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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„Mein Herr,“ wandte er sich dann kalt und fest zu Jonathan, „wollen Sie, als Vorsteher der Schwestern, den Aeltesten Ihrer Gemeine gefälligst die Mittheilung machen, um jedem beleidigenden Mißverständniß dadurch zuvorzukommen: daß Sie Fräulein Carmen Mauer mit ihrem Bräutigam, dem Hauptmann von Trautenau, an der Wohnung ihres Vaters angetroffen haben, daß diese Dame, wegen ihrer Verlobung mit mir, die Wahl des auf sie gefallenen Looses ablehnen muß und überdem bald aus der Gemeine scheiden werde, um ihrem Gatten zu folgen?“

Er verbeugte sich gemessen vor dem maßlos Erstaunten, zog Carmen's noch immer fest gehaltene Hand durch seinen Arm und wendete sich mit ihr dem Hause zu.

Carmen hatte verwirrt, beinahe fassungslos auf seine Worte gehört; was er sagte, benahm ihr fast Athem und Besinnung, aber wie die Kraft seines Armes sie gehalten hatte, so hielt sie auch die Kraft seines Willens, und sie wäre ihm ohne Widerspruch gefolgt bis an das Ende der Welt. Doch jetzt, als sie mit ihm die Schwelle des Thores überschreiten sollte, durchzuckte sie die Angst um den Theuren, Tiefgebeugten, der dort oben einsam in seinem Zimmer weilte – ihm mußte zuerst geholfen werden, und besorgt wandte sie sich nochmals zu Jonathan um. Die Anklage und Drohung, welche dieser ihr entgegen geschleudert, hatten ihr plötzlich die Stelle gezeigt, wo sie vielleicht vermöge ihn zu fassen und für den armen Vater unschädlich zu machen.

„Bruder Jonathan,“ redete sie ihn an, „Du sagtest selbst, daß, wenn ich einem Manne schon verlobt sei, dies dem Loose seine Kraft nehmen würde. Du siehst nun, daß Deine Drohungen mir gegenüber ohnmächtig sind, wohl aber vermöchte ich der Gemeine eine Geschichte zu erzählen, die das Ansehen des frommen Bruders Jonathan nicht eben erhöhen würde. Du warst bisher gütig gegen meinen Vater – bitte, sei es auch fernerhin und schone seiner! Ich möchte gewiß nicht Unheil über Dich bringen, aber mit jeder Anklage gegen ihn würdest Du mich zwingen – – Du verstehst mich schon.“

Jonathan stand wie zerknirscht da, Alexander aber zog Carmen hinweg, indem er dringend bat: „Gehen wir zu dem Vater!“

Er öffnete das Thor und trat mit ihr in das Haus.

„Verweilen wir hier einen Augenblick, Carmen!“ sagte er. „Ich war zu schnell; der einzige Wunsch, Dich zu retten, hat vorhin meine schnelle Frage und Deine sofortige Antwort dictirt – die rasche That eines Mannes, der Dich mit seiner heißen Liebe einer drohenden Gefahr entrücken wollte, soll aber Deine Freiheit nicht hindern. Ueberlege es nun still, ob Du mich ein wenig lieben kannst – sonst nimm das schnell gegebene Wort wieder vor mir und nach einiger Zeit, wenn es ungefährdet für Deine Sicherheit geschehen kann, auch vor der Welt zurück! Laß meine Liebe Dich schützen vor Gefahr, so weit sie es vermag, aber nur wenn Du mich lieben kannst, sei mein!“

Es war dunkel um die Beiden, nur ein matter Lichtschein drang durch das Fenster über dem Hausthor herein und lag schimmernd auf dem weißen Häubchen des Mädchens. Für Alexander war es wie ein Heiligenschein; seine Augen blickten andachtsvoll darauf hin, und er wartete, ob ihm von dort das Heil kommen werde.

Carmen hatte mit gefalteten Händen da gestanden; nun hob sie die Arme und umschlang zärtlich Alexander's Hals.

„Ich liebe Dich mit meiner ganzen Seele,“ sagte sie leise, und mein Glück ist nur bei Dir.“

Er preßte sie mit stürmisch hervorbrechender Leidenschaft an sich und fast wie ein Schluchzen war es, als der starke Mann ausrief: „Carmen, meine Carmen!“ Er küßte sie innig. – –




11.

Von dem klingenden Marsch, unter dem die Einquartierung am nächsten Morgen abzog, drangen auch einige verlorene Töne in die einsame Zelle Bruder Mauer's. Er saß in sich vertieft. Eine Welt von neuen Gedanken war seit gestern Abend auf ihn eingestürmt: Carmen die Braut eines fremden Mannes! Anders, ganz anders auf einmal Gegenwart und Zukunft! Er sollte sein Jawort geben zu dem Bunde der Tochter. Alexander hatte sein ganzes Vertrauen. Die Entschlossenheit, Kraft und Würde, die sich in dem Wesen des jungen Officiers aussprach, berührten den innerlich Gebrochenen, Hülflosen belebend und hebend. Die Verbindung mit diesem Manne war ja für sein armes, bedrängtes Kind die einzig glückliche Lösung unseliger Verhältnisse, und wenn auch auf diese Weise Carmen aus seiner unmittelbaren Nähe entrückt wurde, war sie doch für ihn erreichbarer, denn als Frau des Missionars. Aber daß mit dieser Verbindung eine Trennung von der Gemeine verknüpft sein solle, machte ihn auf das Aeußerste besorgt für das Wohl seines Kindes; denn für ihn lag alles Heil und Glück und aller Friede nur in der Gemeinschaft der Brüder, in der strengen Ausübung ihres Glaubens und ihrer Gebräuche, in der gegenseitigen Liebe und Duldung.

Von der Gemeine wollte Carmen sich trennen um eines einzigen Mannes willen!? Er konnte es nicht fassen, sich nicht entschließen, dem zuzustimmen. Doch als sie bittend ihm zurief: „Vater, ich liebe Alexander so heiß, wie meine Mutter Dich geliebt haben mag,“ da durchzitterte ihn die Erinnerung an Inez' glühende Liebe, wie sie mit völliger Hingebung an ihm gehangen und ihre ganze Welt in ihm gesucht hatte, und er segnete den Bund der Liebenden.

Einen harten Kampf aber hatte Carmen mit Agathe zu bestehen. Als die Schwestern am Morgen aus dem Betsaale kamen, ging sie in das Zimmer der Chorältesten und theilte ihr mit, was sich gestern Abend ereignet hatte und welchen Entschluß sie gefaßt.

Agathe hatte aufmerksam und nachdenklich des Mädchens Worten zugehört. Auf ihrem sanften Gesichte lag tiefer Kummer.

„Carmen,“ sprach sie traurig, „nach dem, was Du sagst, hast Du Dich innerlich schon völlig von dem Gnadenantheil, der in der selbstlosen Hingabe an unsern Heiland liegt, und von unserer Brüdergemeinschaft gelöst, und dann ist es besser, es geschieht auch äußerlich; denn heucheln sollst Du nicht, nein, das nicht – Du würdest Dich selbst verlieren und uns nicht damit dienen.“

Sie stand auf, legte sanft die Hand auf Carmen's Kopf und sprach zu ihr:

„So gehe denn, liebe Schwester, den neuen Weg, den Du erwählet, und Gott gebe, daß er nicht zum Verderben führe! Wenn aber der Friede Dir fehlt und Dein Herz nach ihm verlangt und lechzt, wie der Verdurstende in der Wüste, dann kehre zurück zu der Gemeinschaft Deines Heilandes, auf daß wir Dir helfen, ihn wiederzufinden!“

Sie küßte das Mädchen zärtlich auf die Stirn, drückte sie nochmals an sich und entließ sie dann. Ihre Augen folgten wehmüthig der lieblichen Erscheinung Carmen's, wie diese nach der Thür schritt und das Zimmer verließ; dann faltete sie die Hände in einander und sagte in der tiefen Betrübniß ihres Herzens:

„Herr, vergieb Deiner Magd! Eine Seele, die mir anvertraut war von Dir und die zu leiten ich nicht verstand, scheidet von mir. Geht sie irre, so laß mich ihren Irrthum mit tragen; denn ich habe ihn mit verschuldet; weiß sie aber auch auf anderem Wege sich zu Dir zu finden, so nimm sie in Gnaden an! Ach, wie viel habe ich doch noch an mir und meinen Mängeln zu arbeiten, und doch soll ich für die Seelen derer sorgen, die Du mir übergeben hast. Aber ich gelobe Dir, nicht an mich zu denken und meiner nicht zu schonen, ob ich auch für Deine Sache, o Herr, leiden muß.“ – –

So war denn Carmen frei von den Banden, die sie lange genug widerwillig getragen. Alexander hatte mit ihr und dem Vater verabredet, daß sie jetzt zu seiner Mutter nach Wollmershain sich begebe, und die Trennung von dem Vater wurde ihrem liebevollem Herzen unendlich schwer. Das Schicksal hatte Beide kaum erst wieder vereinigt, und schon sollte Eines das Andere entbehren; dabei zu wissen, welche Seelenqual der Einsame erdulde, machte Carmen das Gehen beinahe zur Unmöglichkeit. Und doch mußte es sein; sie gehörte ja von nun an nicht mehr zur Brüdergemeinschaft, aber als sie schied, versprach sie, daß sie wöchentlich ein paar Mal den Vater besuchen wolle, und war erst dessen Haus fertig, so konnte sie auf längere Zeit zu ihm kommen – –

Bruder Mauer verlebte nun einsame Tage im Brüderhause, und als der Winter kam, war sein Haus vollendet, und er konnte es beziehen. Er nahm Schwester Ursula, eine ältliche Wittwe, als Dienerin mit dahin, ihm sein Hauswesen zu führen. Wie gern saß er hier an dem Fenster seines Zimmers, von wo aus er den Hügel mit dem Friedhof übersehen konnte!

„Diesen Weg werden die Brüder mich bald tragen,“ dachte er, „und es wird mir wohl sein, wenn es so weit ist. Wie habe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_762.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)