Seite:Die Gartenlaube (1881) 009.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Ausdehnung der psychopathischen Constitution, aber die bereits erfolgte Inficirung unserer Jugend Aufschluß zu ertheilen. In den meisten dieser Fälle kommt ja die Krankheit aus den bereits angegebenen Gründen während der Schulzeit nicht zum Ausbruch. Die gegebene Schädlichkeit hat dann aber doch die Bedeutung, daß sie den Boden für die volle Wirkung späterer Schädlichkeiten, anderer nachtheiligen Einflüsse auf die geistige Gesundheit in den späteren Lebensjahren ebnet.

Daß nun auf den höheren Lehranstalten wirklich eine Ueberbürdung unserer Jugend stattfindet, ist wohl kaum zu bestreiten.

Die Stundenpläne der norddeutschen höheren Lehranstalten weisen nach, daß beispielsweise der Gymnasiast in Secunda und Prima sechsunddreißig Stunden dem eigentlichen Schulunterrichte, und vier Stunden pro Tag, ausgenommen den Sonntag, der häuslichen Arbeit zu widmen hat. Dies beträgt pro Woche sechszig Arbeitsstunden, und da behauptet man, von einer Ueberbürdung könne keine Rede sein. Wo bleibt denn die ebenso nothwendige Zeit für die körperliche Entwickelung? Geben etwa die Viertelstunden Pause zwischen den einzelnen Stunden und die Wege von und nach der Schule den nöthigen Ersatz?

So oft hört man in der täglichen Unterhaltung über die Ueberbürdungsfrage von gegnerischer Seite erwidern, daß wir, die Eltern, in unserer Jugend ebenso viel gearbeitet hätten und ebenso viel angestrengt worden wären, wie die heutige Jugend, und doch gesund geblieben wären. Die, welche dies behaupten, befinden sich in einem gewaltigen Irrthume. Einmal war damals die Controlle des Lehrers über den Schüler eine weniger scharfe als heute, wo der Junge aus dem Versetzungsfieber von Halbjahr zu Halbjahr gar nicht herauskommt; ferner war die Zahl der eigentlichen Fachlehrer, meist in der Pädagogik noch unerfahrener junger Leute, die das Maß ihrer Aufgaben zu unterschätzen geneigt sind, zu jener Zeit eine viel geringere. Die Fortschritte auf allen Gebieten des Wissens haben selbstverständlich auch vermehrte Anforderungen an die Jugend gestellt. Doch zugegeben, wir hätten dieselben Aufgaben zu lösen und dieselben Anstrengungen zu machen gehabt, ein Unterschied ist da, und dieser allein ist ausschlaggebend für die behauptete Ueberbürdung. Wir bildeten zu jener Zeit eine von gesunden und kräftigen Eltern erzeugte, an Geist und Körper frische Schaar, die erst in späteren Jahren, den Einflüssen einer über Alles aufgeregten Zeit weichend, diese ihre ursprüngliche Frische und Widerstandsfähigkeit zum Theil eingebüßt hat. Heutzutage aber ergehen dieselben Anforderungen an eine Generation, welche jenes schöne Erbtheil nicht mitgebracht hat, im Gegentheil psychopathisch belastet ist.

Ein weiterer Beweis für die Ueberbürdung liegt in der Zunahme der Kurzsichtigkeit unserer Jugend auf den höheren Lehranstalten. Diese Zunahme steht in geradem Verhältnisse zu der Mehrforderung in Prima und Secunda gegen die Anforderungen in den unteren Classen.

Gegen eine solche Gefahr der Ueberbürdung muß mit radical wirkenden Mitteln vorgegangen werden. Und eine volle Wirkung scheint mir nur dann möglich, wenn die Arbeit getheilt, wenn mit Rücksicht auf die krankhafte Disposition unserer Jugend, auf den Mangel an Gleichgewicht der verschiedenen geistigen Factoren dieser Einseitigkeit Rechnung getragen wird und durch Gewährung gleichen Lichtes, gleicher Luft und Wärme in verschiedenen Schulen, mit verschiedenen Lehrzielen, aber selbstverständlich mit gleicher Berechtigung, die einzelnen Anlagen und Fähigkeiten zur Entwickelung und Geltung gelangen können.

Es erscheint mir zweitens dringend geboten, daß die einzelnen Lehrziele aus unseren Gymnasien, überhaupt allen höheren Lehranstalten, nicht unwesentlich herabgedrückt werden, und daß endlich drittens auf allen diesen Anstalten eine größere Sorgfalt auf die körperliche Entwickelung durch Einführung obligatorischer, regelmäßiger und unter Aufsicht stehender Spiele und gymnastischer Uebungen verwandt werde.

Ob es rathsam erscheint, die Erziehung zur Arbeit in ähnlicher Weise, wie sie von dem bekannten Rittmeister a. D. Elauson Kaas zu Kopenhagen in Gestalt von „Hausfleißgesellschaften“ oder von „Lern- und Arbeitsschulen“ zur Vorbildung der niederen und mittleren Volksclassen (siehe „Gartenlaube“, Jahrgang 1880, Nr. 4, „Die Erziehung zur Arbeit, eine Forderung des Lebens an die Schule“ von Karl Biedermann) eingeführt ist, auch auf die Gymnasien und höheren Mädchenschulen in Anwendung zu bringen, um durch zweckmäßige Abwechselung zwischen der einseitigen Anstrengung des Gehirns und einer Uebung der änßeren Organe die vorzeitige geistige Ermüdung der Kinder zu verhüten, darüber läßt sich zur Zeit wegen Mangels an Erfahrung nichts Bestimmtes sagen.

Daß eine zweckmäßige Uebung der äußeren Organe an und für sich als Gegengewicht gegen die einseitige Anstrengung des Gehirns Vorzügliches leisten muß, liegt auf der Hand. Selbstverständlich ließe sich denn auch annehmen, daß die Einführung derartiger Handarbeiten, wie Tischlerei, Drechslerei, Laubsägen u. dergl. m., in hohem Grade entlastend auf die hier so sehr in Anspruch genommene Jugend wirken müsse und in dieser in ungleich höherem Maße, als in den Elementar-, den Volks- und Bürgerschulen, wo die Ansprüche an die geistige Leistungsfähigkeit viel geringer sind, viel kürzere Zeit dauern und meist schon zu einer Zeit aufhören, wo der schädliche Einfluß einer allzu einseitigen geistigen Arbeit auf das Gehirn sich erst zu äußern beginnt, also mit dem vierzehnten, fünfzehnten und sechszehnten Lebensjahre.

Die Heranziehung unserer Jugend auf den höheren Lehranstalten zu körperlich mechanischen Arbeiten obengenannter Art würde auch den großen Vortheil für sich haben, daß die jungen Leute, welche erfahrungsgemäß im späteren Leben sich größtentheils als sehr unpraktisch erweisen, zunächst den Werth solcher Arbeiten bei Zeiten beurtheilen lernen, dann aber auch eine Fertigkeit in Handarbeiten sich aneignen, welche nicht allein materiell nützlich, sondern auch bildend, erziehend und läuternd auf die Richtung ihrer geistigen Bestrebungen einwirkt.

Sodann darf aber auch, abgesehen von Bedenken anderer Art, nicht vergessen werden, daß es sich bei der Jugend auf den höheren Lehranstalten in erster Linie um einen Ausgleich im Körperlichen handelt, welcher nicht in dem Grade bei der Hobelbank zu finden ist, wie beim Spiel in frischer, freier Lust.

Die vielfach laut gewordene Befürchtung, daß, wenn alle vorhin genannten Bedingungen erfüllt würden, das ganze Niveau unserer Bildung um eine Stufe niedriger zu liegen käme, scheint mir eine unberechtigte. Im Gegentheil würde begründete Aussicht vorhanden sein, daß das Leistungsniveau unserer Jugend sich wieder höbe. Ich will die humanistischen Gymnasien erhalten wissen, so, wie sie sind, unter der Voraussetzung, daß zur Entlastung von Arbeit ein Unterrichtsgegenstand, aber nicht eine der alten Sprachen fallen gelassen und auf die naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächer kein besonderer Nachdruck gelegt wird. Auf der andern Seite soll aber auch den jungen Leuten, welche mehr Begabung und Neigung zu den naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächern zeigen, Gelegenheit gegeben werden, durch richtige Anordnung des Lehrstoffes dieselbe geistige Bildung zu erreichen, wie auf den humanistischen Gymnasien. Dies kann meiner Ansicht nach dadurch erreicht werden, daß die heute bestehenden Realschulen erster Ordnung, wie dies schon der Fall, eine alte Sprache, und zwar die griechische, vollständig ausschließen, im Uebrigen aber ihren Accent auf die naturwissenschaftlichen Fächer und die neueren Sprachen legen. Das Wissen würde allerdings an Breite verlieren, aber an Tiefe gewinnen, an Tiefe, die allein Freudigkeit zur Arbeit schafft. Die Jugend würde mehr geschont und ihre Leistung im Leben eine größere werden.



Die Gebrüder Grimm und der Minister Hassenpflug.
Nach kurhessischen Erinnerungen und Meusebach’schen Papieren.
Von Karl Braun-Wiesbaden.

Als ich vor etwa vierzig Jahren die Universität Göttingen bezog, war dort noch Allen der Verfassungsbruch, welchen der König Ernst August am 1. November 1837 begangen, in lebhaftem Gedächtniß. Das Schicksal der sieben Professoren, welche gegen den Verfassungsbruch protestirt, in Folge dessen ihre akademischen Aemter verloren hatten und aus der Stadt getrieben worden

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_009.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)