theologische Streit- und Verketzerungssucht. Er will an die Stelle des Lehrchristenthums das Christenthum der That setzen, da nicht das Wissen, sondern das gottselige Leben die Religion ausmache.

Ein gewaltiger Sturm erhob sich gegen diese vom Standpunkt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_280.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)