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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


sich aber mit der ernsten dramatischen Dichtung überhaupt abgefunden zu haben. Viele erste Hofbühnen dispensiren sich jetzt von der Pflicht, ein dichterisch gehaltenes Trauerspiel im Laufe der Saison zur Ausführung zu bringen. Die Berliner Hofbühne z. B. hat das Repertoire der nächsten Saison veröffentlicht; es finden sich auf demselben nur Salonstücke nach der neuesten Mode, kein einziges poetisches Werk. Doch Sie wenden vielleicht ein, verehrte Freundin, daß die Intendanzen die Poesie nicht aus der Erde stampfen können?

O nein, an poetischen Werken fehlt es nicht; haben doch erst drei dramatische Dichter neulich den Schiller-Preis erhalten. Wenn Sie meinen Worten nicht glauben, so glauben Sie diesem Comité, das ja der Sage nach aus lauter dramaturgischen Autoritäten zusammengesetzt ist. Nach den zwei vorausgehenden Triennien wurde der Schiller-Preis überhaupt nicht ausgetheilt: man wollte nur Unsterbliches krönen, doch man fand nichts Unsterbliches; möglich, daß es irgendwo hinter dem Rücken des Comités gedeiht: die Unsterblichkeit einer Dichtung gehört nicht so zu ihren sichtbaren Merkmalen wie die Pistille und Staubgefäße zur Pflanze; man kann sie ihr nicht ansehen. Gleichviel, der letzte Schiller-Preis ist wieder ausgetheilt worden; unter den preisgekrönten Dichtern befinden sich zwei Tragöden; was ist da natürlicher, als daß von Berlin aus eine bengalische Beleuchtung über alle Theaterrepertoires ausströmt, daß die tragische Muse mit der Berliner Lorbeerkrone auf hohem Kothurn über alle Bühnen schreitet? In Frankreich wäre es wenigstens selbstverständlich, daß eine von der Akademie gekrönte Tragödie auf der ersten Pariser Bühne und auf allen Bühnen des Landes zur Aufführung käme. Das ist in Deutschland ganz anders; eine solche Preiskrönung ist ein Schlag in’s Wasser. Sie geht durch alle Zeitungen; die Poeten erhalten ihre tausend Thaler, und damit ist’s abgethan.

Das scheint Ihnen unglaublich, und doch ist es noch nicht das Schlimmste. Die Sache ist noch viel pikanter. Im Preiscomité sitzen viele Bühnenleiter, Herr von Hülsen selbst, Dr. Förster in Leipzig und Andere; die Stücke, um deren willen, nach dem Bekenntniß eines Preisrichters selbst, Wilbrandt und Nissel[WS 1] den Preis erhielten, „Chriemhild“ und „Agnes von Meran“, sind von jenen Intendanten und Directoren sogar an ihren eigenen Bühnen noch nicht gegeben worden. Es ist wie bei einer Thierschau: man prämiirt irgend ein schönes Zuchtthier; man braucht es deshalb aber doch nicht für den eigenen Stall einzukaufen. Ein Glück, daß unsere Nachbarn jenseits des Rheins sich um unsere inneren literarischen und theatralischen Zustände so wenig kümmern: das wäre ein prächtiger Stoff für die boshaften Artikelschreiber der „Revue des deux mondes“, und bei dem esprit de corps, der jenseits des Rheines herrscht, würde diese Probe deutscher Anarchie dort einen höchst belustigenden Eindruck machen.

Sie sehen, verehrte Freundin, der Tragödie ist einmal nicht zu helfen, und es geht ihr schlechter, als der Copirtinte und den Stahlfedern, womit sie geschrieben wird; denn wenn diese bei irgend einer Ausstellung eine Medaille erhalten haben, so gehen sie wenigstens im Handel. Das Trauerspiel hat einen großen Feind, und dieser Feind ist allmächtig in seinem geheimen Wirken: es ist der Cassenrapport. Ein paar Rubriken und ein paar Zahlen: das ist alles; doch keine Kabbala kann einen größeren Zauber ausüben. Volle Rubriken, große Zahlen … das ist der Beweis für eine erfolgreiche glänzende Bühnenleitung; leere Rubriken, kleine Zahlen … da richtet sich das drohende Gespenst des Deficit empor, das in den Träumen der Intendanten eine ebenso unheimliche Rolle spielt, wie in denen der Privatdirectoren. Das Thermometer der Casse hat aber einen gewissen Nullpunkt: wenn eine Novität bei irgend einer Aufführung unter diesen herabsinkt, so wird sie beiseite gelegt – und es kann dies einem Trauerspiel schon bei einer zweiten und dritten Aufführung passiren. Da giebt es keine Appellinstanz mehr, und selbst die Berufung auf die Unsterblichkeit wird als unzulässig verworfen.

Herr von Hülsen ist ein liebenswürdiger Cavalier und ein tüchtiger zuverlässiger Geschäftsmann; dabei besitzt er die naive Offenheit, die ja auch in der Berliner Diplomatie jetzt zum guten Ton gehört. Er drapirt sich nicht geschmackvoll in Phrasen und Flausen; er sagt, was er denkt. Eines Tags kam ich mit ihm auf einem Rheindampfer zusammen, und trotz des wunderbaren Duftes, der über dem Rheingau lag, sprachen wir von der pappenen Coulissenwelt. Da erklärte er mir, daß er sich nur nach dem Geschmack des Publicums richte und demselben niemals ein Stück octroyiren werde. Ich führe das nur an, weil es das Glaubensbekenntniß aller Intendanten und Directionen ist. Und doch wird dieser sich selbst überlassene Geschmack die leichteste Kost wählen, stets das bequemste Vergnügen suchen. Alle bedeutenderen Dichtwerke werden nicht gleich auf ein so bereitwilliges Verständniß stoßen; von dem Verhältniß des Publicums zu ihnen gelten die Goethe’schen Verse:

„So nimmt ein Kind der Mutter Brust
Nicht gleich am Anfang willig an,
Doch dann ernährt es sich mit Lust.“

Und das Publicum selbst, als höchste Instanz?

Welch ein ungreifbares flatterhaftes Wesen, heute anders als gestern, hier anders als dort, unter der Herrschaft der Reclame oder der Mode stehend, bisweilen selbst unter der Herrschaft der Claque: welche literarische Erbärmlichkeiten sind nicht von diesem Publicum schon beifällig aufgenommen worden! Der Director in Goethe’s „Faust“ ruft dem Dichter zu:

„Seht nur hin, für wen ihr schreibt!
Wenn diesen Langeweile treibt
Kommt jener satt vom übertischten Mahle,
Und was das Allerschlimmste bleibt,
Gar Mancher kommt vom Lesen der Journale.
Man eilt zerstreut zu uns wie zu den Maskenfesten,
Und Neugier nur beflügelt jeden Schritt.
Die Damen geben sich und ihren Putz zum Besten
Und spielen ohne Gage mit.“

Das ist die Stimmung eines Theaterabends: sie kommt dem Flachen entgegen, dem Bedeutenden nur dann, wenn sein Verdienst ihr seit Jahrzehnten eingetrichtert worden ist. Mag dieses Publicum immerhin für die Intendanzen nur eine „ziffermäßige“ Bedeutung haben: sein Urtheil, auch wie es sich in Besuch und Nichtbesuch ausspricht, darf nicht allein den Ausschlag geben; reich dotirte Hoftheater haben auch die Pflicht der Geschmacksbildung, die Pflicht, die dramatischen Talente zu pflegen, und wenn ein Bühnenleiter eine starke Ueberzeugung von dem Werthe eines Dichtwerkes hat, so wird er dasselbe, auch bei anfangs nicht günstigen Cassenerfolgen, doch auf dem Repertoire zu erhalten wissen, indem er es in gemessenen Zwischenräumen wieder bringt.

Aber die Tragödie, verehrte Freundin, stößt noch auf andere Hindernisse. Es giebt wenig darstellende Talente für Charaktere, die im großen Stil gehalten sind; das Imponirende, Machtvolle, Heroische uns vorzuführen, fehlen oft die Mittel, öfter noch die Gewöhnung an große Aufgaben; es giebt Bühnen ersten Ranges, die keinen Helden und keine Heldin haben. Und dann – last, not least – die Kritik, verehrte Freundin! Es giebt glänzende Ausnahmen, aber ein großer Theil der Tageskritik liegt in den unberufensten Händen; sie begreift den Geist auf der Bühne, der ihr gleicht, den Geist der Trivialität, der faden Witzhascherei; sie läßt das Mittelmäßigste passiren, aber dem echten Dichtwerk tritt sie oft mit dem wohlfeilen Hohne ästhetischer Unbildung entgegen und mit dem ganzen Hochmuthe vermeintlicher Ueberlegenheit.

Auch das Lustspiel hat zum Theil seinen echten Charakter verloren: es ist ein Schwank geworden – und wir haben ganz muntere Schwankdichter – oder es schielt nach der rührseligen französischen comédie, deren gewagte Conflicte es indeß soweit verwässert, daß die Mischung für Confirmandinnen unschädlich ist. Auch hier fehlt es nicht an artigen und gewandten Talenten. Das sociale Schauspiel wird jetzt in der Regel stark mit criminalistischen Elementen versetzt. Dann aber giebt es noch eine unsagbare Dramatik, welche ganze Bühnen ausschließlich beherrscht, die aber für die Literatur verloren ist: pikante Operetten, Vaudevilles, Gesangpossen und großartige, aber alberne Ausstattungsstücke, fast alles ganz- oder halbfranzösischen Ursprungs, alles geeignet, das Publicum an das Fade und Nichtige zu gewöhnen und die bequemste Zerstreuung als den letzten Zweck der Bühne zur Gewohnheit zu machen.

Ich habe Ihnen, verehrte Freundin, kein Lichtbild unseres Theaterwesens entrollt, doch ich bin kein Pessimist und glaube nicht an seinen vollständigen Niedergang. Es ist dies eine Uebergangsperiode; sie wird sich vielleicht noch kritischer gestalten; hoffentlich wird diese Krisis eine wohlthuende sein.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Nissen
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 772. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_772.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)