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verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

„romantischen Schule“ neben dem hellen Lichte tiefer Schatten.

Trotz all’ ihrer unleugbaren Verdienste ist der Romantik nicht mit Unrecht Mangel an Gestaltungskraft, eine gewisse nebelhafte Verschwommenheit zum Vorwurf gemacht worden, vor allem aber die mystische, mittelalterliche Weltauffassung, welche sie an die Stelle der klaren, geistig-freien der classischen Periode zu setzen suchte.

Auch der Dichter, dessen hundertsten Geburtstag die deutsche Literatur im ersten Monat dieses Jahres[1] feiert, hängt in seinen literarischen Anfängen eng zusammen mit den dichterischen Bestrebungen und geistigen Zielpunkten der romantischen Schule, aber sein gesunder Sinn hat sich frühzeitig losgesagt von den „mondbeglänzten“ Irrgärten der Tieck’s und Schlegel’s, der de la Motte Fouqué’s und Brentano’s.

War Chamisso’s um das Jahr 1813 verfaßtes, wundersam phantastisches Märchen „Peter Schlemihl“ nach Art und Anlage noch durchaus romantisch, so machte sich der Dichter von nun ab mehr und mehr von jener Richtung frei, um fortan völlig eigene Bahnen zu wandeln. Von seinen romantischen Erstlingen, auf die er später mit Lächeln zurückschaute, hat er fast nichts in seine Gedichtsammlung aufgenommen: der Chamisso, den wir kennen und lieben, zeigt wohl einzelne romantische Spuren, wie besonders in der Aneignung fremder Stoffe und Formen, in der Hauptsache aber hat er mit den Romantikern nichts gemein, ja, er steht in entschiedenem Gegensatze zu ihnen. Bei ihm ist nichts Unklares und Verschwommenes: scharf und bestimmt tritt er uns entgegen. Nicht der nebelhaften Vergangenheit, der „romantischen Zaubernacht“ ist er zugewandt, sondern dem lichten Tage, der hellen, lebendigen Gegenwart, und während Jene aus der realen Wirklichkeit gern sich hinausretten in das Reich der Poesie und ihrer erträumten Ideale, tritt er fest und mannhaft mitten hinein in den Kampf des Lebens, eine von jenen ganz verschiedene, durchaus eigenartige Dichternatur.

Adelbert von Chamisso wurde in den letzten Tagen des Januar 1781 auf Schloß Boncourt in der Champagne aus einem altfranzösischen Adelsgeschlechte geboren. Umgeben von dem Glanze, den sein Stand mit sich brachte, wuchs hier der Knabe auf, bis die Revolution eine jähe Wendung der Verhältnisse herbeiführte.

In ihren Stürmen sank das Schloß Boncourt in Trümmer; es wurde dem Boden gleich gemacht, und nur die Erinnerung blieb dem Dichter. „Nach manchen Irrfahrten durch die Niederlande, Holland, Deutschland und nach manchem erduldeten Elend“, wie seine eigenen Worte lauten, kam Chamisso, dessen Eltern gleich vielen Leidensgenossen (1790) ihr Vaterland verlassen hatten, nach Berlin. Zunächst Page bei der Königin, dann Fähnrich und später Lieutenant, blieb er auch, als seine Eltern nach der Beendigung der Revolution nach Frankreich zurückkehrten, in Berlin; das für Preußen so unglückliche Jahr 1806 gab seinem Leben eine neue Wendung.

Nach der schmachvollen Uebergabe von Hameln, die er blutenden Herzens hatte mitmachen müssen, nahm er seinen Abschied und ging nach Frankreich zurück. Damit beginnt für ihn eine Zeit unruhigen Wanderns und Hin- und Herschwankens: ruhelos sehen wir den Dichter bald in seinem Geburtslande, bald wieder in seiner neuen Heimath; in jenem fühlte er trotz mancher verwandtschaftlichen und anderen Beziehungen, zumal seit die Eltern gestorben, sich nicht mehr heimisch, doch auch in dieser fand er, so sehr sein Herz ihr und seinen dortigen Freunden entgegenschlug, „ohne Stand und Geschäft“, wie er war, noch keine rechte Befriedigung, bis er seit dem Frühjahr 1812 seinen schon in Frankreich begonnenen naturwissenschaftlichen Studien mit größtem Eifer sich zuwandte. Seine „liebe Botanik“ vor Allem half ihm auch einigermaßen über die für ihn so peinliche Zeit der begeisterten Erhebung Deutschlands gegen Frankreich hinweg, und als wahre Erlösung aus den drückenden Verhältnissen begrüßte er freudig die Gelegenheit, die von dem russischen Reichskanzler, Grafen Romanzoff, ausgerüstete Expedition „in die Südsee und um die Welt“ als Naturforscher mitzumachen.

Mit dieser drei Jahre (1815 bis 1818) dauernden Reise beschloß Chamisso seine Wanderjahre, und sein weiteres Leben floß ruhig dahin. Bald nach seiner Rückkehr fand er endlich eine sichere, ehrenvolle Anstellung als Custos des botanischen Gartens in Berlin und überdies eine liebende Gattin und ein trautes Heim; glücklich im Kreise seiner Familie und Freunde hat er seitdem, mit mancherlei Ehren und Würden bedacht, dort ruhig der Wissenschaft und der Poesie gelebt, bis er am 21. August 1837 seiner fünfzehn Monate vor ihm heimgegangenen Gattin folgte.

Auf Chamisso’s wissenschaftliche Leistungen als Natur- und Sprachforscher einzugehen ist hier nicht der Ort; es genüge zu bemerken, daß dieselben ihre gebührende Anerkennung längst gefunden. Nur auf sein höchst interessantes Reisetagebuch sei kurz hingewiesen. Von ungleich größerer Bedeutung als der Gelehrte ist für unser ganzes Volk Chamisso der Dichter.

Kraft und Zartheit reichen sich in dem poetischen Schaffen Chamisso’s die Hand. In seinen Liedern kommt besonders die weibliche Seite seines Wesens zur Geltung. Wenige Erzeugnisse ähnlicher Art in unserer ganzen reichen Literatur zeigen eine solche wunderbare Einfachheit und Innigkeit, wie Chamisso’s „Frauenliebe und Leben“; wenige gehen so zum Herzen, und gerade zum deutschen Herzen, wie sie. Welches deutsche Mädchen hätte nicht das „Seit ich ihn gesehen, glaub’ ich blind zu sein“, oder das „Ich kann’s nicht fassen, nicht glauben“ mit selig pochendem Herzen nachgefühlt und nachgesprochen, welche Jungfrau nicht, gleich der Braut in jenen Gedichten, das „goldene Ringelein“ an die Lippen und an’s Herz gedrückt! Schildert uns hier der Dichter Glück und Schmerz eines liebenden Frauenherzens, so sehen wir in den „Thränen“ die Verzweiflung einer Armen, die, ihrer stillen Neigung zuwider, dem Ungeliebten die Hand reichen muß. Wie alle diese Dichtungen, wie ferner die Lieder, die der Dichter an seines Sohnes Wiege sang, so sind auch die meisten übrigen lyrischen Gedichte Chamisso’s so ganz deutsch nach Form und Inhalt, daß wahrlich Niemand in ihrem Verfasser den geborenen Franzosen vermuthen sollte. Deutsch ist ihr schwermüthiger Schmerz, der statt heiterer Blumen „vier Bretter auch nicht schlecht“ findet; deutsch ist das herzerquickende „Nur frisch, nur frisch gesungen, und Alles wird wieder gut“, echt deutsch das prächtige Lied „Der Frühling ist kommen, die Erde erwacht“, das wie fröhlicher Lerchenjubel klingt über grünenden Saaten.

Weitaus das schönste aller seiner Lieder dürfte aber „Schloß Boncourt“ sein. Es ist zugleich in mehrfacher Hinsicht für ihn selbst sehr bezeichnend. In dem „greisen“ Sänger steigt die Erinnerung auf an seine glückliche Kinderzeit: er sieht im Geiste das stolze Schloß seiner Ahnen mit seinen Thürmen und Zinnen, sieht all die lieben altbekannten Plätze –

„So stehst du, o Schloß meiner Väter,
Mir treu und fest in dem Sinn
Und bist von der Erde verschwunden –
Der Pflug geht über dich hin.“

Aber trotz der wehmüthigen Erinnerung an jene Zeit, die er mit all ihrem Glanze hat zu Grabe gehen sehen, trotz der leisen Trauer um das, was er selbst mit ihr verloren, segnet der Dichter voll Rührung und edler Milde den theuren Boden, daß er fruchtbar sein möge, segnet er zwiefach den Pflüger, der über die Stätte hin seine Furchen zieht. Hier zeigt sich so recht des Dichters großes, edles Herz; hier sehen wir auch, wie er, der gleichsam aus der alten Zeit in die neue herüberragt, dieser neuen, statt ihr zu zürnen, mit festem Blick und offenen Sinnes zugewandt ist, wie er dann sein tiefes Verständniß für das ruhige Fortschreiten der weltgeschichtlichen Entwickelung auch in seinem schönen Gedichte „Der alte Sänger“ deutlich kund giebt.

Dieses Gedicht führt uns zu den Balladen und poetischen Erzählungen. Trat uns in der Lyrik mehr Chamisso’s tiefes Gemüth und die zarte, oft fast weibliche Seite seines Wesens entgegen, so zeigt er sich hier vor Allem als ein männlich ernster, scharf ausgeprägter Charakter. Wir sehen in Chamisso einen Mann, der das Leben packt und mit besonderer Vorliebe gerade an seiner rauhen, ernsten Seite packt, seine Schattenseiten mehr als seine Lichtseiten sucht und poetisch zur Anschauung bringt. Ernst, ja fast düster sind viele seiner Gedichte. Ohne Zweifel hat Chamisso’s

  1. Mit völliger Gewißheit läßt sich der Geburtstag nicht feststellen; am meisten Wahrscheinlichkeit hat der 30. für sich, welches Datum auch des Dichters Grabstein trägt. Nach einer Mittheilung seines in Berlin lebenden Sohnes, der mit dankenswerther Freundlichkeit dem Verfasser auf einige Anfragen Bescheid ertheilte, giebt Chamisso selbst in einem französischen Briefe an seine Verwandten in Paris den 20. Januar als seinen Geburtstag an, während er in seinem Reisetagebuche erwähnt, daß am 31. (1816) an Bord des „Rurik“ sein „Geburtstag oder vielmehr Tauftag“ gefeiert worden sei, und dazu die humoristische Bemerkung macht: „Wann und ob ich überhaupt geboren, ist im Documente nicht verzeichnet; Zeugen sind nicht mehr zu beschaffen, und es streitet nur die Wahrscheinlichkeit dafür.“ – (Wie Karl Fulda in seinem soeben erschienenen sehr beachtenswerthen Buche: „Chamisso und seine Zeit“ (Leipzig 1881) berichtet, war der genannte Brief an Adelbert’s Bruder Hippolyt gerichtet, in welchem Werke sich überdies höchst interessante neue Mittheilungen aus dem Leben Chamisso’s befinden. D. Red.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 006. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_006.jpg&oldid=- (Version vom 16.6.2023)