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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Portraits vom französischen Parlament.
2. Der Senat.


„Freiheit, Gleichheit! Brüderlichkeit!“ Diesen theoretisch so wunderschönen Wahlspruch der großen Revolution, der auf allen öffentlichen Gebäuden von Paris eingemeißelt ist, kann man auch über dem Portal von Maria’s von Medici Luxembourg-Palaste lesen, wo unter vielen Anderen auch der Vicomte von Beauharnais und seine Frau Josephine, die nachmalige Kaiserin, hinter Schloß und Riegel saßen und Camille Desmoulins, Danton, Robespierre ihr Todesurtheil empfingen, wo Napoleon und sein bedientenhafter Senat walteten und später die Pairskammer über den Marschall Ney, die Minister Karl’s des Zehnten, die Attentäter Fieschi, Boireau und Consorten, den Putschversucher Prinzen Louis Napoleon und Andere so lange vor Gericht hielt, bis eine neue Revolution sie auseinander jagte. Hier zog auch am 27. November 1879 der Senat der dritten Republik aus Versailles ein. Möge er die Inschrift des Hauses besser beherzigen, als die früheren Bewohner!

Der Sitzungssaal enthält die fächerförmig aufgestellten Bänke der dreihundert Senatoren. In einer Nische steht vor edlen Marmorsäulen das Podium der Präsidenten, der Secretäre und Redner. Die Beleuchtung geschieht durch elektrische Kerzen, und es ist ein schöner Anblick, wenn die ernsten Standbilder Karl’s des Großen, den die Franzosen bekanntlich zu ihren Fürsten zählen, Turgot’s, Colbert’s und des muthigen Malesherbes von ihrem scharfen Lichte überfluthet werden.

Dem Besucher fällt wohl zuerst die Menschenleere der Zuschauerräume auf. Nur die Berichterstatter größerer Tagesblätter und wenige Vergnügungsreisende, welche den Luxembourg der berühmten Kunstsammlung halber betreten und nun auch gleich eine Sitzung des Senats „mitnehmen“, sind in den Logen zu sehen. Die Stammgäste, deren die Gallerie des Deputirtensaales so viele zählt, mangeln hier ganz. Diese Gleichgültigkeit des Publicums ist schon durch den Charakter des Oberhauses bedingt! Während die aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgehende Abgeordnetenkammer im Uhrwerk der französischen Staatsmaschine die Unruh vorstellt, vertritt der Senat mit seinen theils von der Nationalversammlung, theils von den Gemeinden auf drei, sechs, neun Jahre oder als „unabsetzbar“ gewählten Mitgliedern das Princip der Controle, des Stillstandes oder gar des Rückschrittes. Schon ein Niederblick aus der Vogelschau des Journalistenverschlages erklärt die überbedächtigen Tendenzen der Honorabeln. So weit das Auge reicht, sieht man nichts als speckglänzende „Billardkugeln“, wie der Pariser die Kahlköpfe nennt. Es sind ja meist alte Herren, und wenn auch einer die gesetzlich erforderten vierzig Lebensjahre kaum überschritten hat, so ist er doch ehrlich bestrebt, sich eine mehr oder minder imposante Glatze anzuschaffen, die nun einmal zur Senatorentoilette zu gehören scheint, wie die Tonsur zum katholischen Priester. Und wie leise, langsam und höflich sind die Ehrenwerthen! Während es in der Kammer wie aus der Tiefe eines Hexenkessels brodelt und braust und zischt, ist hier über all den kahlen Gipfeln Ruh’. Mechanisch greift der Vorsitzende ab und zu an die Glocke und klingelt schüchtern und verschämt, als wolle er um Verzeihung bitten, daß er so frei sei, die unverbrüchliche Stille zu unterbrechen, und fällt ja einmal ein lautes Wort in dieser edlen Zunft der Leiseredner und Leisetreter, so betrachtet man den tollkühnen Störenfried wie einen Rasenden. Man zaubere nur durch ein magisches Mittel oder ein Wahlmanöver die paar relativ jugendlichen Senatoren de Gavardie von der Rechten und Testelin und Tolain von der Linken hinweg, und man wird sich beinah in einer Kirche glauben. So war es wenigstens unter dem letzten Präsidenten, dem immer kränkelnden Martel, und seinem Stellvertreter, Grafen Rampon. Vielleicht ändert sich das unter seinem Nachfolger, dem ehemaligen Seinepräfecten und Finanzminister Léon Say, der jüngst vom kaum angetretenen Londoner Botschaftsposten hinweg zum Vorsitzenden des Senats ernannt worden ist. Der verführerische, vielgewandte Staatsmann dürfte sich zum Präsidenten trefflich eignen, obgleich der Schwerpunkt seiner eigentlichen Begabung auf finanziellem Gebiete liegt. Als Redner folgt er offenbar englischen Mustern. Er ergreift das Wort nur, wenn er wirklich etwas zu sagen hat, und plaudert lebhaft und munter stets zur Sache, namentlich gern in sprechenden Ziffern. Ohne Zweifel denkt er auch in Zahlen. Er ist die fleischgewordene Algebra. Durch die Weigerung, seine Partei des linken Centrums mit den Monarchisten zur Krönung des Grafen Chambord zu vereinigen, hat er der Republik einen Dienst geleistet, den sie ihm nicht vergessen wird.

Aber auch um seines reactionären Uebergewichtes willen hat der Senat die Erbschaft der verhaßten Pairskammer angetreten. Bis zu den Februarwahlen 1876 war die große Mehrheit entschieden monarchistisch und ultramontan, und nur so ist es möglich, daß der letzte Sprosse der älteren bourbonischen Linie drei Jahre zuvor nach Versailles kommen konnte, um mit den Repräsentanten einer Republik über seine Thronbesteigung zu unterhandeln. Erst durch den Uebertritt einiger Orleanisten zur Linken wurde das unleidliche Provisorium beseitigt und die Verfassung vom 25. Februar 1875 mit einer ganzen Stimme Mehrheit angenommen. Auf solche Weise gelangte der Urheber dieses noch zu Recht bestehendem flüchtigen Machwerkes, der reactionäre Professor Wallon, zum unverhofften Namen eines „Vaters der Republik“. Weß Geistes Kind er aber ist, bewies er als Unterrichtsminister, der die Gründung katholischer Universitäten unterstützte. Als Redner zeigt er noch heute eine Gründlichkeit, die ihn z. B. bei Verhandlungen über erbrechtliche Fragen immer mit Esau’s Linsengericht beginnen läßt, und als Schriftsteller bringt er es über geistige Dürre und sitzlederne Beschränktheit nie hinaus, wie sein Buch über Jeanne d’ Arc beweist. Auch sein nicht weniger unbedeutender Gesinnungsgenosse Charles Chesnelong, der „Senator des Syllabus“, wie er sich gerne nennt, gehört zum reactionären Triumvirat, dessen Führer, der Herzog Albert de Broglie, unstreitig eine interessante, aber nichts weniger als anmuthende Figur im französischen Parteileben ist.

Der heute fast fünfzigjährige Herzog war bis zum deutsch-französischen Kriege als wortreicher Vertheidiger der blindreactionären Interessen nur aus monarchistischen Blättern und aus der Akademie bekannt. Erst nach dem Sturze des Kaiserreiches, das ihn von allen öffentlichen Angelegenheiten fern gehalten, drängte ihn der lange niedergekämpfte Ehrgeiz auf die politische Bühne. Broglie ist der Meister der Verwickelung, ein diplomatischer Intriguant, ein schleichender Dunkelmann, der alle Wässerchen trübt, um darin zu fischen. Er war es vorzüglich, der die reactionäre Coalition zum Sturze Thiers’ zusammen brachte, und wenn Chambord’s Krönung und Mac Mahon’s Staatsstreichversuch am 16. Mai 1877 mißlangen, so ist es wahrhaftig nicht seine Schuld. Ein vortrefflicher Plauderer, spielt der mittelgroße, hagere Cavalier mit dem glattrasirten, gelben Gesicht und seinem stets ausweichenden Blicke, dessen trotzige Falschheit ein ewiges Lächeln versüßen möchte, auf der Rednertribüne doch eine sehr klägliche Rolle. Zwar sind seine Ansprachen formell tadellos, im Ausdruck gewählt und voller Epigramme, die gleichsam an die unscheinbaren, aber tiefen Stiletstiche seiner italienischen Heimath gemahnen, aber der von automatischen Armbewegungen begleitete leise Vortrag verdirbt die besten Absichten. Sein Organ ist ein spitziges und so dünnes Falsett, daß es in der lärmvollen Kammer geradezu unverständlich war und sogar im höflicheren Senate die Worte nur errathen läßt. Gewöhnlich glaubt man gegen das Ende der Perioden, das Flüsterconcert werde sich bis zum gravitätischen Wohlklang erheben, aber gerade jetzt klopft der Redner auf den marmornen Tisch oder auf seine dort zerstreut liegenden Notizen und Acten, und die ungeduldig erwartete Pointe verliert sich spurlos im leisen Geräusch. Es ist ein polizeiwidriger Musikversuch, ein 16. Mai in Tönen! …

Von den übrigen Vertretern der Opposition nennen wir einzig noch den vorletzten Präsidenten des Senats, den Herzog d’Audiffret-Pasquier. Auch er gehört zu den zahlreichen Royalisten, welche nur deshalb für die Republik stimmten, weil sie in ihr einen kurzen Uebergang zur Monarchie sahen. Sein heftiger und herrischer Charakter machte ihn wenig zum Vorsitze geeignet, doch hat er eine gewisse Schlauheit, die ihn stets verhindert, sich ernsthaft zu compromittiren. So trat er noch rechtzeitig von der Mai-Verschwörung zurück und verwahrte sich gegen jeden Gewaltact. „Ich hasse Euch seit zwanzig Jahren!“ rief er vom

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 724. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_724.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)