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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


'Da wohnen sie,' spricht eine Stimme in mir, 'die gleich geschaffen sind, wie Du, die Gleiches fühlen, Gleiches leiden – die Tausende da draußen in der Welt.' Und es ist mir, als winkten mir tausend Hände, als öffneten sich tausend Arme – und dann faßt es mich wieder an, das Gefühl des Schauderns und Entzückens; sie zieht mich zu sich hinüber, die unbekannte Welt jenseits des Wassers, und – sagt, ist dieses Gefühl nicht auch Gott?“

„O Du herrliches Kind!“ rief er und ergriff ihre Hand. „Höchstes flammt in Deinen Worten.“

„Könnt' ich das Höchste nennen,“ erwiderte sie und entzog ihm schüchtern ihre Hand, „es wäre nicht Gott. Aber ich will auch nicht das Höchste; denn es läßt sich nicht fassen; schauen will ich es – schauen und leben – leben und – ja, ich weiß nicht, was ich will.“ Sie sann einen Augenblick nach. „Hört, die da drüben wohnen, in Städten und Dörfern, fühlen sie wie Karin? O, thäten sie es doch! Mitgefühl will ich – vielleicht ist es das.“

„Die da drüben wohnen!“ seufzte er. „Ach, in ein altes Buch bannen sie Karin's Gott und beten ihn an in Häusern von Stein.“

„Gott in ein Buch, in Häusern von Stein?“ fragte sie ungläubig lächelnd. „O, ich mag sie nicht, Eure Menschen. Ich kann sie nicht verstehen, nicht lieben.“

„Ein Engel wärest Du unter ihnen!“ sagte er begeistert. „Die Sterne ursprünglichen Empfindens und reinen Lebens sind längst untergegangen an ihrem Himmel. Eng und dumpf wohnen sie in großen Städten, und die schöne Einfalt der Natur ist ihnen lange gestorben. Wahn und Vorurtheil sitzen auf dem Throne; Haß und Hader schüren die Flamme, und um Mein und Dein ist ein ewiger Krieg. Du bist gut, Karin, aber sie – – o, frage mich nicht!“

„Nein, nein, nein, ich will sie nicht,“ fuhr Karin auf und erhob sich mit einer raschen Bewegung des Unwillens; sie strich das üppige Goldhaar kräftig, fast zornig aus der Stirn und warf den Kopf stolz in den Nacken. In dem lieblichen Kindergesicht leuchtete wieder der alte blitzartige Trotz auf. „Ich hasse Eure Menschen“ – sie schwieg – „ich hasse sie, weil Ihr sie scheltet,“ fügte sie sanfter hinzu, und dann sagte sie fast wehmüthig: „Karin paßt nicht in Eure Welt; Karin muß einsam bleiben immer und immer; Niemand, Niemand wird Karin lieb haben.“

„Der vor Dir steht,“ betheuerte er, „hat Paläste gesehen und Hütten, aber sein Herz blieb kalt. Und heute, da er Dich sah, Karin –“

„Ihr könntet Karin gern haben?“ fragte sie freudig erstaunt, und der ganze Zauber kindlicher Unbefangenheit blickte aus ihren Augen.

„Ja!“ sagte er. „Sehr, sehr!“ Er legte die Hand leicht an ihren Nacken und hob mit der andern ihr lächelndes Angesicht sanft empor.

„O, dann ist Karin fröhlich,“ sagte sie fast muthwillig. „Dann endet das Gefühl des Alleinseins,“ und ihr Blick ruhte lange und innig in dem seinen. „Es ist in mir ein Durst“ – sie schien über ihre eigenen Worte zu erschrecken, und der Schatten einer leichten Röthe flog über ihre Wangen – „ein großer Durst nach – hah! meine Tauben!“ brach sie plötzlich ab. Durch den Eingang der Grotte schweifte in großem Bogen, an der Wölbung hin, die schwirrende Schaar, und schnell, wie sie gekommen verschwand sie wieder durch den Ausgang.

„Ein großer Durst nach –?“ fragte Hallerstein.

„Der Habicht!“ schreckte sie plötzlich auf. „Der Habicht jagt meine Tauben,“ und über Klippen hinweg, hart an dem schäumenden Wasserfall vorüber, war sie in der Felsenwölbung verschwunden – mit ihr in mächtigen Sätzen Rustan, ihr treuer Gefährte.

„Ein großer Durst nach –?“ fragte Hallerstein träumerisch, indem er ihr nachblickte, und das Echo der Grotte neckte den einsamen Frager. „Nach der Liebe eines verwandten Gemüthes!“ antwortete er sich selbst, „welch eine Perle fand ich zwischen Fels und Klippen!“

Es war still rings um ihn; die Flamme knisterte leise, und als er hinzu trat, verglomm eben das letzte Reisig. Die feurigen Aederchen zerfielen, eine nach der andern, und mit den letzten Funken, die in der Asche erstarben, versank Hallerstein tiefer und tiefer in seine einsamen Gedanken. Sein früheres Leben zog an ihm vorüber: Leerheit und Lüge die vornehme Menschenwelt um ihn und ein Sclave, der nach Freiheit schreiet, das Herz in ihm – Ungenügen und Unlust mitten in einem Leben voll Glanz und Ueberfluß. Dann ein Bund, ein schmählicher Bund mit einem ungeliebten Weibe und Müdigkeit und Sättigung in der Blüthe der Jahre. Und nun? Die Eriken in den Nischen der Grotte dufteten es ihm entgegen, würzig und weich, der Wogenprall am Gestein rief es ihm zu, laut und lärmend: es ist Alles anders worden – plötzlich, wie ein Frühling, der in einer einzigen Nacht erblüht ist. Und er griff sich an's Herz und fragte sich: was wird nun kommen? Da scholl es vom Strande herüber – er kannte die Stimme, Karin's Stimme, die den Schiffern ertönt auf der bangen Irrfahrt – und sein Ohr trank durstig die schmelzenden Klänge:

„Es athmet sacht
Die Sommernacht
In den beglückten Zonen.
O, könnt' ich dort
Im stillen Port
Mit Dir, Geliebter, wohnen!“

Er lauschte athemlos – er bedeckte beide Augen mit den Händen, und einen Augenblick stand er träumend da. Draußen fielen die Wellen, sich hebend und senkend, mit gleichmäßigem Geräusche auf den Strand nieder, donnernd und brausend. Ein Lufthauch wehte ihn vom Ausgange der Grotte her feucht an; mit leichtem Frösteln trat er an den Wasserfall und blickte zur Felsöffnung hinaus. Himmel und Wasser noch immer im Sturm! Gegen Ost, West und Süd keine andere Grenze als Wellen und Wolken, schäumend und jagend. Seine Gedanken schifften mit Fluthen und Aether – es schauderte ihn heimlich. „Und morgen kann es Sonnenschein sein,“ sagte er leise vor sich hin, und sein Auge irrte durch den in Staub verwandelten Gischt, der die ganze Landschaft wie in Nebel hüllte.

Nun blieb sein Blick an einer vorspringenden Klippe hängen; vier Männergestalten standen darauf: Vater Claus mit den drei Burschen. Sie gesticulirten lebhaft. Der Alte zeigte wiederholt in die See hinaus und sprach eindringlich, aber die Anderen schüttelten die Köpfe und machten abwehrende Bewegungen. Was hatten sie vor? Dicht über den Vier, eine Felsterrasse höher, bewegte sich etwas auf einer breiten, flachen Steinplatte, schimmernd und schneeig – es waren Rustan's weiße Haare; mit gehobener Schnauze witterte er in den Sturm hinaus. Jetzt wehete es dicht neben ihm goldig durch die feuchte Luft; ein Mädchenkopf erschien im Nebel, und nun die ganze Gestalt. Karin beugte sich tief nieder; sie lauschte auf das Gespräch der Männer unter ihr. Dann machte sie eine energische Bewegung, wie Jemand, der einen schnellen Entschluß faßt. Sie winkte – sie kletterte die Felsen hinab. Olaf kam ihr auf halbem Wege entgegen. Sie sprachen mit einander; er nickte zustimmend, und schnellen Schrittes gingen sie davon und verschwanden in der Richtung zum Strande hin, wo das Boot lag. Rustan folgte ihnen.

Wie im Traum sah Hallerstein dieses Bild an sich vorüberziehen – noch beherrschte ihn ganz das eben Empfundene. Wie im Traum verließ er die Grotte – wie im Traum stieg er über die Felsstufen zum Ufer hinab. Die ziehenden Wolken des Sturmhimmels warfen ihre tanzenden Reflexe auf den steinigen Strand; es war eine mystisch-unstäte Beleuchtung, die über der Landschaft lag. In den Unterspülungen des Ufers gurgelten und glucks'ten die Wasser und wuschen die Steine aus dem Sande. Dort unten, zwischen Wurzeln und verworrenem Pflanzengerank, lag ein todter Baumstamm. Hallerstein setzte sich darauf und blickte gedankenvoll in die stürmende See hinaus; er spürte nicht Wind; er spürte nicht Wetter – er blickte hinaus, hinaus. Die Sonne stand hoch am Himmel – er sah nicht, wie sie den Nebel durchbrach. Es giebt Stimmungen in der Menschenbrust, wo Gedanken zu Träumen, Gefühle zu Ahnungen werden, geheimnißvolle, wolkenverhängte Stimmungen. Zwischen Himmel und Erde thront das Räthsel, und alles Höchste trägt den Schleier.

(Fortsetzung folgt.)



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