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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

empfohlene, welche „aus den Erfahrungen der Equitable Society, der Norwich Union und einiger anderer Gesellschaften authentischen Daten“ gebildet worden war, wobei man, um sie den deutschen Verhältnissen noch besser anzupassen, die Sterblichkeitsziffern in den höheren Altersclassen noch vergrößerte.

Diese Maßregel machte eine außergewöhnliche Vermehrung des Reservefonds nothwendig, führte infolgedessen aber auch zu einer vorübergehenden Verminderung der Dividende. Es war im Directorium ein Sieg der Vorsicht und strengsten Gewissenhaftigkeit über kluge Geschäftspolitik. Aber selbst ergebenste Freunde und Agenten der Anstalt wurden dadurch wankend, zum klarsten Beweis, wie sehr in Geldsachen die Gemüthlichkeit aufhört.

Die schlimmsten Feinde aller Lebensversicherungen gebar die Zeit selbst: 1847 Mißwachs und Theuerung, 1848 Revolution und Gewerbsstockung, 1849 Krieg und Cholera und in den kommenden Jahren das Gefolge aller dieser Uebel: vermehrte Verarmung und Auswanderung. Jetzt hatte man es der so vielgeschmähten Reserve-Sicherung zu verdanken, daß die Gesellschaft fest stand und sogar beschließen konnte, daß der Tod im Dienste der Bürgerwehr die Zahlungspflicht der Anstalt nicht aufhebe, daß sie die Bedingungen wegen Theilnahme an kriegerischen Expeditionen milderte und selbst den Erben eines Hingerichteten – Robert Blum’s! – allerdings nicht ohne starkes Kopfschütteln aller Reactionäre, die volle Versicherungssumme gewährte; auch die Dividendenzahlungen gewannen bald wieder eine befriedigende Höhe.

Neue Statuten, welche 1856 veröffentlicht wurden, gewährten den Versicherten die Vergünstigung, daß mit erfülltem 85. Lebensjahre nicht blos die Beitragszahlung aufzuhören hatte, sondern auch die Auszahlung der versicherten Summe gefordert werden konnte. Die niedrigste zulässige Versicherungssumme war auf 100 Thaler, die höchste auf 10,000 Thaler festgesetzt und damit der Wirkungskreis der Gesellschaft nach unten und oben erweitert worden.

Von 1853 bis 1857 war die Zahl der deutschen Lebensversicherungs-Anstalten von 9 auf 19 angewachsen. Leider ergab sich in kurzer Zeit ein Theil dieses Zuwachses als der Erfolg eines Industrialismus, der mit Aufwendung verwerflicher Mittel und der Herbeiziehung unsauberer Elemente in den Dienst des Lebensversicherungswesens diesem einen selbst noch heute nicht ganz geheilten Schaden brachte; denn das durch zudringlichste Ueberredung, Täuschungen und unerfüllbare Versprechungen zu Versicherungen herbeigelockte Publicum warf sein gerechtes Mißtrauen auf das gesammte Lebensversicherungswesen. Die soliden Anstalten hatten Jahre lang zu thun, um sich in den Augen des Publicums die Achtung und das Vertrauen wieder zu erwerben, um das sie alle durch dieses Unheil gekommen waren.

Zu diesem Mißwesen mußte sich noch Unsicherheit der öffentlichen Zustände, Cholera, Typhus und Grippe gesellen, um das Aufblühen aller deutschen Anstalten möglichst zu hemmen. Da sich jedoch das Sterblichkeitsverhältniß für die Leipziger Gesellschaft dennoch günstig gestaltete, so konnte dieselbe 1855 das erste Vierteljahrhundert ihres Bestehens damit feiern, daß sie die Dividende von 5 % auf 19 % erhöhte. Ihr Vermögen betrug in diesem Augenblicke über anderthalb Millionen Thaler.

Auch der Abgang von Mitgliedern bei Lebenszeit, von dem wir noch nicht gesprochen, hatte sich gegen früher sehr gemindert. Nach einem schon 1832 von der Leipziger Anstalt gefaßten Beschlusse ward nämlich Mitgliedern, welche zwei Jahresbeiträge gezahlt haben, beim Aufgeben der Versicherung der dritte Theil ihrer sämmtlichen Prämien-Einzahlungen zurück erstattet. Da zu einem solchen Schritte einen Familienvater sicherlich nur die äußerste Noth drängt, so ist die Zahl der zu einer Zeit aufgegebenen Versicherungen ein ziemlich genauer Gradmesser des wirthschaftlichen Volkszustandes.

Eine wichtige Frage wird in dieser Zeit zuerst aufgeworfen, die Frage nämlich: „darf eine Versicherungssumme durch Beschlagnahme ihrem eigentlichen Zwecke, der Versorgung der Hinterbliebenen, entzogen werden?“ Sie harrt ihrer Lösung durch das in Aussicht stehende Allgemeine deutsche Civilgesetzbuch.

Am 2. December 1861 starb, 72 Jahre alt, der Gründer der Gesellschaft, Olearius. Er konnte von seinem Sterbebette auf die dreißig Jahre der Pflege seiner Schöpfung mit dem erhebenden Gefühle zurückblicken, daß durch sie Tausenden von Wittwen und Waisen die Thränen der Sorge und der Noth getrocknet worden seien; denn weit über drei Millionen Thaler sind an die Hinterbliebenen durch seine Hand gegangen. Das Andenken, das er sich gesichert hat, ist der beneidenswertheste Lohn seines stillens Wirkens.

Zum innern Ausbau der Leipziger Anstalt gehört die, im Jahre 1865, erfolgte Herbeiziehung von Vertrauensärzten der Gesellschaft bei allen Versicherungsanträgen. Als Unterschied zwischen den Sterblichkeitsverhältnissen in den Zeiten vor und nach derselben ergiebt sich für die Jahre von 1831 bis 1864 eine Uebersterblichkeit von 166 Personen mit einer Versicherungssumme von 475,943 Mark, und von 1865 bis 1879 eine Untersterblichkeit von 387 Personen mit 3,634,369 Mark Versicherungsbetrag. Nach solchen Erfahrungen darf man es freilich nicht tadeln, wenn die Lebensversicherungs-Anstalten die genaueste ärztliche Untersuchung der aufzunehmenden Personen verlangen und diejenigen ausschließen, welche nicht vollständig gesund sind. Günstige Sterblichkeitsverhältnisse sind die Vorbedingung billiger Versicherungsbeiträge, und wenn man diese will, darf man nicht beanspruchen, daß die Anstalten diejenige Vorsicht außer Acht lassen, die nach ihren bisherigen Erfahrungen unerläßlich erscheint.

Dem damals glücklichen Laufe des Emporblühens der meisten Lebensversicherungs-Gesellschaften warf das Jahr 1866 einen zwar kurzen Krieg, aber mit langandauernden Folgen entgegen: Cholera, Geschäftsstockungen, Nahrungslosigkeit und Theuerung der nöthigsten Lebensbedürfnisse zehrten mächtig an den Beständen auch der Leipziger Anstalt. Aber gerade in dieser harten Zeit erwiesen sich die Lebensversicherungs-Anstalten als Retterinnen in vieler Noth, und die Leipziger Gesellschaft bethätigte ihre Humanitätsgrundsätze ehrenhaft dadurch, daß sie in dem Kriegs- und Cholerajahr 1866 vor der Statutenfrist über 132,000 Thaler an die Erben Versicherter auszahlte.

Im Jahre 1869, zu Anfang April, trat eine sehr wichtige und erfolgreiche Einrichtung der Leipziger Anstalt in’s Leben: die Cautionsdarlehns-Gewährung an Beamte. Diese Einrichtung war für Tausende eine höchst segenvolle; denn sie heilte eine der schwersten Wunde der bürgerlichen Gesellschaft. Die große Masse des mittleren Beamtenstandes in allen Regierungs- und Verwaltungszweigen recrutirt sich, wie allbekannt, allermeist aus den Volkskreisen, die von der Hand in den Mund leben. Wenn nun von einem Angehörigen dieser Kreise zur Erlangung einer Anstellung eine Caution als erste Bedingung derselben gefordert wird – wie und wo waren bisher und sind zum Theil noch die Wege, auf welchen er die nöthige Summe sich einzig beschaffen konnte? Er mußte mit dem ersten Schritt in’s Amt sich in Schulden stürzen, und durfte Gott danken, wenn ein redlicher Gönner, ein ehrlicher Freund ihm die nöthige Summe vorstreckte. Wie viele solcher Cautionspflichtigen aber Wucherern in die Hände fielen, wie oft Beamten-Untreue als Folge unerträglicher Noth und des Familienelends daraus erwachsen ist, darüber geben die Criminal-Acten erschütternde Auskunft. Hier trat die Versicherungs-Anstalt als Retter eines ganzen zahlreichen Standes auf, indem sie den in ihre Mitgliedschaft aufgenommenen Beamten die zur Caution nöthigen Darlehen zu möglichst wenig drückenden Bedingungen darbot und sogar deren allmähliche Abzahlung sogleich mit festsetzte. Für ein solches Unternehmen fehlte es weder an sofortigem Verständniß, noch an Theilnahme, und so hat die Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft das Resultat erzielt, daß sie von 1869 bis Ende 1879 nicht weniger als 4505 Cautionsdarlehen an 3681 Beamte im Gesammtbetrag von 4,650,680 Mark auszuleihen hatten.

Da auch viele andere Lebensversicherungs-Gesellschaften diese neue Versicherungs-Wohlthat in ihren Geschäftskreis gezogen haben, so ist die möglichst allgemeine Kenntniß von der Einrichtung, den Einzelbestimmungen und Verpflichtungen zur Sicherung von Gesellschaften und Theilnehmern für den Beamtenstand eine Nothwendigkeit, und deshalb nennen wir hier das diesem Zweck dienende Schriftchen: „Das Beamten-Cautionsdarlehen. Einrichtung und zehnjährige Erfahrungen. Leipzig 1880.“

Noch nie hatten die deutschen Lebensversicherungs-Gesellschaften sich einer gedeihlicheren Entwickelung zu erfreuen gehabt, als mit dem Beginn des Jahres 1870; bei der Leipziger zeigte schon im ersten Halbjahr der Zugang an Versicherten sich größer, als bisher in ganzen Jahren. Da kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel der Krieg gegen Frankreich, natürlich wiederum mit den üblichen Folgen des Kriegs für alle Unternehmungen des öffentlichen Vertrauens,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_038.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)