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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


hatte ich eine Braut. Sie ging dazumal nähen und wohnte Nummer elf in der Bäckergasse bei ihrer Mutter. Sophie Fiedler hieß sie. Es war ein schönes Mädchen. Nachher meinte alles, ich hätte die Schwindsucht und käme wahrscheinlich nicht durch; da sprach sie eines Tages, sie hätte gehört, die Schwindsucht stecke an, und wir wollten das mit der Verlobung einstweilen sein lassen. Dazu konnte ich natürlich nichts sagen. Ich glaube aber jetzt ganz bestimmt, daß ich gesund werde. Wollen Sie nicht einmal nach ihr sehen und ihr das mittheilen? Es wäre doch möglich, daß sie sonst einen Anderen heirathete.“

Er hatte mit längeren Pausen gesprochen, mühsam ringend und fast verschämt.

„Ich will es gern thun,“ versicherte zögernd die Näherin. Es war ein trüber Auftrag: sie wußte, das Mädchen war seit einem Vierteljahr verheirathet; indeß wer hätte den Muth gehabt, ihm das zu sagen?

„Wollen Sie gehen? Aber nicht vergessen! Gute Nacht!“

Sie war plötzlich aufgestanden und schritt über knarrende Dielen in ihr Zimmer, so eilig, als hätte sie dort etwas versäumt. Aber sie ließ die Lampe weiter dämmern; sie griff nicht zu dem Kleide. In einem Korbstuhl, der am Ofen stand, ließ sie sich nieder und schlug beide Hände vor das Gesicht.

Der Wind wirthschaftete im Reste des Feuers und brummte und hauchte und zischelte, als hätte er der Flamme die neuesten Neuigkeiten aus der Weihnachtswelt zu erzählen und nicht viel Zeit dabei zu verlieren. Dumpf waren die Stimmen der Kinder, des Schneiders, der Wittwe nebenan zu vernehmen; sonst alles still, bis auf die tickende Wanduhr. –

Die Wanduhr, ihr Herz und ihre Gedanken!

„Sie sind alle zufrieden. Sie freuen sich; sie lassen sich genügen; sie hoffen. Nur ich nicht; ich nimmermehr!“

Und nach einer Weile:

„Er hatte eine Braut, und sie verließ ihn und nahm einen Andern,“ sagte sie wie im Fieber vor sich hin. „Sie verließ ihn und nahm einen Andern.“

Sie hielt noch immer die Hände vor die Augen gepreßt.

„Und heute ist Weihnachten! Das Christkind schenkt, und es läßt sich von allen Zungen besingen; mir hat es Alles genommen, Alles! – Der Schneider hat Recht: von der Einbildung und von den Wünschen, den thörichten Wünschen – davon kommt das Unglück.“

Als sie die Hände in den Schooß fallen ließ, waren ihre Augen so starr, als hätte sie nichts mit ihrer Umgebung zu thun. Die dürftige Beleuchtung vertiefte ihre Züge und ließ die Sitzende älter erscheinen, als sie in Wirklichkeit war.

Ihr Herz pochte schneller und ihre Gedanken trugen sie fort. Sie sah ihre Jugend, die sorglose Jugend der Waise im Hause der reichen Tante, welche sie mit dem einzigen Töchterchen erzog. Das hatte frohe Weihnachten gegeben!

Weg damit!

Sie sah ihn, den sie auf einem Balle kennen gelernt, den geistreichen, eleganten Referendar mit dem Kneifer im Auge, der ihm so keck ließ. Die Cousine war unwohl zu Hause geblieben, konnte nicht zusehen, wie er ihr den Hof machte. Sie fühlte seinen Arm, seine Brust im wogenden Tanze; sie hörte sein Geplauder. Wie rasch es gegangen war! Nur ein paar Abende später hatte er sie aus dem Theater nach Hause begleitet, hatte ihr die Hand – den Mund geküßt.

„Morgen komm’ ich.“

Er war gekommen; die Cousine war dabei gewesen, als er der Tante seinen Besuch gemacht. Noch schwebte ihr sein Blick vor, der so unruhig gewesen, als er der Gespielin ansichtig geworden. Aber er hätte doch unmöglich den Verrath begehen können, wenn sie – die Verrätherin, nicht gewesen wäre. Und die Träumerin im Korbstuhl hob wieder die Hände und preßte sie fest gegen die Brust, als litte sie noch einmal die Qualen dieser Wochen. –

Dann war ja Weihnachten gekommen, das furchtbare Weihnachtsfest, wo er sie in eine Ecke geführt und ihr im Flüstertone eröffnet hatte: sie solle verzeihen, er habe sich in seinem Empfinden getäuscht, er liebe die Cousine und habe sich soeben mit dieser verlobt. Die reiche Cousine –! Natürlich, das war eine andere Partie für den armen Referendar, den Streber, der genießen wollte und der vorwärts wollte. Er war auch vorwärts gekommen. Vor einem Jahre war er als Gerichtspräsident in der Provinz gestorben. O, er hatte eine glänzende Carrière gemacht, und die Cousine hatte sicher zahlreiche vornehme Diners und Soupers und Soiréen gegeben. Und nun war sie wieder in die Residenz gezogen mit ihren Kindern; sie lebten beide wieder am selben Orte. Ja, sie hatte ihr sogar wieder einen Brief geschrieben, einen Versöhnungsbrief –

Fort damit! Lieber darben, als ducken!

Und die Träumerin erwachte für einen Augenblick, und die starren Augen richteten sich wie triumphirend auf die Stelle über dem kleinen Spiegel zwischen den tiefen Dachfensterhöhlen. Da stand es, ihr Wahlspruch: Lieber darben, als ducken!

Er stand auch über ihrem Leben, ihrem einsamen, verlorenen Leben.

Ein Schauer ging über sie; wozu den alten Jammer aufstören? Sie erhob sich hastig: das Kleid mußte ja fertig werden, jeden Augenblick konnte ein Mädchen kommen, um dasselbe abzuholen. So schrob sie denn die Lampe wieder hellauf und trug sie in das Fenster neben der Thür. Dort stand die Nähmaschine; es gab noch etwas nachzubessern an dem Kleide, und sie holte es herüber, und ließ sich auf den Stuhl nieder.

Aber sie hatte ja keine so große Eile. Das Verbessern war rasch gemacht. Es war immer noch Zeit, um weiterzuträumen. Und sie mußte weiterträumen, ob sie wollte oder nicht.

Lieber darben, als ducken! Wie hätte sie den Golgathaweg gehen können bis zum Aufstieg unter das Dach der schwarzen Ecke ohne jenes Wort? Das erste Stück hatte freilich hoffnungsvoller ausgesehen. Ein freundliches Stübchen hatte sie nach der heimlichen Flucht aus dem Hause der Tante aufgenommen; die Visitenkarte einer verstorbenen Freundin hatte vor der Thür geklebt, und keine Nachforschung sie gefunden. Die Tante war auch bald gestorben, die Cousine nach der Hochzeit dem Gatten in die Provinz gefolgt. Sie hatte gestickt und genäht und eine Gouvernantenstellung gesucht. Der Ertrag der Arbeit war jämmerlich, eine Stellung lange nicht zu finden: sie war zu anspruchsvoll, zu hübsch, sie war nicht musikalisch, hatte keine Zeugnisse – lauter schwerwiegende Gründe. Endlich war sie doch Gouvernante geworden – in einem hochadligen Hause, und das konnte sie nicht vertragen. Damals hatte sie ihren Wahlspruch gestickt und war wieder in die Residenz gegangen, von Wohnung zu Wohnung, von Arbeit zu Arbeit.

Müde und mürbe war sie gewesen, als sie das Dachstübchen der schwarzen Ecke bezogen hatte. Nicht einmal, daß die „Einbildungskraft“, wie der Schneider es nannte, sie noch gequält hätte: wie ein Nebel lag die Jugend hinter ihr. Sie nähte heute und bügelte morgen, dafern man ihr etwas in’s Haus brachte. Sonst nicht – in fremde Häuser ging sie nicht, dazu war sie doch noch stolz genug.

Das letzte Jahr hatte sie aufgerüttelt; sie war ihrer Cousine begegnet und hatte sie erkannt; sie hatte auch von deren Wiederansiedelung in der Residenz erfahren, und da war es wieder in ihr aufgeflammt: Lieber darben, als ducken! Kein Wiedersehen, keine Versöhnung, unter keiner Bedingung!

Sie hob den Kopf und lauschte. Auf der Treppe raschelten Schritte und knisterte es wie von einem Korbe. Kam man, um das Kleid zu holen? Aber das waren zweierlei Schritte, leichtfüßig die einen, hart und schwer die andern. Und doch klopft es an ihre Thür.

„Herein!“

Laternenschein auf dem Bodenflur – in dem Rahmen der Thür eine jugendlich schmiegsame Gestalt, winterlich in Pelz gehüllt; ein süßes, blühendes, winterfrisches Gesichtchen sah sie mit lächelndem Gruß an.

„Der Weihnachtsengel,“ sagte es und nickte. „Gieb her, Friedrich!“ Und es griff in den Flur hinaus und brachte mit drolliger Vorsicht einen kleinen Weihnachtsbaum zum Vorschein. Das sah allerliebst aus, so anmuthig, daß die Näherin die Hände zusammenschlug und sagte:

„Das ist ja ein Märchen!“

Die Kleine ging in das Zimmer hinein und stellte den Baum auf den Tisch. „So bring doch das Uebrige, Friedrich!“ rief sie ungenirt über die Schulter.

In der Thür, die noch offen stand, wurde ein livrirter Diener sichtbar, welcher schwer an einem Korbe trug. Er stellte denselben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 847. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_847.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)