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Voltaire’s: „Was so dumm ist, daß man es nicht sagen kann – das singt man.“

Der zweite Grund, weshalb die Oper so oft die dramatische Darstellung einer Geschichte mehr verdunkelt und zerreißt als hebt und verdeutlicht, läßt sich, wie gesagt, auf die zur Zeit der Entstehung dieser musikalischen Kunstgattung herrschenden Verhältnisse zurückführen. Hier ist zunächst vom Uebel, daß für die Oper mit und neben einander zwei Sorten von Musik verwendet wurden, die sich in ihrer Qualität unterscheiden wie Meer und Ententeich, nämlich: die (einfache oder erweiterte) Arie und das Recitativ.

Als jene italienischen Schöngeister, welche um das Jahr 1600 mit der Zuziehung der Musik das griechische Drama restauriren wollten, aus der an und für sich spärlichen Zahl der damaligen Musikformen ausschließlich die Arie für ihre Zwecke verwandten, thaten sie es, weil diese Arie – der einstimmige Gesang mit Begleitung – gerade das Allerneueste war. Die Arie machte es außerdem dem Dilettanten viel bequemer als die mehrstimmigen Sätze und konnte im Drama recht gut überall da am Platze sein, wo die Handlung ein Ausruhen oder eine sammelnde Vorbereitung gestattete und forderte. Für den ganzen übrigen Theil der Handlung – sagen wir den erzählenden – boten die vorhandenen Mittel nichts Besseres als das Recitativ, eine Art Musik zweiter Classe, die in dem Kirchendienste in Brauch war und nichts weiter wollte, als daß die Worte in den großen Räumen besser verständlich wären, als wenn sie nur gesprochen würden. So wurden Arie und Recitativ zum Schema der Oper. Beide erfuhren im Laufe der Zeit mannigfache Modificationen: aus den einfachen Ariengesängen bildeten sich jene imposanten und verschlungenen Ensembles, die wir in der „Stummen“, dem „Tell“ und den „Hugenotten“ bewundern, und wer nur an die große Erzählung der Donna Anna denkt und an den Eingang der großen Arie von Beethoven’s Leonore, weiß, daß auch das Recitativ von den Segnungen der vorgeschrittenen Tonkunst profitirt hat. In diesem Schema schuf Beethoven seinen „Fidelio“ und Mozart den „Don Juan“. Gewiß: die dramatische Kunst wird nie lebendiger und packender gestalten, nie zu höheren und vollendeteren Leistungen gelangen können, als sie uns Mozart – beispielsweise – in dem ersten Finale dieser Oper vermacht hat. Aber ist es nicht niederschlagend, daß trotz dieser Meisterwerke, kaum nachdem ihre Schöpfer die Augen geschlossen, das allerdings unwiderstehliche Ohrengekitzel Rossini’s und das Raffinement Meyerbeer’s die Bühne beherrschen konnten? Ist es in der Ordnung, wenn der Genius und die aufgeputzte Niedrigkeit sich auf denselben Stuhl setzen dürfen?

An diesem Fehler war das Schema selbst schuld: in seiner Zwiespaltigkeit von Arie und Recitativ gab es die Veranlassung, daß ein Theil, nämlich die Arie, auf Kosten des Ganzen bevorzugt wurde. Die Oper konnte nicht gut viel mehr sein, als ein Arienspiel; das Drama dabei war meist Nebensache – in italienischen Theatern ganz eingestandenermaßen; da conversirte und promenirte man von Loge zu Loge, und nur bei besonderen Nummern schenkte man der Scene einige Aufmerksamkeit. Eine solche Oper war das reine Gartenconcert in geschlossenem Raume. In Deutschland ist der Anstand jederzeit mehr gewahrt geblieben, aber wer den Unterschied in der Wirkung von Recitativ und Arie anschaulich vor sich sehen will, der braucht nur die Gesichter der Zuhörer und das Aufathmen und Zurechtsetzen zu beobachten, wenn endlich das Orchester in einen regelrechten Tact einlenkt und der Sänger die Positur zu der längst erwarteten „Nummer“ einnimmt. Componisten, welche es mit dem Drama wirklich ernst meinten, scheinen nicht selten Noth gehabt zu haben, die Verfasser ihrer Libretti von diesem Ernste zu überzeugen. Das geht aus den Verhandlungen hervor, welche ein Mozart mit Da Ponte, Paisiello mit Dalasti und Andere mit Anderen geführt haben. Ja bis in die jüngste Zeit haben etliche Dichter einen besonderen Ruf für Operntexte deshalb genossen, weil sie es so virtuos verstanden, an einem dramatischen Skelet zahllose „musikalische Situationen“, wie eine Reihe von Mönchsgebeten, Krönungsmärschen, Mädchenreigen und andere Utensilien der Opernfabrikation anzubringen.

So war es trotz der Thaten der Meister das Schicksal der Oper, mit den bedeutendsten Kunstmitteln zu einem gewöhnlichen Amüsement zu dienen und das Publicum zu demoralisiren – darum hauptsächlich, weil ihr Schema ein fehlerhaftes war.

Es ist nun Wagner's erstes und größtes Verdienst, daß er diesem Uebel Abhülfe geschaffen und eine Methode gezeigt hat, in der die Operncomponisten den Zweck ihrer Aufgabe nicht so leicht vergessen können. Jederzeit wird es noch darauf ankommen, ob der, welcher die Oper schreibt, ein wahrer Künstler ist oder blos ein Routinier, aber soweit das Uebel seine Wurzel in dem alten Schema der Oper, in ihrem schroffen Unterschiede zwischen Recitativ und Arie – wir begreifen hierunter alle geschlossenen Musikformen, Ensembles, Finale etc. – hatte, ist es durch Wagner beseitigt worden. Wagner veranlaßte die Musik zum ersten Male ihre Gaben gleichmäßig über das Ganze zu vertheilen: dem Recitativ, der alten Quelle der Langweile, führte er einen neuen Strom von Musik zu, und der Arie entzog er unter Umständen von ihrem Ueberfluß; immer mit zwiefacher Berücksichtigung dessen, was dem Drama frommte, und dessen, was die Musik leisten konnte; denn von jener Zeit, wo die Oper erfunden wurde, bis auf die Jugendjahre Wagner’s war die Musik eine andere geworden. Innerhalb dieser Endpunkte lag die Entwickelung der Instrumentalmusik, welche inzwischen der Tonkunst ungeahnte Gebiete erschlossen. Wohl war sie für die Oper und auch für das Recitativ schon benutzt worden, aber Wagner war der Erste, welcher in ihren unerschöpflichen Schatz hineingriff mit dem bestimmten und festen Willen, sie zur Ausfüllung der alten gefährlichen Lücke der Opernform zu benutzen.

Bei Wagner begegnen wir zum ersten Male der angewendeten Symphonie und damit einer Eigenthümlichkeit, die seine Werke als eminent deutsche bezeichnet. Ihm, dem tiefen Kenner unserer Wiener Classiker, dem von Jugend an begeisterten Verehrer Beethoven’s, war der Glaube an die Macht und Verständlichkeit des Orchesters so natürlich und außerhalb jeden Zweifels, wie sein eigenes Leben, und nicht eine Secunde lang konnte es gerade ihm zweifelhaft erscheinen, daß in der Oper das, was die Menschenkehle nicht wiederzugeben vermag, die Instrumente zum Ausdruck bringen müßten. Und diesen Grundsatz führte Wagner in seiner Oper durch, erst unbewußt, dann immer sicherer und energischer, am gewaltigsten in seinem „Tristan“, der erhabensten und schwierigsten seiner Opern. Nach Beethoven’s Tode giebt es in der Musik nichts, was so neu, so hinreißend, so durch und durch lebendig, geistvoll und interessant ist, wie das Orchester der „Meistersinger“, des „Tristan“ und der „Nibelungen“.

Wie diese Instrumente jauchzen und jammern, lachen und klagen, scherzen und weinen, toben und träumen, andeuten und erzählen, beschwichtigen und antreiben können – das ist ein unbeschreiblicher Genuß, ein Genuß, von dem der Musiker nur bedauert, daß er nicht allen Menschen zugänglich ist. Unsere Zeit musicirt viel, aber man kann manchem dieser freiwilligen und berufsmäßigen Musiker zurufen: „Verstehst du auch, was du liesest?“ Und Wagner’s Instrumentalmusik verursacht in mancher Beziehung größere Schwierigkeiten, als die anderer Componisten. Man ist in der Oper nicht gewohnt, das Orchester überhaupt für so wichtig zu nehmen und die Aufmerksamkeit für dasselbe mit der für die Sänger zu theilen. Auch geübte Musiker unterliegen deshalb, neuen Werken Wagner's gegenüber, mitunter dieser Anstrengung mitten im Zuhören – wie viel mehr andere Opernfreunde, die noch durch den Dissonanzenreichthum seiner Ausdrucksweise genirt werden! Es ist ganz gewiß, daß der leidenschaftliche und extravagante Charakter, den Wagner’s Musik in vielen Partien trägt, sehr befremden und ermüden, und daß man dadurch behindert sein kann, zu der Poesie seiner Werke durchzudringen. Wo ein Kenner den Meister bewundert und von der Tragik seiner Situation sich in tiefster Seele gerührt und getroffen fühlt, wo er über den Humor und die Treuherzigkeit seiner Scenen lacht, kann ein Anderer unter dem Eindruck der bloßen Häßlichkeit stehen. Es kommt weiter in Betracht, daß wir nicht viele Wagner-Sänger wie Karl Hill und Albert Niemann, Heinrich Vogl und Therese Vogl haben und daß für eine große Anzahl von Sängern und Dirigenten der Stil der Wagner’schen Werke noch fremd und unüberwindlich ist. Es kommt ferner noch hinzu, daß auch der sagenhafte Stoff seiner Werke, über den sich viele Deutsche so freuen, anderen ein Verhältniß zu denselben erschwert, und es lassen sich der begründeten Bedenken noch mehrere erheben. Aber daß man angesichts der Partituren Wagner's und des unendlich gesteigerten Antheils, welchen er die Musik am Drama nehmen läßt, angesichts der Fülle neuer Aufgaben, durch die er ihr Ausdrucksvermögen bereichert hat, daß man angesichts dessen hat meinen können:

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verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1880, Seite 750. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_750.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)