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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

wenig zusammen, aber außer Fassung gerieth sie nicht. Sie wandte schwerfällig den Kopf auf dem fleischigen Halse und sah den Fremden aus schmalgeschlitzten, blauen Aeuglein von oben bis unten groß an.

„Wie kommen Sie mir denn vor?“ sagte sie trocken. „Ich bin eine ehrbare Frau, und noch lange nicht ,meine kleine Dame’ für einen Jeden, der dahergeschlichen kommt wie der Ratz vom Taubenhaus.“

Er unterdrückte ein Lächeln und sagte mit empörendem Gleichmuth: „Protestiren Sie, so viel Sie wollen – es hilft Ihnen doch nichts. ,Meine kleine Dame’ wird mir in dieser Stunde noch eine Tasse Kaffee serviren und heute Abend eine gute Omelette backen; ,meine kleine Dame’ wird mir für ein anständiges Nachtquartier sorgen und mäuschenstill sein, wenn ich im Hirschwinkel thue, als sei ich zu Hause –“

„Ach herrje – der Spaß! Sie sind Herr Markus!“ lachte sie überrascht auf, aus ihrer Ruhe aber brachte sie die unerwartete Ankunft des „neuen Herrn“ trotzdem nicht. „Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt? … Kommen Sie denn endlich aus Ihrer alten, märkischen Sandbüchse und sehen sich das gottgesegnete Fleckchen Erdboden an, das Ihnen der liebe Herrgott nur so in den Schooß geworfen hat? Na, und was sagen Sie denn dazu? Haben Sie solchen Wald, solche Wiesen, solche Berge schon einmal in Ihrem Leben gesehen? … ’s ist hohe Zeit, daß Sie kommen, Herr Markus, hohe Zeit! Ueber unseren Köpfen pfeifen die Mäuse in Heerschaaren und die Mottenwolken will ich sehen, die aus den Wollstrümpfen und Unterjacken der sel’gen Frau Oberforstmeisterin auffliegen, wenn das Nest endlich aufgemacht wird.“

Währenddem entfernte sich das freigelassene Mädchen in stürmischer Eile. Herr Markus sah ihr über Frau Griebel’s Kopf hinweg nach. Dort, wo sie ging, lag der Fahrweg bereits im hellen Sonnenschein. Rechts säumte ihn das Wiesengrün, und auf der entgegengesetzten Seite trat das Walddickicht weit auseinander; wie Alleebäume reihten sich die Buchen hin und warfen da und dort Schlagschatten über den Weg, der in scharfer Krümmung nach links einbog.

„Liegt in der Richtung dort der Hirschwinkel?“ fragte Herr Markus und zeigte nach einer vereinzelten Baumgruppe, hinter welcher das Mädchen eben verschwand. Noch einmal bei der Wegbiegung hatte sich ihre Gestalt in scharfer Profilstellung vom Hintergrunde abgehoben, seltsam fremdartig, weit mehr die Erscheinung einer schlanken, braunen Fellahtochter vom Nilufer, als die eines stämmigen Thüringer Waldkindes.

„O herrje, wie närrisch Sie fragen!“ lachte Frau Griebel. „Sie stehen ja mitten drin im Hirschwinkel und gehen schon seit einer reichlichen halben Stunde auf Ihrem eigenen Grunde und Boden. Und dort zwischen den Bäumen können Sie auch schon die Hintergebäude vom Gute sehen. – Von Kaffee sprachen Sie vorhin, Herr Markus? Na, Sie sollen einen Kaffee bei der Griebel trinken, der seines Gleichen sucht. Gehen Sie nur einstweilen weiter auf dem schön trockenen Wege da – immer der Nase nach! Sie können gar nicht fehl gehen. Ich schlüpfe unterdessen hinten ’rum, durch den Hof in die Küche – muß doch sehen, ob die Magd kochendes Wasser hat.“

Es war nun zwar kein „Schlüpfen“, mit welchem sich die kleine Dicke seitwärts durch die knackenden Büsche schlug, aber sie kam doch flink vorwärts und war sehr schnell den Blicken des Weiterschreitenden entschwunden.

Das Gutshaus war ein völlig schmuckloser Bau, ein altes Haus, mit hochragendem Dache, und an der Giebelwand, nach der Wetterseite hin, mit Schiefer wohlverwahrt und beschlagen. Sonst einförmig weiß angestrichen, hatte es als einzige Unterbrechung inmitten seiner casernenartigen Façade nur einen Erker, der vom Fundamente bis unter das Dach so voll und dicht mit Waldepheu bewachsen war, daß die Fenster in seinen drei Wänden vertieft wie Schießscharten erschienen. Drunten hatte das einsam gelegene Haus grüne Sicherheitsläden, im oberen Stocke aber hingen nur gleichmäßig weiße, mit groben, gehäkelten Kanten besetzte Shirtingrouleaux hinter den sichtlich verstaubten Scheiben.

In der weiten, das ganze Gehöft abschließenden Umfassungsmauer, die das Haus zu beiden Seiten flankirte, befand sich rechts der Eingang, eine schöne, massive Doppelthür mit glänzend polirtem Messinggriffe; zur Linken dagegen lief sie ohne Unterbrechung in die Ecke aus, auf welcher ein hölzerner, grünumrankter Gartenpavillon wie ein kleines, rundes Nest saß. Kirsch- und Aepfelbäume reckten dort ihre Zweige über die Mauer, und dahinter hoben sich auch Linden- und Kastanienwipfel.

Das ehemalige Heim der Frau Oberforstmeisterin machte einen überraschend freundlichen, behäbigen Eindruck. Vor den Fenstern lag grüner Rasen, so üppig und gleichmäßig, als werde er unter der Scheere gehalten, und weiter hin, in die mäßige Thalsenkung hinab, lief das Ackergelände mit seinem wogenden Halmenmeer, seinen Raps- und Runkelfeldern und den üppigen Flachsbreiten mit wehendem blauem Schleier.

Herr Markus war nach Frau Griebel’s Verschwinden langsam weiter geschlendert und stand nun angesichts „des Fleckchen Erdbodens, das ihm der liebe Herrgott in den Schooß geworfen“. – Himmlischer Waldfrieden wehte ihn an. Das betäubende Hämmern und Pochen in seiner Fabrik, das rastlose Lärmen und Hasten der Berliner Straßen, in denen er auch heimisch war, wie weit, wie weltenweit lag das Alles in diesem Augenblicke hinter ihm!

Ein paar Truthühner spazierten geräuschlos aus der Thür, die man wahrscheinlich zu seinem Empfang eiligst geöffnet hatte, und droben aus dem einen Schornstein fuhr plötzlich eine gewaltige Rauchwolke in den glänzend blauen Himmel hinein – Frau Griebel schürte jedenfalls unter dem Kaffeetopfe und heizte die Back- und Bratmaschine zu Ehren und zum Labsale des neuen Hausherrn, „Holder Friede, süße Eintracht!“ summte Herr Markus vor sich hin. „Einlullendes Stillleben!“ – Himmel! Er fuhr herum und sah nach dem offenen Fenster im Erdgeschosse, aus welchem Clavieraccorde herüberbrausten; dann schüttelte er sich lachend. „Tyrann, entsetzlicher Klimperkasten! Selbst bis hierher verfolgt er den Musikmüden mit seinen tönenden Hämmern!“ rief er mit komischem Pathos und trat schleunigst durch die Mauerthür in den Hof. Ein wüthendes Hundegebell empfing ihn.

„Sultan, Schlingel, willst Du gleich still sein! Man versteht ja sein eigenes Wort nicht!“ schrie Frau Griebel von den Thürstufen des Hauses herab. „Kusch! Oder ich komme mit dem Stocke.“

Sultan kroch in die Hundehütte, und „Ihren Eingang segne Gott!“ sagte Frau Griebel in umgewandeltem Tone und streckte herabkommend dem „neuen Herrn“ beide Hände entgegen.

„Das ist Herr Peter Griebel, mein guter Mann“ – damit schob sie ihren Arm in den des Mannes, der mit ihr gekommen war. „Und hören Sie’s, Herr Markus? – das ist meine Luise, die so schön spielt. Sie spielt den Marsch aus dem ,Propheten‘, Ihnen zu Ehren. Sie ist die beste Schülerin in der Pension und will Gouvernante werden. So – nun kennen Sie alle meine Hühner und Gänse.“

(Fortsetzung folgt.)




Adelbert von Chamisso.

Zu seinem hundertsten Geburtstage.


„Ein Fremdling warst Du unserm deutschen Norden,
In Sitt’ und Sprache andrer Stämme Sohn,
Und wer ist heimischer als Du ihm worden?“
 Dingelstedt.


Es war eine literarisch viel bewegte, höchst interessante Zeit, in welche die Anfänge der dichterischen Thätigkeit Chamisso’s fallen. Auf der Schwelle unseres Jahrhunderts, in jenen Jahren, da Goethe und Schiller in wunderbarem Zusammenwirken, einander anregend und ergänzend, ihre unsterblichen Werke schufen, trat bekanntlich mehr und mehr jene Richtung in der Literatur hervor, die unter dem Namen der „romantischen“ bekannt ist, und als deren Ziel ihre Vertreter eine der einseitig-nüchternen Aufklärung entgegengesetzte poetische Lebensauffassung bezeichneten. Während die beiden Schlegel vorwiegend wissenschaftlich-kritisch für die neue Richtung thätig waren, trat neben dem früh verstorbenen Novalis besonders der hochbegabte Ludwig Tieck poetisch für sie ein, und um diese Häupter schaarte sich eine große Zahl begeisterter Anhänger, unter ihnen besonders Brentano und Achim von Arnim. Auf allen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_004.jpg&oldid=- (Version vom 16.6.2023)