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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf von Gottschall.
XXIV.


Wie sind Sie glücklich, verehrte Freundin, fern von dem Qualm der Städte ein beschauliches Leben führen zu können, ungestört von dem Lärm der gesellschaftlichen Vergnügungen, die, so verschieden ihre modischen Namen sein mögen, stets doch denselben Geist der Langenweile athmen! Sie kennen vielleicht noch gar nicht die modernen „Routs“, jenen höheren Grad verfeinerter Geselligkeit, bei welchem man auf die materiellen Genüsse verzichtet, ohne dafür geistige einzutauschen. Diese opferfreudige Verneinung jedes aufdringlichen Lebensgenusses zeigt, bis zu welcher Höhe der moderne Stoicismus sich erhoben hat; ja, er beschränkt sich nicht auf diesen Verzicht; er nimmt wirkliche Unannehmlichkeiten mit in den Kauf; denn mancher „Rout“ gleicht einem etwas civilisirten Volkstumult, mit leise angedeuteten Erstickungsgefahren; es ist oft unmöglich, einen nur zehn Schritt entfernten Bekannten zu erreichen und zu sprechen, weil der Weg zu ihm durch mehrere Kleiderschleppen und einige wie photographisch fixirte Gruppen versperrt ist, die sich nicht vom Platze rühren. Einer meiner Freunde, der in Folge einer unglücklichen philosophischen Neigung fortwährend auf der Jagd nach Begriffsbestimmungen für die Dinge dieser Welt sich befindet, erklärte mir einmal: „Ein Rout ist eine Gesellschaft, in welcher man nichts zu essen bekommt und sich gegenseitig auf die Füße tritt.“

Doch nicht von den „Routs“ wollte ich mich mit Ihnen unterhalten, sondern von einem andern gesellschaftlichen Vergnügen, ich meine vom Theater. Die „Routs“ gehören nicht in einen Literaturbrief, sie haben mit der Literatur nichts zu thun; – freilich! das Theater ist auch bald auf diesem Standpunkte angekommen; denn die Stücke, die am meisten gegeben werden, sind am wenigsten lesbar, und die meisten Treffer auf der Bühne sind Nieten für die Literatur. Sie haben seit Jahren vielleicht kein Theater besucht; Sie wissen nicht, wie einem Theatergänger zu Muthe ist, der fast allabendlich, mit dem Operngucker bewaffnet, Thaliens Tempel besucht und Studien auf der Bühne und im Zuschauerraume macht. Diese Theaterluft hat oft etwas Erstickendes; denn hier fehlt die äußere und dort die geistige Ventilation. Es weht durch unser ganzes Bühnenwesen eine etwas dumpfe Luft, und an dieser Verdumpfung haben die verschiedensten Factoren schuld.

Wir sind, verehrte Freundin, von der Lessing’schen Nationalbühne sehr weit entfernt. Ein berühmter Gelehrter am Neckar, der vier dicke Bände über Shakespeare geschrieben hat, verkündete einmal, das deutsche Volk werde erst ein großes historisches Drama haben, wenn es wieder Tragödien in der Wirklichkeit erleben würde.

Gervinus war stets unglücklich, wenn er den delphischen Dreifuß bestieg; auch in der Politik traf von Allem, was er prophezeite, das Gegentheil ein. So erging es ihm auch mit der Vorverkündung der im geschichtlichen Feuer wiedergeborenen Nationalbühne. Es kamen die Jahre 1848 und 1849, denen es durchaus nicht an geschichtlichem Sturme und Drange und an tragischen Begebenheiten fehlte; es kamen die Kriege von 1866 und 1870, die Gründung des neuen deutschen Reiches: Ereignisse, mit deren Bedeutung sich nichts von dem vergleichen läßt, was im Shakespeare’schen Zeitalter geschah, aber die deutschen Shakespeares, die große Tragödie blieb aus, mindestens auf der Bühne, deren Niveau immer mehr zu verflachen droht. Dramen, welche nationale Stoffe behandeln oder von patriotischem Geiste durchweht sind, lassen das Publicum kalt; ja, die Besiegten von Sedan sind die Sieger im deutschen Theater geworden, und französische Stücke überfluthen unsere Bühnen, nach 1870 noch mehr als früher. Deutschland im Schlepptau der französischen Cultur, und zwar nachdem das deutsche Kriegsschiff das französische in den Grund gebohrt hat: welch ein demüthigendes Schauspiel!

Die Abneigung gegen die ernste Dichtung höheren Stils ist eine Thatsache, die von allen Seiten zugestanden wird. So war es nicht in den Glanzepochen dramatischer Kunst, so nicht in Hellas in der glorreichen Zeit der griechischen Tragiker, so nicht im alten England, zur Zeit Shakespeare’s, so nicht in Deutschland, als Schiller seine Trauerspiele dichtete. Mit der Pflege der Tragödie sind alle classischen Epochen der Dichtkunst stets verbunden gewesen. Die Tragödie bleibt immer die höchste Gattung des Dramas; sie erfordert einen Dichter; die anderen Stücke lassen sich mit einem gewissen Maß von Bildung, Stil- und Bühnengewandtheit abfassen. Gleichgültigkeit gegen die Tragödie ist Gleichgültigkeit gegen die Poesie, und wo diese zur Signatur eines Zeitalters gehört, da ist es ein Zeitalter literarischen Verfalls.

Es ist ein eigen Ding um die Classicität, verehrte Freundin: Niemand weiß den Zeitpunkt zu bestimmen, wo sie einen Dichter mit ihrem Heiligenscheine umgiebt; ja es giebt der Ketzer genug, die sie nur für eine fixirte Mode halten. In der That ist es Mode, die Classiker zu besitzen und zu vergöttern, aber ihr Einfluß auf die Gesinnung unserer Zeit ist weit geringer, als man gewöhnlich glaubt. In wie vielen hunderttausend Exemplaren vom Palaste bis zur Hütte sind Schiller’s Werke verbreitet, wie macht sich die Jugend von den Dorfschulen bis zur Universität mit ihnen vertraut – und doch – kümmert sich unser Volk um seine ästhetischen Lehren? Wie hat er in seinen Distichen „Shakespeare’s Schatten“ den Realismus der Ifflandiaden, des bürgerlichen Dramas, gegeißelt, doch diese unsterblichen Gedenkverse sind in den Wind geschrieben; nach wie vor will das Publicum auf der Bühne nur die modernen Ifflands und Kotzebues: man glaubt wunder was für neue Genres entdeckt zu haben, wenn man im Stile von „Menschenhaß und Reue“ dichtet.

Das bürgerliche Drama, etwas verbirchpfeiffert und französirt, hat mit Lustspiel und Posse im Bunde fast die ausschließliche Herrschaft auf unserer Bühne.

Gewiß, auch diese Gattung hat ihr gutes Recht; wir finden sogar, daß Schiller zu scharf gegen sie in’s Feld gezogen ist; aber sie darf doch stets nur in zweiter Linie stehen. Sonst verwöhnt sie das Publicum. Es ist so bequem in den Spiegel zu sehen: man verlernt aber darüber, denn Blick höher hinauf zu richten.

Viele werden indeß leugnen, daß die Tragödie mit der Ungunst des Publicums zu kämpfen hat: wie, werden jetzt nicht sogar Shakespeare’s Historien zur Aufführung gebracht, oft in einem zusammenhängenden Cyclus, sodaß eine ganze Theaterwoche mit der tragischen Maske erscheint? Welch ein Fortschritt gegen das vorige Jahrhundert! Und wird nicht Goethe’s „Stella“, ja selbst der zweite Theil des „Faust“ jetzt auf die Bühne gebracht? Giebt man nicht überhaupt den „Faust“ in allen möglichen Einrichtungen und Gestalten, auf der eintheiligen und der dreitheiligen Bühne, in zwei, drei und fünf Theilen? als Mysterium, als Passionsschauspiel? Welch ein Respect vor der ernsten Dichtung!

Wir holen wenigstens das Versäumte nach und sind classischer, als das achtzehnte Jahrhundert war. Der zweite Theil des „Faust“ ist freilich eine Errungenschaft des neunzehnten; aber es sind Jahrzehnte vergangen, ehe man sich entschloß, ihn auf die Bühne zu bringen. Nun, er wirkt ja wie jedes Ausstattungsstück, bei dem es auf den Text nicht sonderlich ankommt. Was Goethe in das Stück hineingeheimnißt hat, kann ja auf der Bühne nicht ohne Commentar verstanden werden; dafür sieht man in dem Wirrwarr von halb und ganz allegorischen Scenen allerlei bunte, schönbeleuchtete Schaustücke, und wenn Musik und Tanz dazu kommt, so kommt ja ein Schauspielabend zu Stande, der sich mit einem Opernabend einigermaßen messen kann. Da schadet's ja auch nicht soviel, wenn man einmal das Textbuch vergessen hat und nicht recht weiß, was eigentlich auf der Bühne vorgeht. Was aber die Shakespeare’schen Historien betrifft, so sind wir Deutschen, abgesehen von dem, was des Dichters Genie unserem Geist und vor allem was die glänzende Inscenirung unserer Schaulust bietet, ja stets geneigter, uns für britischen Patriotismus zu erwärmen, als uns von unserem eigenen erwärmen zu lassen.

Nein, verehrte Freundin, ich sehe in allen diesen Experimenten nur Triumphe des Epigonenthums und finde, daß der Hochdruck einer mit so vieler Pferdekraft von Commentaren, Bühneneinrichtungen, Zeitungsnotizen arbeitender Classicität auf der Entwickelung unserer neuen Literatur in verhängnißvoller Weise lastet. Es wäre eine Schande für die Bühne, wenn sie nicht das Große der großen Dichter auf ihrem Repertoire bewahrte, aber das Verfehlte der schlafenden Homere, das Schwächliche und Grillenhafte, das Altersschwache und Veraltete, das Fremdartige gehört nicht auf die Bühne; das möge man der Literaturgeschichte und dem Privatstudium überlassen!

Durch die Darstellung der classischen Tragödien glaubt man

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 771. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_771.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)