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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

No. 46.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.




Zwischen Fels und Klippen.
Eine Strandromanze von Ernst Ziel.
1.

„Mutter Hedda, er regt sich – er lebt.“

„Wird leben, mein Kind, wenn die Sterne es wollen.“

Die Zwei, welche so sprachen, saßen niedergebückt in dem Winkel eines engen, schmucklosen Gemachs. Alles ringsum trug einen seemännischen Charakter. War es die Kajüte eines Schiffes? War es das Innere einer ärmlichen Strandhütte? Karten und Segel, Tauwerk und Ruder bedeckten in buntem Durcheinander die rohen hölzernen Wände; ein umgekehrtes kleines Boot war mit Hülfe von alten Brettern und seegrasgepolsterten Kissen zu einer Art Ruhebank umgeformt, und Fernrohre und Compasse, Wettergläser und Nebelleuchten vervollständigten die Geräthschaften dieser sonderbaren Wohnstätte.

Sonderbar war auch die Gruppe, welche der brennende Kienspan beleuchtete, der statt einer Lampe sein flackerndes Licht von der Decke herabsandte. Das wettergebräunte, runzelvolle Gesicht eines kauernden alten Mütterleins neigte sich tief nieder, so tief, daß ihm die langen grauen Haare über die Stirn bis auf die Augen fielen; diese Augen waren von einem seltsam mystischen Feuer durchglüht, unirdisch fast, aber nicht unheimlich; sie schienen einen Gegenstand besorgt zu prüfen, dessen Formen sich in dem Halbdunkel des engen Raumes in unbestimmten Umrissen vom Boden abhoben. Und dieselbe Sorge, dieselbe Unruhe lebte und bebte in den kraftvoll herben, aber eigenartig schönen Zügen eines Mädchenangesichts, das mit großen Abenteuer-Augen dicht neben der Alten aus der kienqualmigen Atmosphäre aufblickte.

„Schnell noch mehr vom heißen Branntwein, Karin!“ sagte die Alte, „und thu' auch etwas von den wunderwirkenden Kräutern hinein, Höhlenmoos und Klippengras und ein Bischen Teufelszwirn! Ich wußte längst, daß ein Unglück kommen mußte. Der Hundsstern hat schon wieder seit lange den verhängnißvollen Nebelschweif, und die Möven gurgeln jeden Abend hohl und dumpf in ihren Felsnestern.“

Ein grelles Licht glitt flüchtig über das Gesicht der Redenden hin; denn der Wind, der jetzt heftig durch die Esse pfiff, blies die Flamme des Kienspans heller auf, und für den Augenblick wurde das kleine Gemach licht bis in den verborgensten Winkel hinein. Auf einer breiten, groben Strohdecke lag vor den beiden Frauen, lang hingestreckt und in wollene Tücher eingehüllt, eine schlanke Jünglingsgestalt, blassen Angesichts und mit geschlossenen Augen, wie es schien, ohne Athem und Leben. Eine vornehme, bleiche Hand ruhte auf einer hochgewölbten Brust, und die langen blonden Locken, welche über den entblößten Hals und auf die Schultern herabhingen, trieften von Wasser; auch von der edel gebildeten Stirn tropfte es auf die blutlosen Wangen herab, und an dem leichten Reise-Anzuge des jungen Mannes schien kein trockener Faden zu sein.

Es war eine bange Stille, welche die drei Menschen umgab. Nichts regte und bewegte sich; nur die Schatten der beiden Frauen huschten in verschwommenen Zeichnungen an der Wand hin, und von draußen tönte das gleichmäßige Nieseln eines leisen Tropfenfalles herein. Mitunter freilich wich die Stille einem lauten Tosen; denn der Herbststurm tobte durch die Nacht; stoßweise trug er das Brausen der Brandung daher, die ein nahes Felsengestade zu peitschen schien, als wollten die grollenden Meergeister das Ufer stürmen und es hinabspülen in ihr wogendes Reich.

Plötzlich erscholl gellendes Gebell; nahende Männerschritte ließen sich draußen vernehmen; die Thür wurde schnell geöffnet, und ein prächtiger schneeweißer Hund von ungewöhnlich großem Körperbau, mit breiter muskulöser Brust und langen zottigen Haaren sprang in großen Sätzen in das Gemach; er umkreiste mehrmals die beiden Frauen, leckte dem Mädchen die Hand und schmiegte sich auf ein gebietendes „Kusch, Rustan!“ zu ihren Füßen nieder.

„Nichts als Trümmer wirft die See an's Land,“ sagte die Stimme eines kräftigen Greises, der dem flinken Thier gefolgt war. Hastig eingetreten, hemmte er auf der Schwelle den Schritt und überschaute mit prüfendem Blick die Scene; er stand wohl sechs Fuß hoch in seinen derben Krempstiefeln, eine frische, breitschulterige Gestalt, das Haupt voll Kraft und Energie.

„Nichts als Trümmer! Der ist der einzige Glückliche,“ fügte er hinzu, indem er auf den Jüngling am Boden zeigte. „Die Andern liegen am Meeresgrunde. Glücklich oder nicht – wer weiß? Vielleicht ist schlafen besser als wachen. Aber wie steht's mit unserm Gaste?“ Er trat näher an die Frauen hinan und warf einen theilnehmenden Blick auf ihren Pflegling. „Ei, das lob' ich, Karin, meine Tochter,“ wandte er sich dem noch immer am Boden kauernden Mädchen zu. „Sie nennen Dich eine Träumerin, eine Gauklerin, aber Du kannst mehr als auf Felsen tanzen und singen und mit dem Sturme um die Wette segeln. Bist auch eine gute Pflegerin, Du wildes Kind. Meiner Treu – sieh doch! seine Wangen färben sich unter Deinen Händen. Gottlob! 's ist keine Leiche, die wir beherbergen. Er wird die Augen aufschlagen – –“

„Wenn es in den Sternen so geschrieben steht,“ ergänzte Mutter Hedda ernst.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 745. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_745.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)