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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)


landschaftlicher Darstellung: seine Stimmungsgemälde gefallen uns durch ihre Anschaulichkeit; sie ziehen uns an durch ihre musikalische Schönheit; sie beschäftigen uns durch den Geist, der in ihnen athmet. Die beiden ersten Zugeständnisse Schiller’s dürften noch heute ihre volle Gültigkeit haben, und nur bezüglich des dritten könnte man angesichts der gegenwärtigen gesteigerten Anforderungen mit dem berühmten Kritiker rechten.

Geboren wurde Friedrich von Matthisson – um die wichtigsten Daten seines Lebens hier nicht zu übergehen – am 23. Januar 1761 zu Hohendodeleben bei Magdeburg, und zwar einige Monate nach dem Tode seines Vaters, eines früheren Feldpredigers. Seine Erziehung empfing er, der Hauptsache nach, im Hause seines Großvaters, eines Landgeistlichen, seine akademische Vorbildung aber auf der Schule zu Kloster-Bergen, von wo er die Universität Halle bezog, um, den Traditionen seiner Familie gemäß, Theologie zu studiren; sein idealistisch gestimmter Geist trieb ihn indessen sehr bald in wissenschaftliche Bahnen, die seinem Brodstudium ziemlich fern lagen, und so wurde aus dem Studenten der Theologie ein Jünger der schönen Literatur, ein Hörer der Natur- und Sprachwissenschaften. Nach einer kurzen Thätigkeit als Lehrer am Erziehungsinstitute zu Dessau begab er sich in der Eigenschaft eines Hofmeisters mit den jungen livländischen Grafen Sievers auf Reisen in Deutschland und lebte dann, vielfach leidend, von 1788 bis 1790 zu Schloß Nyon am Genfersee bei seinem Freunde Bonstetten, wo er die eigentliche Blüthezeit seines dichterischen Schaffens erlebte und unter Anderem sein so berühmt gewordenes Gedicht „Am Genfersee“ verfaßte. Nirgends eine dauernde Stätte findend, war er alsdann eine Zeit lang Lehrer in der Familie eines Handelsherrn in Lyon, darauf Lector und Reisegefährte der Fürstin von Anhalt-Dessau, mit welcher er 1795 Italien, die Schweiz und Tirol besuchte, und endlich Hofbeamter im Dienste des Königs von Württemberg, der ihn zum Legationsrathe, zum Intendanten des Hoftheaters und Oberbibliothekar ernannte. Durch den Tod seiner Frau schwer getroffen und durch vielfach abfällige Beurtheilungen seines literarischen Wirkens innerlich verstimmt und ermüdet, zog er sich um das Jahr 1824 nach dem reizenden Städtchen Wörlitz bei Dessau zurück, wo er am 12. März 1831 im siebenzigsten Lebensjahre starb.

Wir dürfen das Grab auf dem Wörlitzer Friedhofe, in dem der einst so gefeierte Friedrich von Matthisson nunmehr seit fünfzig Jahren schlummert, als eine Stätte bezeichnen, an der in unseren Tagen materieller Lebensrichtung die Mahnung zu uns spricht: ein dem Geistigen und der Schönheit in reinem Streben zugewandtes Dasein, wie unvollkommen und fehlerhaft es auch in seinen einzelnen Aeußerungen sein mag, hat für alle Zeiten eine Art vorbildlicher Bedeutung. Ernst Ziel.     




Feuerliesl.

Erzählung von Karl Weiß.
1.

Feuerliesl! Die so genannt wurde, war ein hochaufgeschossenes Ding von kaum vierzehn Jahren, schmalschultrig und ein wenig nach vorn gebeugt. Sie hieß eigentlich Elisabeth Grundner und war die einzige Tochter des reichen Himmelbauers, der diesen Namen nach seinem Anwesen, dem Himmelbauernhofe, führte. Der lag etwa zwei Steinwürfe von der Bösenbachbrücke entfernt, hart an die Himmelsleiter, eine kahle steile Felswand, gedrückt, und lieh seinen Besitzern seit Menschengedenken den Namen.

Liesl’s Vater hieß nach seinem Taufzettel, den er freilich nicht entziffern konnte, weil dieses Document lateinisch abgefaßt war, und nach seinem Trauscheine, der für ihn jedoch gleichfalls stumm blieb, da der Himmelbauer Geschriebenes überhaupt nicht lesen konnte: Joseph Grundner, und nie fühlte er sich glücklicher, nie gehobener, als wenn er diesen Namen, der für ihn etwas Außergewöhnliches, Geheimnißvolles hatte, mit schweren, nur Eingeweihten leserlichen Zügen unter irgend eine „Schrift“ setzen konnte. Doch verfehlte er dann nie, ein energisch geschnörkeltes „vulgo Himmelbauer“ darunter zu malen, womit er die Verbindung zwischen jenem Feiertags-Joseph Grundner und dem Alltags-Himmelbauer wieder herstellte.

Damit war die Grenze seiner Kenntnisse im Schriftfache erreicht, und wozu hätte er auch mehr gebraucht? Im Gemeinde-Ausschusse, dem der reiche Himmelbauer selbstverständlich angehörte, wurden alle Fragen mündlich abgehandelt; für das Schriftliche war der Schullehrer da und der Schneider, welch Letzterer seit Jahren das Amt des Gemeindeschreibers versah.

Im Uebrigen war der reiche Himmelbauer ein aufgeklärter Mann, der mit seiner Zeit vorwärts ging und sich allsonntäglich von seiner Tochter, der blondhaarigen Liesl, aus den letzten Nummern des „Neuigkeits-Weltblattes“ alle Ereignisse vorlesen ließ, die sich jenseits des Bösenbaches auf der weiten Erde zutrugen. Dazu setzte er die schwere, silbergeränderte Brille auf die knollige Nase, nahm das Gesangbuch hervor, in welchem alle Papiere des Himmelbauerhofes wohlverwahrt ruhten, und entfaltete langsam und feierlich den lateinisch geschriebenen Taufschein, den er vorsichtig und respectvoll glättete. Von Zeit zu Zeit warf er einen andächtigen Blick auf die Stelle, welche nach Angabe des Schullehrers seinen Namen enthielt, und saß nun, der Vorlesung harrend, würdevoll da, ganz der feiertägliche Josephus Grundner aus der geheimnißvollen, bereits ein wenig abgerissenen „Schrift“, die vor ihm ausgebreitet lag.

Hier und da fuhr er sich mit der flachen Hand über das an Sonntagen stets wohl rasirte Kinn oder lehnte sich bequemer in den Großvaterstuhl zurück, der unter der wuchtigen Körperlast des stämmigen Himmelbauers ächzte und knarrte. Das war dann der Tochter immer ein willkommener Vorwand, um mit einem „Was?“ oder „Hat der Vater was g’mant?“ die mühselige Leseübung zu unterbrechen, ein Versuch der aber stets mißlang; denn der Vater schenkte ihr doch nicht eine Silbe des Weltblattes und das „dumme Blattl“ war „gar so viel lang“.

Liesl stemmte dann mit einem unterdrückten Seufzer beide Hände unter’s Kinn und die Ellnbogen auf den Tisch, senkte die dunklen Augen wieder auf die Zeitung und las ingrimmig weiter:

„Feu–ers–brunst – in – Con–stan–ti–no–pel“ …

In der Fensternische saß die alte Veronika, eine weitschichtige Anverwandte des Himmelbauers, die dieser bald nach dem bei der Geburt der Tochter erfolgten Tode der Bäuerin zu seiner Unterstützung auf den Hof genommen hatte.

Die alte Veronika, die gleich dem Himmelbauer eine schwere Brille, aber nur eine Hornbrille aufgesetzt hatte, horchte nicht auf die Schreckensnachrichten aus Constantinopel. Die kleinen, tiefliegenden Aeuglein waren fest auf das Gesangbuch gerichtet, das sie, soweit die ausgestreckten Arme reichten, von sich entfernt hielt, und der zahnlose, eingefallene Mund bewegte sich murmelnd:

„O Mutter! voll der Huld und Gnade!
Der Sünder süßer Zufluchtsort!
O Meeresstern! O sich’re Pfade!
Der Scheiternden ihr erster Port!“

Dazu nickte sie und schlug von Zeit zu Zeit andächtig ein Kreuz.

Sonst rührte sich nichts in der warmen Stube; der Ofen surrte und schnurrte behaglich, und draußen wirbelten lustige Schneeflocken vom Himmel zur Erde nieder.

Endlich, endlich neigte das „Weltblatt“ seinem Ende zu – noch eine interessante Mittheilung über das neuerliche Auftauchen der Seeschlange an der australischen Küste – und Liesl hatte es für heute überstanden.

Jetzt las sie noch: „Ge–druckt – bei – Hum–mel in – Wie–n“, denn auch das schenkte ihr der Vater nie; dann sprang sie auf, fuhr sich mit beiden Händen über Augen und Wangen und reichte dem Vater das Zeitungsblatt, das dieser sorgfältig zusammenlegte. Indessen drückte sich Liesl vorsichtig an der alten Veronika vorbei, die noch immer weltvergessen in das Gesangbuch blickte … und husch, war die Dirne aus der Stube.

„Der Wildling!“ sagte der Himmelbauer laut.

„In Ewigkeit, Amen!“ murmelte die Alte, bekreuzigte sich und klappte das Buch zu. „Wer?“ fragte sie dann, die Brille abnehmend.

„Wer? – D’ Liesl!“

Die Alte erhob sich eilig, strich sich die wenigen Strähne grauen Haares zurecht, die unter der Sonntagshaube hervorguckten:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_178.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)