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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Johannes gehorcht, weiß aber, als er zu Ende ist, kein Wort von dem, was er gelesen hat.

„Ich danke Ihnen,“ flüstert die Kranke; „geben Sie mir Ihre Hand, Strohmeyer! – Caspar wird es nicht übel – nehmen – auf daß ich sie küsse, eh' ich vielleicht – sterbe!“

Johannes fühlt sich plötzlich gerührt; er macht sich bittere Vorwürfe.

„Nicht doch!“ sagt er und küßt sie in das fieberheiße Antlitz.

Aber als sein Mund dasselbe berührt, tritt ein anderer Kuß vor seine Seele, den er in dunkler Nacht auf eine winterlich kalte Mädchenwange gepreßt hat, daß er schnell, wie zurückbebend, das Haupt emporhebt. Sehnsüchtig zieht es ihn zu Doretten; die Vorwürfe in ihm verblassen plötzlich, wie sie gekommen.

Sein Blick ist mitleidslos ruhig, als er jetzt auf die vor ihm liegende Frau sieht.

„Wenn diese stirbt, ist mein Weg frei!“ kann er sich nicht mehr enthalten, deutlich zu denken, „ohne daß ich mein Ehrenwort gebrochen hätte.“

Therese Frederick ahnt es nicht; denn sie winkt ihm freundlich mit den Augen, er möge nun gehen. Es ist das letzte Mal, daß er den Blick dieser Augen zu ertragen hat. – –

Wenige Tage darauf steht er an dem offenen Grabe seiner Verlobten, vor sich den Pastor, der ein erbaulich Gebet spricht, um sich herum die Chorknaben, mit denen er soeben ein geistlich Lied gesungen hat, und hinter sich die Menge der Leidtragenden. Wie abwesend sieht er über die Gruft hinweg, und der durchdringende Duft der grünen Buchsbaumguirlanden, der von dem Deckel des Sarges zu ihm emporschlägt, verwandelt sich vor seinen Sinnen in den Duft dunkelrother Rosen.

Als die Feierlichkeit vorüber ist und Johannes sich, den Uebrigen voran, langsam von der Stätte derselben entfernt, tritt Romus aus der Reihe der Anderen heraus und folgt ihm scharf beobachtend eine lange Weile über den altehrwürdigen Friedhof.

Sich endlich unmittelbar zu ihm gesellend, sagt er lauernd: „Nun können Sie ja die Thorschreiberstochter freien, Schwager! – Aber mit der Controlle wird es nichts. Das Vermögen ist in meiner Hand, und ich werd' es nach Recht und Gewissen verwalten, nicht Sie.

„Fasliger Mensch, wer kümmert sich um das Vermögen, von dem Sie reden!“ braust Johannes auf. „Verwalten Sie es nach Belieben!“

„Aber die Thorschreiberstochter, Herr Strohmeyer, wie steht's mit der?“

„Was kümmern Sie sich um fremde Angelegenheiten? Ehren Sie den Frieden des Gottesackers und lassen Sie mich in Ruhe!“ ist die eisige Antwort, und der also Beschiedene kneift die Lippen ein und zieht sich zurück.

„Der Stich sitzt doch,“ murmelt er, als die Leidtragenden das Mühlenthor passiren und er bei dieser Gelegenheit wieder in die Nähe des verhaßten Mannes kommt.

Auf Johannes' Stirn lagert eine Wolke, und als er in seine Wohnung zurückkehrt, um das Choralbuch abzulegen, bevor er sich, der Sitte gemäß, noch einmal in das Trauerhaus begiebt, bleibt er länger als nöthig; denn ihn schmerzt das dumpfe Haupt und jedes Wort, das die Leute reden, ist ihm zuwider.

Es berührt uns immer unangenehm, wenn Jemand Anderes, den wir nicht für berufen dazu halten, uns die geheimsten Gedanken des Herzens vorsagt – doppelt unangenehm aber, wenn diese Gedanken eine Beimischung von irgend welcher Schuld an sich tragen. Johannes ist auch in den folgenden Stunden so ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, daß er ganz vergißt, was wohl heute seine Pflicht wäre, sich um das verwaiste Mädchen zu bekümmern, dessen Wohlergehen ihm die Mutter an's Herz gelegt hat.

Therese Frederick ist todt – und was er ihr versprochen hat, ist mit ihr begraben. Doch der Hügel, welcher sich über ihrem Sarge wölbt, wirft noch einen langen Schatten auf seinen Weg; denn Johannes sagt sich, daß er eine geraume Zeit hingehn lassen muß, bevor er sich Doretten wieder nähern darf; sonst hat er in Greifswald verspielt.




9.

Es ist fast ein Jahr her, daß Dorette dem alten Thorschreiber die Augen zudrückte, um bald darauf als Gesellschafterin zu Frau Consul Gerhard zu gehen. Die alte wunderliche Matrone kann nichts „Ennuyantes“ um sich dulden, und deshalb lebte sie mit Dorette's meisten Vorgängerinnen auf gespanntem Fuße, während die Thorschreiberstochter wie für sie geschaffen ist.

Sie verlangt nicht, daß das Mädchen sie beständig unterhalte – die Alte ist eine scharfe Beobachterin, außergewöhnliche Menschen – und namentlich Frauen – sind ihr an und für sich eine Unterhaltung. Es wird daher für gewöhnlich nichts von Doretten verlangt, als den kleinen Haushalt zu führen und der augenschwachen Frau Gerhard häufig vorzulesen.

So sind dem Mädchen bis jetzt die Tage gleichmäßig verflossen; denn die häufigen Besuche der Gerhard'schen Hausfreunde sind ihr nachgerade auch so gleichgültig geworden, wie alles Andere, das sie in den neuen Verhältnissen umgiebt, soviel auch diese Hausfreunde ihrerseits von der wieder aufblühenden Schönheit Dorette Rickmann's zu reden wissen und die Gewandtheit bewundern, mit welcher sich die Thorschreiberstochter in dem vornehmen Bürgerhause bewegt. Nur in den allerletzten Wochen hat auch Dorette angefangen, einem der Besucher, dem jungen Handelsherrn Putzbach, eine lebhaftere Aufmerksamkeit zu schenken. Er gehört zur Gerhard'schen Verwandtschaft und hat mithin besonders oft Zutritt zur Wohnung der Frau Consul.

Heute hat Dorette ihre Principalin zu einer kleinen Mittagsgesellschaft begleitet. Eben von dort zurückgekehrt, zieht sie sich auf ihr Zimmer zurück. Noch ist sie sehr aufgeregt; es hat einen eigenthümlichen Eindruck auf sie gemacht, zum ersten Mal wieder „unter Menschen“ zu sein. Sie hat viel gesprochen und viel gelacht.

„Man muß,“ denkt sie jetzt bei sich selbst, „wie sollte man's sonst tragen, all das Geschwätz mit anzuhören – denn mir – mir ist das Vernünftige wie das Unvernünftige gleichgültig; man muß nur vor sich und vor Anderen thun, als mache man sich aus allem Möglichen alles Mögliche! – denn – man muß vorwärts!“ und sie wirft sich auf's Sopha und legt sich müde zurück, während ein eigenthümlicher Schatten der Erinnerung über ihre Züge fliegt. „O,“ ruft sie und streckt seufzend die Arme von sich, „wenn mein alter Vater noch lebte, wär' es ganz gut so.“

Nachdem sie so einige Augenblicke gelegen hat, trat die Aufwärterin ein und meldet, daß ein Herr da sei, der sie zu sprechen wünsche. Dorette richtet sich auf; ihre Brust arbeitet schwer. Es ist Putzbach, den sie heute in der Gesellschaft sah.

Ein Schauer erfaßt sie; ihr Freiheitsbedürfniß empört sich, der keusche Zauber ihrer ersten jungen Liebe, welcher ohne ihre Schuld durch blutige Zornesthränen befleckt wurde, flammt noch einmal in ihrer Seele auf, aber sie muß fest bleiben; denn sie fürchtet, ein Anderer könne zu ihr zurückkehren – sie muß einen Wall um ihr leidenschaftliches Herz thürmen – und wäre es der Name des oft verspotteten Putzbach.

„Sag' Sie ihm, ich erwarte ihn, und führe Sie ihn in's Erkerzimmer!“

Nach dieser ertheilten Ordre erhebt sich Dorette langsam, und langsam tritt sie in den anstoßenden Raum, wo sie einen Armleuchter anzündet. Dann läßt sie sich, möglichst weit entfernt vom Eingang, am Fenster in einen Fauteuil nieder.

In unwillkürlich stolzer Haltung erwartet sie ihren Anbeter. Der Saum ihres langen, modern geschnittenen Trauergewandes liegt auf weichem Teppich, und ihr erhobenes Haupt, wenn es sich leise wendet, streift an schwere seidene Vorhänge. Ihre Wangen glühen vor Aufregung, was wunderbar gegen die Weiße ihres gepuderten Haares absticht. Sie sieht seltsam schön aus – älter als sie ist – aber berauschend schön.

Da geht die Thür auf. Sie will aufschreien vor Schreck, aber der Schrei erstickt schon in ihrer Brust. Starr, mit weit aufgerissenen Augen blickt sie auf den Eingetretenen; dann, als schmerze es sie, wendet sie sich, die Lider krampfhaft schließend, von ihm ab.

Johannes hat sie Jahr und Tag nicht gesehen. Eine Secunde bleibt er in der Thür stehen und senkt die Stirn, wie ein Schuldbewußter, aber in seinen Zügen steht Nichts als Liebe. Und mit der ganzen Gluth eines erst spät, aber desto mächtiger zur vollen Leidenschaft erwachten Gefühls blickt er jetzt auf sie, und langsam tritt seine hohe Gestalt ihr näher.

„Da bin ich wieder, Dorette,“ sagt er leise bittend und kann sich noch gar nicht recht fassen.

„Und was wollen Sie?“ fragt sie, sich zu ihm wendend, und ihre Blicke begegnen sich. Der kalte Strahl aus ihren Augen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 859. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_859.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)