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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Hier wo die Bäume Schatten geben,
Und nicht auf luft’gen Wolkensteig,
Ruft mich die Kunst, grüßt mich das Leben
Und grünet in der Sinne Zweig.“

Naiv und humoristisch sind die Schilderungen aus dem „Stift zu Adamunt“; der Minnehof zu Avellenz und das Minnegericht athmen den leichtfertigen Ton französischer Sitte. Auf Burg Seben werden uns die Bilder deutscher Häuslichkeit vorgeführt, in den Lagunen ein Liebesabenteuer im italienischen Stil. Der Sängerkrieg auf der Wartburg, die Liebe zu Irmgard, die Begegnung zwischen dem Tannhäuser und dem Papste sind die Glanzpunkte des zweiten Theils der Dichtung. Sie werden sich an denselben sehr erfreuen, aber gewiß auch, gleich mir, bisweilen an dem manierirt altdeutschen Ton und einzelnen gänzlich unverständlichen Wendungen Anstoß nehmen.

Haben Sie einmal, verehrte Freundin, etwas von A. Fitger’s Trauerspiel „Die Hexe“ gehört? Das Stück ist über viele Bühnen mit Beifall gegangen; es verräth ohne Frage ein markiges Talent, dem nur eine gewisse herausfordernde Renommage der Freigeisterei, wie besonders in der Hauptsituation, in welcher die Heldin die Bibel zerreißt, nicht gut zu Gesichte steht. Dieser dramatische Dichter hat jetzt auch eine Sammlung lyrischer Gedichte herausgegeben: „Winternächte“. Schon der Titel derselben macht einen etwas frostigen Eindruck, und manche sind in der That von einer frierenden Gemüthsstimmung eingegeben; es herrscht in ihnen das Zähneklappern des menschlichen Elends, eine Vorliebe für die Darstellung von Existenzen, die gleichsam im Wintersturm des Lebens verweht sind. Dies tritt besonders in den „Idyllen“ hervor, in denen wir vergebens das arkadische Glück der Beschränkung suchen würden. Der schmutzige, im Schnapsgenuß untergegangene Organist, der noch einmal die Orgel meisterhaft spielt, die achtzigjährige zerlumpte Hanna Mullfuß, die, von den Straßenjungen verhöhnt, sich in’s Wasser stürzt, der verlachte Erfinder des perpetuum mobile mit den Straßenscenen, von denen der Dichter sagt:

          „Schon damals wurmte der Hohn mich,
Den ein zerschellt Ideal wieherndem Pöbel entlockt –“

die alte und die junge Megäre, welche Lumpen auf der Straße sammeln, während diese von jener mit allerlei Flitter aufgeputzt wird: welche seltsamen Lebensbilder, die wie zum Hohn sich mit dem Namen der Idylle, einer den ländlichen Frieden und das behagliche Glück athmenden Dichtgattung schmücken!

Doch Arthur Fitger besitzt das Talent kräftiger Darstellung, das sich gerade dort am meisten bewährt, wo er spröde Stoffe wählt; denn er weiß auch ihnen eine poetische Leuchtkraft zu geben. Seine Dichtweise ist nicht glatt, nicht einschmeichelnd; sie ist schroff und herb, aber ihr Colorit ist markig und der Ausdruck der Gedanken oft von einer dem Gedächtniß sich einprägenden Schlagkraft.

Er liebt das Volksthümliche, wie die „Lieder vom Maurergesellen“ beweisen, und besonders die große Erzählung: „Der Meisterdieb“, die Behandlung einer alten Sage, in welcher die Kunst des genialen Diebstahls verherrlicht wird. Die Umdichtung der Sage erscheint uns aber etwas gekünstelt. Der Dieb stiehlt als das schönste Kleinod die Tochter des Königs und zuletzt den König selbst; das heißt doch die alte Ueberlieferung allzu sehr übertrumpfen.

Es geht ein eigenthümlich düsterer Zug durch diese Gedichte; schwunghaft verherrlicht der Dichter in einem Hymnus den Tod; in einer Ballade erscheint er als der dunkle Kämpe, der des zweifelnden Jünglings Fragen beantwortet, nachdem er ihn im Kampfe besiegt. Und wie den Tod, verherrlicht der Dichter die Vergessenheit:

„Du des Vergessens holde Blume,
Du schmückst, o Mohn, das Schlachtgefild,
Ein schön’rer Preis dem Heldenthume,
Als Marmelstein und Bronzebild.“

Es findet sich in den Balladen manche glückliche Pointe, in den anderen Gedichten manches originelle Bild, doch es schwebt über allem eine so aschfarbige Beleuchtung, daß auch bei dem Leser meistens eine triste Stimmung hervorgerufen wird: der Mangel an Lebensfreudigkeit, an jeder frischen Farbe wirkt ermüdend. Die Skepsis ist nicht immer edel gehalten; sie verirrt sich oft zu einem höhnischen Lachen. Manches Gedicht ist indeß tiefsinnig, manche Wendung wiederum drollig. So werden Sie, verehrte Freundin, aus den „Satanischen Fragmenten“ erfahren, wer eigentlich des Teufels Großvater gewesen ist, ein bisher unbekannter Herr, da immer nur von des Teufels Großmutter die Rede zu sein pflegt.

Einen großartigen Helden der Skepsis hat sich Gustav Kastropp in seiner umfassenden Dichtung „Kain“ gewählt, den Helden des Byron’schen dramatischen Mysteriums, den aber der neuere Dichter in einem großen epischen Gemälde behandelt hat. Die biblische Ueberlieferung ist von ihm wesentlich erweitert worden: zunächst erscheint eine Lieblingsheldin der neueren Dichter, die von Hermann Lingg, Adolf Böttger und Andern besungene Lilith, deren Taufschein nicht im alten Testament, sondern im Talmud zu suchen ist, welche als eine vorsündfluthliche „Valandinne“ in irgend einem vorzeitlichen Hörselberg den Helden in Liebesbanden hält. Nach der anderen Seite hin erstreckt sich die Dichtung bis zur Sündfluth; denn dem Brudermörder ist der Tod versagt; er irrt wie Ahasver umher, bis ihm die aufsteigenden Wasser den ersehnten Untergang bringen. Auch der Abfall Lucifer’s und der biblische Titanenkampf der höllischen Gewalten gegen den Himmel ist mit in die Dichtung verwebt.

Den eigentlichen Mittelpunkt der Handlung bildet die Liebe der beiden Brüder Kain und Abel zu Ada; sie wird auch die Veranlassung des Brudermordes, der in dem Byron’schen Mysterium wohl tiefer durch den geistigen Gegensatz und hier, wie Goethe sagt, „auf das Köstlichste“ motivirt ist.

Sie sehen, verehrte Freundin, die Dichtung hat große gedankliche Dimensionen, phantasievolle Erfindung, in der Darstellung einen ernsten und würdigen Ton; sie enthält schöne Naturschilderungen und viele liebliche Bilder, wenn auch das Dämonische nicht mit Byron’scher Tiefe erfaßt ist, wenn auch überhaupt das Idyllische das geistig Bedeutende überwiegt und hier und dort eine etwas modern bürgerliche Moral gepredigt wird.

Zum Schlusse meines Briefes weise ich Sie auf einen Dichter hin, der Ihnen ja durch die „Gartenlaube“ längst bekannt und lieb geworden ist. Die „Gedichte“ von Ernst Ziel sind in neuer sehr vermehrter Auflage erschienen; es sind Ergüsse eines ernsten, edeln und schwunghaften Dichtergeistes, der sich nicht in den bequemen Geleisen der Alltagslyrik bewegt, sondern vorzugsweise die schwierigeren Formen der höheren Dichtung wählt und beherrscht. So weiß er sinnvolle Reflexionen in das verschlungene Strophengewand der Canzonen ohne Gewaltsamkeit zu kleiden; mit rhythmischem Tactgefühl sind seine freien Strophen gebildet, wie in den hymnenartigen „Phantasien aus einer Großstadt“; andere Gedichte wie „Die Götterdämmerung“ erinnern an die Schiller’sche Dichtweise; Platen’schen Schwung athmen die trochäischen Achtfüßler „In der Metropole“. Alle diese größeren Gedichte sind gedankenvoll, voll sittlicher Weihe und Würde, während in den Familiengedichten sich ein warmes Gefühl mit Innigkeit ausspricht und in den „Bildern und Gestalten“ sowie den Balladen anmuthende Anschaulichkeit herrscht.

Sie sehen, verehrte Freundin, das deutsche Publicum darf sich über den Mangel an guten Gedichten und Dichtungen nicht beklagen, wenn sich nur nicht die Gedichte und Dichtungen oft über den Mangel an Publicum zu beklagen hätten. Auch die bekanntesten Romandichter haben diesmal dem Weihnachtstische ihren Tribut gezollt; darüber plaudere ich mit Ihnen das nächste Mal. Außerdem sammeln sich unter dem Christbaume die verschiedenartigsten literarischen Gaben, Prachtwerke wie „Spanien“, „Hellas und Rom“, geschmackvolle Aneignungen fremder Dichter, wie die von Leopold Katscher herausgegebenen „Ausgewählten Werke“ des beliebten dänischen Märchendichters Andersen, auch Vieles, was der Feder von Frauen entstammt, wie das vierte, die Classiker behandelnde Bändchen der geschmackvollen und interessanten „Musikalischen Charakterköpfe“ von La Mara und die mit Kenntniß und Geschick ausgeführten „Frauengestalten der griechischen Sage und Dichtung“ von Lina Schneider; doch ich will Sie nicht mit der Fülle der literarischen Production ermüden. Vieles, was der Tag bringt und feiert, ist ja so vergänglich, wie das Wogenspiel Ihrer Ostsee, verehrte Freundin, das sich so lärmend verkündigt und von dem nicht einmal die hochspritzenden Schaumkronen übrig bleiben, nicht einmal die verlöschenden Spuren im Sande.



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