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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Er breitete die Arme aus und sank zurück – ein Seufzer noch, als ob die befreite Seele die Flügel hebe, und er lag still und friedvoll in seines Kindes Armen.

Sie küßte ihm schluchzend die Hände, die bleichen Lippen – sie drückte ihm sanft die erdenmüden Augen zu und flüsterte zärtlich unter heißen Thränen:

„Lieber Vater, schlafe sanft! Wohl Dir, daß Du nun ausgerungen!“

Da regte sich etwas leise in dem stillen Todtengemach – trotz ihres furchtbaren Schmerzes entging Carmen diese Bewegung nicht. Sie fuhr auf und schnellte empor – der dort durfte ihr so nicht entgehen; denn Jonathan wollte jetzt geräuschlos das Zimmer verlassen.

„Jonathan Fricke!“ rief sie gebietend; sie richtete sich empor, und sein Fuß blieb wie gebannt durch ihren Ruf stehen.

Sie schritt um das Bett herum, trat an den Tisch und stellte die Lampe so, daß der volle Schein des Lichtes hell auf das still verklärte Antlitz des Todten fiel, um dessen Mund ein seliges Lächeln schwebte.

„Blickt auf dieses Antlitz!“ sagte sie, und es klang wie ein Befehl. Ihr Gesicht flammte auf in düsterem, heiligem Zorn, und sie stand gebietend und drohend, aber wunderbar schön, vor ihm da, als sei sie jetzt in Wahrheit der Erzengel, den Sünder hinab in die Tiefe der Verdammniß zu stoßen.

„Sehet diesen Frieden und diese heilige Ruhe an! Werdet Ihr wohl einmal so daliegen können, wenn der Herr den Odem von Euch nimmt? Ihr wendet die Blicke hinweg,“ rief sie zürnend, als Jonathan, selbst leichenfahl, das Gesicht von dem Todten abwendete. „Ihr werdet dieses Antlitz nicht aus Eurer Seele bannen können – es wird mit Euch gehen, wo Ihr auch seid, bei Tag und bei Nacht; Euch folternd wird es meines Vaters stiller Rächer sein hienieden und Euer Ankläger dort oben an dem Thron des allgerechten Gottes.“

Fassungslos, vernichtet stand Jonathan da vor dem zürnenden Antlitz der jungen Frau.

„Denket nicht, mein Vater habe sein Vergehen vor mir verheimlicht,“ fuhr sie fort, und der Klang ihrer Stimme wurde tiefer, drohender, wie wenn die in ihr grollende Empörung aus dem Grunde ihrer Seele sich gewaltsam hervordränge. „Ich weiß Alles; ich weiß, wie es kam, daß in der Leidenschaft und Schwäche eines Augenblickes der Versucher ihm nahen und ihn zur Sünde verlocken konnte. Aber mit dem Geiste nur hat er gesündigt; der Allerbarmer verhinderte gnädig die That. Was wiegt seine Sünde vor dem Auge Gottes gegen die Eurige?“

„Ich beschwöre Sie,“ bat Jonathan zerknirscht, „vernichten Sie mich nicht vor der Gemeine!“

„Geht!“ erwiderte sie, „ich werde auf das Gedächtniß meines armen Vaters keinen Flecken werfen, indem ich Euch anklage. Die Vergeltung ist Gottes.“

Jetzt fühlte sie, daß die Kräfte sie verlassen wollten. Die furchtbare Gemüthserregung wich der Erschöpfung. Da aber gewahrte sie an der offenen Thür des Nebenzimmers Alexander mit Agathen – sie streckte dem Gatten die Arme, wie Trost und Hülfe suchend, entgegen; er eilte auf sie zu, und sie sank schluchzend an seine Brust.

„Carmen, mein geliebtes Weib, das also war das schwere Leid, das Dich all diese Zeit bedrückte!“ flüsterte er ihr zu.

Agathe aber war bis an das Bett getreten und breitete ein weißes Tuch über das Gesicht des Todten.

„Carmen,“ sagte sie dann, „Deiner Anklage bedarf es nicht. Ich werde Zeugniß vor den Aeltesten gegen Diesen ablegen, auf daß nicht länger Gottlosigkeit im heuchlerischen Gewande der Frömmigkeit unter uns weile.“

Jonathan hatte sie mit Entsetzen angestarrt.

„Ist denn die Hölle losgelassen?“ schrie er wüthend und stampfte mit dem Fuße. „Seid Ihr Alle gekommen, mich zu verderben?“

„Störe nicht die heilige Ruhe hier mit Deinen freventlichen Worten!“ gebot ihm Agathe. „Ihm, dem Todten, wird Gnade werden, Du aber wirst gerichtet werden, Jonathan, hier wie dort. Geh!“

Sie wies gebietend nach der Thür.

Er wollte versuchen, Agathen etwas zu erwidern, sie aber schnitt ihm das Wort ab, indem sie streng wiederholte: „Geh!“ – er zögerte eine Weile; er kämpfte mit sich; dann wankte er hinaus.

Bald nach diesem Auftritt hatten Posaunenklänge der Gemeine verkündet, daß der alte Mauer geendet habe, und zugleich verbreitete sich das Gerücht, daß Bruder Jonathan gegen den Verstorbenen sich großer Missethat schuldig gemacht und daß der Rath der Aeltesten nach ihm suche, um ihn zur Rechenschaft und Strafe zu ziehen. Es bemeisterte sich damit eine große Aufregung aller Glieder der Gemeine. Aber Jonathan war nirgends zu finden.

So wurde denn sein Ausbleiben als ein Zugeständniß seiner Schuld betrachtet und überall hin, wo Brüder lebten, der Bericht von Jonathan's Vergehen gesendet, damit er sich nicht anderswo wieder mit List und Heuchelei als Bruder einniste. Er war ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Brüder, wo immer auf der Erde sie sich angesiedelt haben mochten. Gleichzeitig beschloß der Rath der Aeltesten das zur Sühne bestimmte Vermächtniß des Heimgegangenen zurückzuweisen und es der Tochter zu überlassen. Die Familie Trautenau gab es aber, um den Willen des Todten zu erfüllen, an die Brüdergemeine zurück, damit es zu dem Zwecke diene, zu welchem es Mauer bestimmt hatte. – –

Mit dem ersten Schnee des November war ein langer, anhaltend strenger Winter eingezogen, der mit dem starren Bann seines Eises die Erde gefesselt hielt. Aber endlich regten die milden Lüfte sich wieder mit belebendem Odem und nahmen von den Gewässern die harte Decke des Eises hinweg – es war Frühling geworden.

Da warf die befreite Fluth des Erlenteiches aus seiner Tiefe einen entstellten Leichnam heraus. welchen sie den Winter hindurch geborgen gehalten hatte – es war die Leiche Jonathan's. Die Werthgegestände die bei ihr vorgefunden wurden, berechtigten zu der Annahme, daß Jonathan in der Flucht sein Heil hatte suchen wollen. Verlor der schuldbeladene Mann in jener nebligen Winternacht den Pfad und fand in den Wellen seinen Tod – oder trieb ihn die Angst seines erwachten Gewissens in die Fluth?




Blätter und Blüthen.


Die Kunst auf dem Lande. (S. 769.) Ein origineller Wiederhersteller erloschener Farbenfrische an den Werken der bildenden Kunst, die seinem Pinsel anvertraut werden, steht offenbar in dem Manne unserer Illustration vor unseren Augen. Wo derselbe zu Hause ist, wird uns von Eggert, dem Meister des Bildes, zwar nicht verrathen, aber um ihn mit einiger Sicherheit zu finden, werden wir ihn in der Heimath der kunstverwandten „Herrgottsschnitzer“, in den Alpenländern Baierns, besonders aber Tirols zu suchen haben, wo noch heute ganze Ortschaften in dieser Kunst sogar anerkannt Gutes leisten. – Bekanntlich hatten sich im spätern Mittelalter namentlich Deutschland und die Niederlande der Glanzzeit der Holzbildnerei zu erfreuen. Dort bildeten oft sehr figurenreiche Darstellungen den Hauptschmuck der Altäre und auch der Grabdenkmäler in den Grufthallen. Alle diese Werke der Holzschnitzerei wurden bemalt, und ebenso tragen die Christus- und Heiligenbilder der jetzigen Künstler des Faches den Schmuck kräftiger Färbung. – Daß der Mann unserer Illustration den höheren Künstlerkreisen nicht angehört, bezeugt uns sein „Atelier“ zur Genüge; auch das Malgeräthe spricht dafür, obwohl in seiner Hand auch feinere Pinsel gesehen werden, als derjenige, mit welchem er soeben das Gewand seiner Heiligen bestreicht. Dahin deutet wenigstens auf der Staffelei das Landschaftsbild, dessen befleckter Himmel ebenfalls seiner Restaurationskunst harrt. Zufrieden ist er aber mit seiner Arbeit; das zeigt der sachverständige Blick und der schmunzelnde Mund: die Farben werden halten, auch wenn die Heilige noch so viele Feiertagswäschen auszuhalten haben sollte.




Zu Konradin Kreutzer's hundertstem Geburtstage (22. November) werden unsere Leser ein biographisches Ehrendenkmal nicht erwarten, da wir solches genau vor Jahresfrist (Nr. 47, 1879), also zu des Componisten neunundneunzigstem Wiegenfeste, gebracht haben. Wir wählten diesen früheren Termin der Veröffentlichung, nun den Plan eines Kreutzer-Denkmals in Meßkirch auch unsererseits rechtzeitig zu befürworten.



Kleiner Briefkasten.

W. in Budapest. Sie finden die Aufsätze über den Eucalyptus im Jahrgang 1876, Seite 86, und 1880, Seite 386.

R. v. St. Sie haben vollkommen Recht. Unsere Angabe, daß Dettmer der geistige Erbe Ludwig Devrient's sei, beruht auf einem Druckfehler. Man lese: Emil Devrient!

Anna W. in P. Biographisches über Ferdinand Lassalle wollen Sie Jahrgang 1865, Seite 815, 1867, Seite 376, 1872, Seite 576, 1877, Seite 687 und 688 nachschlagen.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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