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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Mitteln und Kräften in der neuen Richtung geleistet haben. Die slavische Sprach- und Alterthumsforschung nahm ihre geistige Thätigkeit am meisten in Anspruch. Aber diese neugeschaffene Literatur hat sich wenig zur Cultur der dem Volke zugänglichen Richtungen herbeigelassen; deswegen bleibt sie noch immer diejenige der Gelehrten; die neue Sprache ist selbst dem Volke nicht durchgängig verständlich. Das Nationalgefühl ist wohl sichtlich erwacht, aber das Volk scheint durch den langen Druck für die den Slaven angeborene Vaterlandsliebe weniger empfänglich geworden zu sein. Selbst die Phantasie, bei den meisten slavischen Völkern dem Verstande überlegen, scheint in den letzten zwei Jahrzehnten gebrochen. Uebrigens haben die Böhmen in der ganzen Geschichte ihrer Literatur wohl gelehrte und ausgezeichnete Schriftsteller, aber keinen großen Dichter aufzuweisen.

Ihre neuesten Dichter sind mehr durch die Richtung, die sie einschlagen, als durch Vollendung bemerkenswerth. Der ausgezeichnetste unter ihnen ist Kolar, evangelischer Prediger in Pest, in der Slovakei in Ungarn geboren, wie denn aus dieser Gegend die meisten heutigen Dichter der Böhmen stammen. Kolar hat über sechshundert Scenen unter dem gemeinsamen Titel ‚Slawy Dcora‘ gedichtet. Der Zweck ist, die gegenseitige Liebe und Sympathie unter den slavischen Stämmen zu wecken, wie denn Kolar der erste und vorzüglichste Anreger der Idee des Panslavismus war, welche er auch in der Broschüre ‚Die literarische Wechselseitigkeit der Slaven‘ auseinandersetzte. Diese Idee selbst zeigt den Mangel eines nationalen Bodens, auf dem sich heutzutage die böhmische Poesie entwickeln könnte. Es fehlt der Glaube, die innere Ueberzeugung von der Möglichkeit eines selbstständigen Nationallebens. Deswegen vergeudet man die Liebe an das gestimmte Slaventhum, lebt entweder in den entferntesten Zeitaltern oder in einer dunklen Zukunft. So steht es denn auch mit der Dichtkunst. … Die bedeutendsten Dichter nach Kolar, Holy und Klazel, der erste in epischer, der andere in lyrischer Gattung, kommen aus diesem Kreise nicht heraus: Es findet sich in dem, was sie geschaffen, viel Lobenswerthes, sowie auch in den Dichtungen Celakowsky’s, aber dies Alles findet Anklang nur in den Herzen der Eingeborenen; ich zweifle, ob es denselben auch im Auslande finden würde.“

So der Pole Cybulski über seine czechischen Blutsverwandten. Man erkennt sofort, was an seiner Weissagung aus dem Jahre 1842 sich erfüllt hat und worin sie fehlging. Die Welt hat sich an die czechischen Dichter nicht gewöhnt, und es ist unterdessen kein neues Gestirn unter ihnen aufgestiegen. Sie haben keinen Mickiewicz und keinen Puschkin. Aber der Panslavismus hat ihnen seine Frucht getragen, wenn nicht unmittelbar, so doch auf mancherlei Umwegen. Da sie in der That kein innerlich entwickeltes Nationalbewußtsein besitzen, so ist ihr nationaler Chauvinismus allezeit nur eine geschickt unterhaltene geistige Exaltation gewesen. Das Mittel hierzu war eben der Panslavismus, der Wand an Wand mit dem Deutschenhasse wohnt. Und da es bei solch unsauberen Instinkten auf das Mehr oder Weniger nicht ankommt, so gesellte sich dazu bei den sogenannten Altczechen der Ultramontanismus und Feudalismus, denen die Jungczechen vergebens entgegenzuarbeiten suchen.

Diese Entwickelung ist nicht zum geringsten Theile das Werk Franz Palacky’s, des „Vaters der czechischen Geschichte“, dem Ladislaus Rieger als Erbe in Deutschenhaß und czechischem Größenwahn auf die Fersen trat. Palacky wurzelte immerhin noch im Literarischen, aber Rieger, der dafür weder Verständniß noch Neigung besaß, verpflanzte die Bewegung sofort auf das politische Gebiet. Dem Parlamente in der Frankfurter Paulskirche setzte man einen Slavenkongreß in Prag entgegen, der freilich ein klägliches Schauspiel bot, da die Slaven mit einander in deutscher Sprache verhandeln mußten, die allen Theilnehmern geläufig war, während die mit den einzelnen slavischen Idiomen sich nicht so verhielt. Auf den Reichstagen von Kremsier und Wien kam dann die Idee eines großböhmischen Staates nackt und unverhohlen zu Tage, mit dem Vorbehalte, die deutschen Grenzkreise Böhmens von den übrigen zu trennen, in den slavischen Theilen aber eine „slavische Cultur“ einzurichten.

Auch davon ward es stille während der zwölf Jahre des Centralismus, während welcher in Wien die czechischen Träume keine Begünstigung fanden.

Aber als im Jahre 1861 Oesterreich sich in einen Verfassungsstaat umwandelte, der allen seinen Angehörigen das gleiche Recht einräumte, als die Deutschen sich stark genug wähnten, ihre Ueberlegenheit in Staat, Gesellschaft und Schule auch auf dem Boden des modernen Staates behaupten zu können, da erhoben sich die Deutschenhasser wilder als je. Sie riefen alle bösen Geister, die religiösen wie die feudalen Dunkelmänner, zu ihrer Hülfe auf; sie brachten mit dem Ministerpräsidenten, den ihr Stamm dem Staate Oesterreich geschenkt hatte, mit dem „Sistirungsminister“ Belcredi, den Gesammt-Staat im Jahre 1866 an den Rand des Abgrundes; sie zogen nach Moskau zum Slavencongresse, um daselbst offen ihre Sympathie für Rußland und den Panslavismus, die beiden blutigen Feinde Oesterreichs, zu verbinden; sie jubelten Napoleon dem Dritten zu, als er über Deutschland herfiel, wie ein nachträglich aufgefundener Brief Ladislaus Rieger’s an den Tuilerienmann deutlicher, als ihnen lieb war, ersehen ließ.

Und ihr Ruf nach Wiederherstellung der Wenzelskrone, schon im Jahre 1871 von befangenen Staatsmännern zur officiellen österreichischen Losung erhoben, aber nach kurzer Weile mitsammt diesen Staatsmännern gerechtermaßen verworfen – dieser wilde, bedrohliche Ruf ist heute wieder in Prag die Parole des Tages, in Wien abermals eines verhängnißvollen Experimentes Werth erachtet. Den Deutschen in Böhmen versagt das Wiener Ministerium seinen Schutz; es zwingt deutsche Beamte, auch in den rein deutschen Bezirken Böhmens ihren Aemtern zu entsagen, weil ihnen die Kenntniß der czechischen Sprache fehlt; es duldet, daß die Prager Hochschule sich entvölkert; es verdrängt die deutsche Sprache aus den Amts- und Schulstuben; es begünstigt den Hader zwischen deutschen Bürgern und deutschen Großgrundbesitzern in Böhmen.

Im Jahre 1871 standen die Czechen noch schmollend dem Wiener Centralparlamente fern; es blieb ihnen nur in dem böhmischen Landtage und in ihren Blättern Raum zur Verunglimpfung, Verdächtigung und Beleidigung der Deutschen.

Aus jener Zeit stammt das niederträchtige Inserat des czechischen Kunstmäcens Naprstek, früher: Fingerhut geheißen, in einer czechischen Zeitung deutscher Zunge: „Es wird ein Lehrling für eine Brauerei gesucht. Die Kenntniß der deutschen Sprache wird nicht verlangt, weil wir in Böhmen solche Hohlköpfe, die aus Preußen kommen, wie z. B. Professor Linker, in den österreichischen Staaten nirgends brauchen können.“ Professor Linker, Philolog an der Prager Hochschule, hatte nämlich seiner Bewunderung der Siege der Deutschen in einer lateinischen Ode Ausdruck gegeben.

Diesmal sind die Czechen im Wiener Parlamente; sie führen in demselben die Mehrheit, welche neben ihnen aus den Reaktionären aller siebenzehn Kronländer besteht; sie haben die Macht in ihren Händen, um das Deutschthum in Böhmen zu zertreten, dasjenige in dem übrigen Oesterreich zu demüthigen. Und das Ministerium in Wien läßt sie gewähren, während es im innigsten Bunde mit dem deutschen Reiche zu sein vorgiebt. Wer erklärt mir, Oerindur, diesen Zwiespalt der Natur?

Nun aber, da das Für und Wider entwickelt ist, muß es zum Spruche kommen.

Was sind die Deutschen dem Staate Oesterreich, und was begehren sie für ihre Landsleute in Böhmen?

Sie sind die Träger der Cultur, der Bildung, des staatlichen Einheitsgedankens in Oesterreich, wie es ihre Landsleute in Böhmen sind. Sie tragen die unvergleichlich größten Lasten im Staate, wie es ihre Landsleute in Böhmen thun. Von ihnen geht die Blüthe der Industrie, des Gewerbes, des Handels aus, wie sie in Böhmen ebenfalls stets von dessen deutscher Bevölkerung ausgegangen ist. Literatur und Kunst sind deutsches Besitzthum; städtische und ländliche Entfaltung empfangen von den Deutschen die nachhaltigsten Impulse. Sie haben Oesterreich in einen Verfassungsstaat umgewandelt und das gleiche Recht Aller vor dem Gesetze, den gleichen Antheil Aller am Staate je nach der Eignung verkündigt. Und nun sollen sie in Böhmen hinausgetrieben werden aus Amt und Schule, sollen, um ihr Dasein zu fristen, die czechische Sprache erlernen, die für Niemanden einen geistigen Gewinn bedeutet, sollen die Tyrannei der Czechen widerstandslos auf sich nehmen, der verbissensten Deutschenfeinde, die irgendwo im ganzen Weltrunde vorhanden sind trotz der Magyaren.

Das muthet ihnen ein angeblich deutsches Regiment zu, das Centralregiment in Wien, genannt das cisleithanische Ministerium.

Was aber sind die Czechen dem Staate Oesterreich, und was begehren sie für sich?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 837. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_837.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)