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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Erwerbslosigkeit und Invalidität fehlen; auch Fabrikcassen kommen nur hier und da vor. Der Arbeiter sorgt im Wesentlichen aus eigenen Mitteln für die Zeit der Noth, was ihm leichter als in anderen Ländern, da seine Lage eine bessere, die Löhne höher und die Lebensmittelpreise niedriger sind. Die englischen Hülfscassen fanden in Amerika nur vereinzelt Nachahmung, dagegen bestehen eine Menge von Privatunterstützungsvereinen im Anschlusse an die stark verbreiteten Logen und wohlthätigen Gesellschaften.

In Frankreich gelangte das Genossenschaftswesen nicht zu der hohen Blüthe wie in England. Die ältesten Anstalten zur Fürsorge für Zeiten der Noth sind jene über ganz Frankreich verbreiteten Cassen zur verzinslichen Anlage von Ersparnissen, welche den Unbemittelten in den Stand setzen, sich in dem hochentwickelten von der Natur gesegneten Lande nach und nach zum Capitalisten aufzuschwingen und im Alter die Früchte seines Fleißes zu genießen. Daneben gingen aus den mittelalterlichen Zünften und religiösen Bruderschaften freiwillige, hauptsächlich für die arbeitende Classe bestimmte Hülfsgesellschaften zur gegenseitigen Unterstützung hervor, deren Mittel aus Eintrittsgeldern und Wochenbeiträgen bestehen, und deren Zweck der gleiche ist wie derjenige der englischen Hülfsvereine. Alle diese Gesellschaften entstanden ohne staatliche Mitwirkung als rühmliches Zeugnis eigener Thätigkeit, und wurde das Unternehmen des Einzelnen durch die Wohlthätigkeitsanstalten der verschiedenen Städte unterstützt. Die steigende Bedeutung dieser Gesellschaften erregte selbstverständlich die Aufmerksamkeit der Regierung, und schon im Jahre 1848 befaßte sich die Nationalversammlung mit dem Studium dieser Mittel zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Classen. Unter den verschiedenen Vorschlägen finden wir hier: Verbindung der Alterspensionscassen mit den Kranken- und sonstigen Unterstützungscassen, obligatorische Beitragspflicht der Gemeinden, Provinzen und des Staates zu den Einkünften der Cassen, Beitragspflicht der Arbeiter und Arbeitgeber. Allein die Idee, dem Staate eine bedeutende Mitwirkung an dem wirthschaftlichen Wohle des Einzelnen zur Pflicht zu machen, fand wenig Anklang, und schließlich drang die Anschauung durch, daß man von der Regierung nicht mehr als Schutz und Aufsicht für die Hülfsgesellschaft fordern dürfe. Die Verhandlungen endeten mit der Gründung einer von dem Staate garantirten nationalen Altersversorgungscasse, bei welcher der Grundsatz festgehalten wurde, das Capital der Leibrenten und Pensionen durch freiwillige Beiträge zu bilden. Im Anfange der 1850er Jahre bemühte sich die Gesetzgebung, die Verbreitung der freiwilligen Hülfsgesellschaften zu fördern, und sicherte allen Vereinigungen, welche gewisse Normativvorschriften erfüllten, neben einer Reihe von Rechten und Vortheilen einen gewissen Zuschuss aus Staatsmitteln zu. Hierbei wurde von jedem Gründungszwange abgesehen; nur wo das Bedürniß nach einer Hülfscasse sich herausgestellt hat, soll der Maire und Gemeinderath die Bewohner des Ortes zu eigenem Vorgehen anregen und belehrend wirken, wobei der Staat bereit ist, allen Cassen, welche um ihre Anerkennung bei der Regierung einkommen, zu Begründung einen Beitrag zu gewähren.

Zur Rechtfertigung dieses Vorgehens mag an die Gleichgültigkeit und an die Vorurtheile erinnert werden, welche erfahrungsmäßig den Arbeiter davon abhalten, einer Casse beizutreten, die sich noch nicht bewährt, oder gar eine neue Casse gründen zu helfen. Diesem Uebelstande hilft die staatliche einmalige Unterstützung jedenfalls ab, und hat auch die französische Gesetzgebung das Wachsthum der anerkannten Gesellschaften gefördert, ohne die freien Cassen zu verdrängen. Ein innerer Unterschied zwischen beiden Arten besteht eigentlich nicht; die Verschiedenheiten einzelner Einrichtungen werden allmählich verschwinden und die freien Cassen sich Vortheile der anerkannten Gesellschaften sichern.

Wie oben erwähnt, genießt die 1850 errichtete Altersversorgungscasse zu Paris die Garantie des Staates; sie steht unter Verwaltung der Staatscasse für Depositen und Pfanddarlehen und versichert Leibrenten für ein bestimmtes Alter, daneben Pensionszahlungen im Falle vorzeitiger Erwerbsunfähigkeit durch Verwundung oder Gebrechlichkeit. Die bis heute gewonnenen Resultate beweisen, daß die Versicherungen durch eigne Initiative gering sind im Vergleich zur Zahl der durch die arbeitgebenden Institute vermittelten. Insbesondere sind es die Eisenbahncompagnien, Brücken- und Straßenverwaltungen, die Staatsmanufacturen, welche zu Gunsten ihrer Arbeiter und Beamten die Versicherungscasse benutzen. Die Zahl der jährlichen Einzahlungen beweist eine geringere Betheiligung als bei der staatlichen Sparcasse, welche sechsmal mehr Einlagen empfängt. Der französische Arbeiter legt seine Ersparnisse lieber in den Sparcassen an, von denen er sie in jedem Augenblicke der Bedürftigkeit zurückziehen kann, und diese Erfahrung verwerthen deshalb Manche in Frankreich dadurch, daß sie bei der neuerdings geplanten Errichtung einer allgemeinen Arbeiter-, Alters- und Invaliden-Versorgungscasse an Stelle der Freiwilligkeit nunmehr den Cassenzwang fordern.

In Deutschland sind nur die Cassen, welche ihren Mitgliedern in Krankheitsfällen Unterstützung und ärztliche Hülfe gewähren, zu ausgedehnter Verbreitung gelangt. Das Reichshülfscassengesetz von 1876, welches auf dem Grundsatze des Cassenzwanges beruht, hat es den Gemeinden überlassen, Gesellen, Gehülfen und Fabrikarbeiter zum Eintritt in Krankencassen anzuhalten, beziehentlich solche Zwangscassen für Arbeiter zu errichten, und Normativvorschriften für die Einrichtungen jener Hülfscassen gegeben, durch deren Annahme jede freiwillig errichtete Krankencasse sich die Vortheile der auf Anordnung der Gemeinde entstandenen Casse sichern kann. Hierher gehört namentlich die Befreiung der Mitglieder der Cassenvereine von der Verpflichtung zum Eintritt in eine Zwangscasse. Die Entwicklung der Alters- und Invaliditätsversorgung, der Unterstützung der Wittwen und Waisen der Arbeiter ist fast noch in den ersten Anfängen begriffen, und gingen die einzelnen Versuche von den Arbeitervereinen und ihren Vertretern aus, welche durch Zuhülfenahme privater Versicherungsgesellschaften und Rentenbanken die Zukunft der Arbeiter zu sichern begannen. Die Erfolge sind keine nennenswerthen. Desto größere Beachtung verdienen die Bestrebungen der nach englischem Vorbilde 1869 von Max Hirsch, Franz Duncker und Schulze Delitzsch in's Leben gerufenen, auf dem Boden der Selbsthülfe organisirten Gewerkvereine. Der Zweck dieser Arbeitervereinigungen geht auf Verstärkung der Selbstständigkeit des ganzen Standes, Verbesserung der materiellen und socialen Stellung und läßt sich in dem treffenden Ausspruche zusammenfassen: „Sie wollen den Arbeiter aus Unsicherheit, Abhängigkeit und Verkümmerung emporheben zur Sicherheit, Selbstständigkeit und zur Theilnahme an den Arbeiten, wie an den Segnungen der Cultur: sie wollen dies erreichen nicht durch Gnade von oben, noch durch Revolution von unten, sondern durch das selbstthätige gesetzliche Zusammenwirken der Betheiligten innerhalb ihrer gewerblichen Berufskreise."

Die Mittel zur Erreichung dieser Zwecke sind im Wesentlichen: Regelung der Arbeitsbedingungen, insbesondere Festsetzung eines angemessenen Lohnes, Errichtung freier Kranken-, Begräbniß-, Altersversorgungs- und Invalidencassen, Organisation der Hülfscassen, Unterstützung arbeitsloser Mitglieder, Vermittelung der Arbeit, Gewährung unentgeltlichen Rechtsschutzes durch Führung der Processe auf Vereinskosten, Förderung der allgemeinen und gewerblichen Bildung durch Volksbibliotheken und Schriften, Vertretung der Mitglieder gegenüber den Arbeitgebern, dem Publicum und den Behörden etc. Auf diesem Felde segensreicher Thätigkeit sind für uns die Hülfscassen der Gewerkvereine, die bereits 1874 — fünf Jahre nach ihrer Gründung — in mehr als 800 Ortscassen (Kranken-, Begräbniß- und Invalidencasse) bei 42,000 Mitgliedern eine Einnahme von 347,671 Mark, eine Ausgabe von 239,677 Mark und einen Vermögensbestand von 296,627 Mark nachweisen, von besonderem Interesse. Trotz aller Schwierigkeiten gelang es den Gewerkvereinen, neben der Krankenunterstützung nationale Invalidencassen in's Leben zu rufen, und es entstanden die „Verbandscasse der Invaliden der Arbeit“ und die „Invalidencasse des Gewerkvereins der Maschinenbauer und Metallarbeiter“, welche zusammen gegenwärtig circa 12,000 Mitglieder zählen und gegen monatliche Beiträge von 40, 60, 80 und 120 Pfennig Invaliden- und Alterspensionen von monatlich 18 bis 27 Mark an ihre Mitglieder entrichten.

Verglichen mit den englischen Gewerkvereinen und deren Erfolgen, ist die Ausdehnung der deutschen Vereine allerdings eine geringe, jedoch macht sich in ihnen eine stets fortschreitende Bewegung wahrnehmbar, welche den Beweis liefert, daß auch in Deutschland denkende Arbeiter im Stande sind, aus eigner Kraft ihre Zukunft zu sichern. In den letzten Wochen hat die Thätigkeit der Vorstände eine neue Blüthe zum Wohle des Arbeiterstandes gezeitigt und der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_119.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)