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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Präsidentenstuhle den Bonapartisten zu. Womöglich noch weniger paßt er auf den Fauteuil der Akademie, die ihn verflossenen Februar zu den Ihrigen ernannte. Für welche Verdienste? Doch nicht zur Belohnung seines politischen Dilettantismus oder seiner fragwürdigem Redekunst oder seiner schriftstellerischen Thätigkeit, die sich jeder Inventur entzieht? Aber der Herzog ist von hohem Adel, elegant und hat einen hübschen, energischen Kopf, und das befähigt ihn ja vortrefflich, unter den vierzig „Unsterblichen“ – Decoration zu spielen.

Viel kritischer und ebenso schlimm, wie in der Kammer, steht es im Senat mit der bonapartistischen Partei, die hier nur schlechte Politiker und Phrasendrescher zählt. Höchstens General Canrobert spricht mit einer Gewandtheit, die bei einem Soldaten doppelt verwundern muß; doch hat sein erst nach dreißig Jahren angestellter Versuch einer Reinigung von der Blutschuld, beim Staatsstreiche 1851 die Metzelei auf dem Boulevard Montmartre commandirt zu haben, die Monarchisten ungemein verletzt, ohne die Republikaner zu überzeugen. Im Uebrigen sticht seine offene Physiognomie und sein naiv klingender Auvergnatenaccent von dem Wesen der trockenen Schleicher Wallon, Broglie und Chesnelong erquickend ab. In Civil sieht er sogar wie ein englischer Specereihändler aus; vielleicht hat ihn die Londoner Gewürzkrämerzunft deswegen zum Ehrenmitglied ernannt.

Die überwiegend reactionäre Vertretung nahm eigentlich erst im Januar des vergangenen Jahres ein Ende, als auf fünfundsiebenzig neue Senatoren sechszig Republikaner gewählt wurden, aber daß auch dieser freisinnigen Mehrheit jede radicale Neuerung mißliebig ist, bewies die Ablehnung des Ferry’schen Schulgesetzes und die Stellung, welche der Senat in der anticlericalen Bewegung nahm. Man braucht kein Freund der rothen Partei zu sein, um die Bekämpfung, der Uebergriffe einer unduldsamen und gierigen Kirche in die staatliche Machtsphäre hinüber für aufgezwungene Nothwehr zu halten. Nur die von jesuitischem Geiste gereinigte Schule vermag ein politisch reifes Volk zu erziehen, und im Mangel an solcher Durchbildung liegt es, daß der sogenannte „Culturkampf“ selbst in vorzugsweise protestantischen Ländern kläglich im Sande verlaufen mußte. Das wissen die Pfaffen aller Bekenntnisse sehr wohl, und daher rührt ihr Haß gegen die moderne Erziehung. Diese ist dem seit neunzig Jahren in Parteikämpfen sich aufreibenden Frankreich um so nothwendiger, als besonders das destructive Proletariat dringend der gesunden Aufklärung bedarf. Je weitere Kreise der freie Volksunterricht zieht, um so unmöglicher werden die Revolutionen und um so leichter die zukünftige Lösung aller socialen Fragen. Wie kommt es nur, daß mehrere der bedeutendsten liberalen Senatoren sich dieser Wahrheit verschließen konnten und daß sogar drei berühmte Professoren von Paris, Jules Simon, Laboulaye und Littré, sich von ihren freisinnigen Principien lossagten, um die Regierungsvorlage in so heftiger Weise anzugreifen, daß deren Abweisung zuvörderst ihrem Einflusse zuzuschreiben ist?

Ja wohl, Jules Simon, der namhafte Förderer französischer Volkserziehung, der gleich nach dem Kriege einen Gesetzentwurf für den unentgeltlichen und obligatorischen Besuch der von allem clericalen Einflusse befreiten Schule vorlegte, stimmt heute gegen die souverainen Rechte des Staates im Unterrichtswesen und für die Verpfaffung der Universität, deren Zierde er gewesen ist! Unterrichtete Leute, die den ehemaligen Minister des Cultus und der Landesvertheidigung genau kennen, versichern freilich, nur ein krankhafter Ehrgeiz und seine alte Rivalität mit Gambetta, dem er 1871 die Dictatur „nöthigenfalls mit Gewalt“ abzunehmen hatte, wären an seinem Uebertritt zur Reaction schuld. Jedenfalls, ist Jules Simon ein gefährlicher Gegner, dessen außerordentlicher Rhetorik nur die Sprachgewalt Gambetta’s gewachsen ist. Sein Organ verfügt über alle Register der Leidenschaft, schmeichelt sich ein und verführt, pointirt die feinsten Schläger und entwaffnet und reißt den Gegner fort. Alle Kniffe und Pfiffe, advocatorischer Suada sind ihm geläufig, aber er vergißt doch niemals den großen Stil der öffentlichen Beredsamkeit. Wie schade, daß sein herrliches Instrument eine staatsfeindliche Weise spielt!

Er wird im Senate eifrig von einem schulmeisternden Männchen begleitet, das wie ein Quäker aussieht, jedes Wort mit einer leichten Handbewegung und jeden satirischen Hieb mit einem malitiösen Augenzwinkern begleitet und seine besten Inspirationen aus dem Glase Zuckerwasser schöpft. Wer Laboulaye's treffliche „Geschichte der Vereinigten Staaten“ und den humoristischen Roman „Paris in Amerika“ gelesen hat, wundert sich wohl nicht, warum der Begründer der rechtsgeschichtlichen Studien in Frankreich blos die Trennung von Staat und Kirche befürwortet und jede andere Maßregel gegen die clericale Landplage im Namen von Franklin und Washington verwirft. In seiner Vorliebe für die Institutionen der Union scheint er das im Lande absoluter Religionsfreiheit constatirte riesenhafte Umsichgreifen des Ultramontanismus, das kaum zu Gunsten seiner Theorie sprechen dürfte, ganz zu übersehen. Der starre Principienreiter verfolgt jedoch unentwegt sein Ziel und kehrt sich nicht im mindesten an die veränderliche Volksgunst.

Männlicher Stolz zeichnet auch den großen Sprachforscher, Arzt und Philosophen Littré aus, der bis vor Kurzem von Clericalen wie ein leibhaftiger Gottseibeiuns verflucht wurde. Der berühmte Positivist, bei dessen Wahl in die Akademie der ultramontane Heißsporn Bischof Dupanloup seinen Austritt erklärte, sieht in der Gesellschaft freilich sonderbar genug aus. Ein schönes Bild bietet der bald achtzigjährige Greis ohnehin nicht. Böse Zungen behaupten sogar, erst ein Blick in den Spiegel auf sein braunes, fast schwarzes Gesicht mit dem großen Munde, der vorstehenden Unterlippe und den unter buschigen Brauen und riesenhaften Brillengläsern versteckten Augen habe ihn zum Theoretiker der Darwin’schen Menschenabstammungslehre gemacht.

Noch stutziger kann man aber werden, wenn man den republikanischen Exminister der Justiz, den greisen Dufaure, im nämlichen Lager kämpfen sieht, und zwar nicht aus ehrgeizigen Gründen, noch mit den starren Grundsätzen der dilettantischen Politiker Laboulaye und Littré. Den originellen und ausgezeichneten Redner leitet ganz einfach das praktische Gefühl, daß der Culturkampf durch die gegenwärtige Generation und obendrein in einem gut katholischen Lande unmöglich siegreich ausgefochten werden könne. Die unter Napoleon dem Dritten und seiner spanisch bigotten Throngenossin unglaublich erstarkte Clerisei muß der jungen Republik um so verhängnißvoller werden, als das Landvolk gar leicht durch schwarze Agitatoren aufgeregt und geängstigt werden kann. Bereits hatte das Ausweisungsdecret gegen die staatlich nicht anerkannten Körperschaften die Entstehung eines rein clericalen Centrums zur Folge, womit das französische Parlament, zum Unterschiede vom deutschen Reichstage, seit langen Jahren nicht mehr heimgesucht war.

Aber noch nicht alle Kathedergrößen des Senats theilen die jesuitenfreundlichen Bedenken, so z. B. nicht der bekannte Philosoph und Secretär Thiers’ Barthélemy-Saint-Hilaire, übrigens auf der Tribüne ein ziemlich langweiliger Schulmeister, und der ehemalige Professor von Pau Challemel-Lacour, der während seiner zwanzigjährigen Verbannung in Deutschland und der Schweiz lebte. Nach Frankreich zurückgekehrt, sprang er auf das Feld der Politik und hatte sofort reichliche Gelegenheit, die von seinem Freunde Arthur Schopenhauer gelernte philosophische Resignation zu üben. Er wurde nämlich von Gambetta als Rhone-Präfect nach Lyon geschickt, als dort auch eine Commune ausbrach. Man hat immer geglaubt, daß Challemel daselbst den jacobiner Proconsul gespielt habe, und sein angeblich historisches „Erschießt mir alle diese Leute!“ wird noch heute von den Reactionären als geflügeltes Wort citirt, um furchtsame Wähler in’s Bockshorn zu jagen. In Wahrheit war aber der „moderne Robespierre“ selbst Gefangener des Lyoner Wohlfahrtstribunals, und er mußte „all diesen Leuten“ drohen, um nicht selber erschossen zu werden. Fünf Monate dauerte diese schreckliche Komödie des „Communehäuptlings wider Willen“. In den Senat gewählt, zeigte er sich als einer der gewandtesten Redner, der stets den Kern der Sache trifft und zu überzeugen versteht. Immer, wenn eine wichtige Verhandlung stattfand, kam er von Bern, als er dort Gesandter geworden, um an der Debatte oder doch am Votum theilzunehmen.

Eine nicht minder wichtige Persönlichkeit ist Victor Schölcher, der Barricadenkämpfer von 1848 und Agitator für Abschaffung der Sclaverei in den Colonien. Während des Kaiserreiches lebte er als Flüchtling in London und schrieb in englischer Sprache ein werthvolles Buch über unsern Händel, eine Huldigung, die er dem allzeit gastlichen England und wohl auch ein wenig seinem deutschen Stammlande brachte.

Den Schriftstellerkreisen gehören im Weiteren an die beiden Redacteure des „Temps“, Hébrard und Edmond Scherer, der gediegene Kritiker, und ferner der bekannte Leiter des „Journal

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 726. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_726.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)