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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Nein! So wenig die Proclamirung der Republik in Frankreich im Jahre 1870 mit ihren doch wahrhaftig hinlänglich ausgedehnten Freiheiten die Gräuel der Commune von 1871 und die noch immer fortdauernde Existenz einer auf den Umsturz der ganzen dortigen Gesellschaftsordnung speculirenden Partei hat hindern können, ebenso wenig und noch viel weniger würde die Einführung einer Reichsverfassung und parlamentarischer Einrichtungen in dem halbeuropäischen und halbasiatischen Rußland mit einem Schlage die geheimen Verschwörungen hinweggebannt und aus den Nihilisten gute Staatsbürger, aus den Verschwörern Männer einer gedeihlichen, parlamentarischen und politischen Thätigkeit gemacht haben. Daß also Alexander der Zweite durch Verleihung einer Verfassung die Nihilisten hätte versöhnen oder doch unschädlich machen können, das erscheint uns als eine optimistische Auffassung der Sachlage. Eine andere Frage ist: ob er nicht, trotz der Nihilisten, einen solchen Schritt hätte thun sollen. Ob dazu der rechte Zeitpunkt gekommen, ob der Geist des russischen Volkes dafür reif und vorbereitet genug war, um gedeihliche Wirkungen von der Einführung einer den westeuropäischen ähnlichen Verfassung hoffen zu lassen – darüber enthalten wir uns eines Urteils; denn ein solches kann nur abgeben, wer die russischen Zustände genau kennt.[1]

Daß Kaiser Alexander der Zweite schon zu Anfang der sechsziger Jahre den Gedanken einer Verfassung und Vertretung für das große russische Reich ernstlich in Erwägung gezogen, dafür liegen ganz bestimmte Anzeichen vor.[2] Leider wurde er nur zu bald davon abgelenkt, zuerst durch den Polen-Aufstand, dann durch die mehr und mehr, zuerst in den planmäßigen Brandstiftungen in den großen Städten, hervortretenden Symptome jener im russischen Volke weitverbreiteten revolutionären Strömung. Doch hat er im letzten Jahrzehnt seiner Regierung sich dem Gedanken einer Verfassung insofern wieder genähert, als er Vertretungen der einzelnen Gouvernements einrichtete, zunächst allerdings mehr für die Zwecke der wirthschaftlichen Selbstverwaltung, aber doch wohl auch im Hinblick auf eine daraus später zu bildende gemeinsame Vertretung. Allein die beklagenswerte Theilnahmlosigkeit, welche dieser Einrichtung gegenüber der wichtigste Stand im Reiche, der Adel, zeigte, konnte ihn leider kaum ermuthigen, auf diesem rühmlichen Wege weiter zu gehen. Und so blieb der Gedanke einer Krönung der anderen von Alexander dem Zweiten vollzogenen politischen und socialen Reformen unausgeführt. Noch dringender und wirksamer übrigens, wenn auch wohl nicht minder schwierig, als die Einführung moderner Repräsentativformen, wäre – nach den eigentümlichen Verhältnissen Rußlands – eine durchgreifende Reform der tief schadhaften Verwaltungszustände des Reichs gewesen. Wenn man an Friedrich’s des Großen „aufgeklärten Despotismus“ erinnert hat, der sich darin so segensreich erwiesen, daß des Königs überallhin reichender scharfer Blick und starker Arm die Ausschreitungen des Beamtenthums, Bestechlichkeit, Ausbeutung des Volks, Ungerechtigkeit, Parteilichkeit, Willkür, so erfolgreich zu verhüten gewußt, so ist freilich zu bedenken, daß, was in einem Staate von 5 bis 7 Millionen Einwohnern und auch da vielleicht nur einem Friedrich dem Großen möglich war (selbst ein Joseph der Zweite scheiterte an dem gleichen Beginnen), in einem so ungeheuren Reiche wie Rußland mit einer Bevölkerung von 70 bis 80 Millionen und einer an Sitten und Bildung so ungleichartigen Gesellschaft ganz andern Schwierigkeiten begegnen mußte. „Der Himmel ist hoch und der Czar weit“ heißt ein altes russisches Sprüchwort. Das Auge des Selbstherrschers in Petersburg reicht nicht so leicht in alle die weiten Räume seines Reichs, und selbst der kräftigste Wille des scheinbar Allmächtigen mag erlahmen in dem Versuche, seine noch so wohlmeinenden Absichten (und gewiß waren dies die des ermordeten Kaisers) auch den vielen tausend höheren und niederen Vollziehern seiner Befehle einzuhauchen. Möglich, daß die hierhin zielenden, so dringend nöthigen Reformversuche Kaiser Alexander’s des Zweiten nicht energisch genug unternommen wurden, oder daß er durch die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen in dieser Richtung muthlos geworden ist – doch überlassen wir die nähere Ausführung dieser Frage den Organen der Tagespresse! Wenden wir uns hier greifbaren und durch die Geschichte anerkannten Erfolgen der Regierungsthätigkeit Alexander’s des Zweiten zu, die recht eigentlich im Bereiche der Aufgabe dieses Blattes liegen, weil sie einen vorzugsweise humanitären und culturellen Charakter hatten: seinen unvergänglichen Verdiensten um die Befreiung eines mannhaften Theils seiner Untertanen von einer erdrückenden und entwürdigenden Knechtschaft, seinen Verdiensten um die Aufhebung der Leibeigenschaft! „Czar-Befreier“ – so nannte der niedere Theil der Bevölkerung, das eigentliche „Volk“ in Rußland, bei Lebzeiten den Kaiser Alexander den Zweiten; dem „Czar-Befreier“ weinte es bei dessen gewaltsamem Tode in aufrichtigem Schmerze nach. Und dieser Schmerz war gerechtfertigte denn eine große, wahrhaft weltgeschichtliche That war es, welche Alexander der Zweite mit kluger Ueberlegung plante, mit großer Einsicht durchführte. Was Alexander der Erste nicht gewagt, woran selbst der eiserne Nikolaus nur zaghaft Hand angelegt, das vollführte der viel weichere, aber in diesem Punkte unnachgiebige Alexander der Zweite.

Es war ein eigentümliches Zusammentreffen, daß fast genau zu derselben Zeit die große Republik jenseits des Oceans und das ungeheure Despotenreich Rußland sich von einem Krebsschaden befreiten, der an ihrem innersten Marke zehrte, einen moralisch-politischen Makel austilgten, der so lange auf ihnen gelastet. Aber drüben, in dem freien, in aller sonstigen Cultur so weit fortgeschrittenen Nordamerika bedurfte es eines vierjährigen blutigen Krieges, um mit der Sclaverei zu brechen, und wenig fehlte, so wäre die glorreiche Union darüber aus einander gefallen; in dem noch halbwilden Rußland vermochte der Wille eines Einzigen die auch hier nicht wenig starken und nicht wenig zähen Kräfte des Widerstandes zu überwinden und ohne eine Erschütterung des Staatswesens im Ganzen, wenn auch nicht ohne manche krampfhafte Bewegungen im Einzelnen, eine so tiefeinschneidende Maßregel, wie die Aufhebung der Leibeigenschaft, durchzuführen.

Um die ganze Größe dieses Unternehmens zu ermessen, muß man sich vergegenwärtigen daß die gesammte bäuerliche Bevölkerung Rußlands zur Zeit der Aufhebung der Leibeigenschaft über dreißig Millionen Köpfe betrug, von denen ungefähr ein Dritttheil aus sogenannten Kronbauern, das heißt Bauern auf kaiserlichen Domänen die andern zwei Dritttheile aus solchen auf Bauern- und Privatgütern des Adels bestanden. Freie Bauern gab es im eigentlichen Rußland nur wenig. Die Lage der Kronbauern war schon längst eine bessere. Sie waren in Gemeinden vereinigt, die nach altslavischem Recht den gesammten Grund und Boden gemeinschaftlich besaßen, und wenn dieser Besitz auch kein ganz freies Eigenthum war, so stand der Gemeinde doch ein erbliches und ewiges Nutznießungsrecht an dem Boden zu, wofür sie der Regierung ein jährliches Pachtgeld (Obrok) zahlte. Der Pacht, auf die einzelnen Köpfe vertheilt, betrug auf den Kopf zwischen zwei und drei Rubel Silber, und daneben ward noch eine Kopfsteuer von nicht ganz einem Rubel von jedem männlichen Individuum erhoben während die Gemeinde natürlich das Land an die einzelnen Familienväter, ebenfalls nur zur Nutznießung, vertheilte. Der einzelne Kronbauer war somit, wenn auch kein eigentlich freier Grundeigenthümer, so doch weder persönlich unfrei wie der Leibeigene, noch auch einer willkürlichen Entziehung seines Bodenbesitzes seitens des Herrn ausgesetzt; auch bestand ferner eine gewisse Selbstverwaltung dieser Bauerngemeinden, lediglich unter Aufsicht der kaiserlichen Behörden. Die Kronbauern durften ihren Aufenthaltsort wechseln, in die

Städte ziehen, Handel und Gewerbe treiben etc. Wenigstens von

  1. Die von dem Herrn Verfasser hier offen gelassene Frage glauben wir von unserem etwas abweichenden Standpunkte aus auf das Entschiedenste mit: Ja! beantworten zu müssen. Rußlands einziges Heil liegt unseres Ermessens in dem längst gebotenen Einlenken in jene Bahnen, welche der Geist des modernen politischen und intellectuellen Fortschrittes den Nationen der Gegenwart vorschreibt. Was Alexander der Zweite – verhängnisvoll genug – versäumt hat, das wird der Erbe seines Thrones gut zu machen, er wird zur Beglückung seines Volkes das bureaukratische Willkürreich des Czaren endlich in ein constitutionelles Staatswesen zu verwandeln haben.
    D. Red.
  2. Die Großfürstin Helene, eine württembergische Prinzessin und Gemahlin des Großfürsten Michael Paulowitsch, bekanntlich eine freisinnige und gerade nach dieser Seite hin ihrem kaiserlichen Neffen, Alexander dem Zweiten, nahestehende Fürstin, hatte bereits 1863, in Voraussicht des bevorstehenden Erlasses einer Verfassung für Rußland, durch einen Vertrauten, den Baron von Haxthausen, eine Schrift herausgeben lassen („Das constitutionelle Princip.“ Leipzig, bei F. A. Brockhaus), deren Zweck war, wie Haxthausen in der Vorrede dazu es ausdrückte, „den gebildeten Russen, den Staats- und Geschäftsmännern eine richtige und klare Einsicht über das Wesen und die Principien des constitutionellen Systems, seine Geschichte und seine Wirkungen zu verschaffen“. Die Schrift enthielt in ihrem ersten Theile eine Geschichte der Repräsentativverfassungen mit Volkswahlen (von Professor Biedermann), im zweiten eine Reihe theoretischer Aufsätze über einzelne Hauptpunkte des Verfassungsrechtes (von den Professoren Gneist, Held, Waitz und Kosegarten); sie wurde, ebenfalls im Auftrage der Großfürstin auch in’s Französische übersetzt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_236.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)