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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„Vater, meine Gedanken verwirren sich bei alledem; ich kann Dich nicht verstehen, nicht begreifen. Wie kann ein Mensch solche Macht über den anderen haben, daß darum ein Vater sein Kind schutzlos läßt?“

Mauer seufzte schwer auf. Carmen erhob sich und begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Draußen tobten Sturm und Gewitter im unaufhaltsamen Kampf; hier innen suchte das arme Kind ihr stürmisches Herz zu beruhigen und die heftig arbeitenden Gedanken zu klären, zu ordnen.

„Vater,“ brach sie endlich das Schweigen, indem sie sich in einen Sessel neben den Alten niederließ, „rede, laß mich hören, wie und womit Bruder Jonathan Dir zu schaden vermag, wenn er seine Macht, von welcher Du sprichst, gegen Dich kehren sollte? Wie wenden wir die Gefahr ab?“

„Carmen,“ erwiderte er leise und zaghaft, „könntest Du es denn ertragen, in Deinem Vater einen Schuldigen, einen großen Sünder zu sehen?“

Er sah so gebrochen, so grenzenlos elend aus, daß ihr gutes, liebendes Herz von Mitgefühl und Erbarmen überströmte. In das theure Angesicht des Vaters zu sehen und darin den Jammer von Schuld und Selbstanklage zu lesen – das krampfte ihr das Herz schmerzlich zusammen, und heiße Thränen traten ihr in’s Auge.

Sie schlang die Arme um seinen Hals und sagte zärtlich: „Vor Deiner Tochter kannst Du keine Schuld haben und hast Du sie vor der Welt – o, glaube mir, ich werde Dich trotzdem lieben und Dein Leid Dir tragen helfen, Vater.“

Er schluchzte laut auf und drückte das Mädchen an sich.

„Mag es Gottes barmherzige Gnade sein, die durch den Mund meines Kindes zu mir spricht! Er segne Dich, und um Deinetwillen, und weil ich schwer gebüßt habe, mag er mir großem Sünder vergeben! Es ist eine alte Geschichte von Trübsal und Schuld, die ich Dir erzählen muß, mein Kind – von Trübsal und Schuld, an denen ich schwer und lange getragen habe – schon neunzehn Jahre. Höre denn, Carmen!“


(Fortsetzung folgt.)



Die „Entwickelung“ des Farbensinns.
Von Carus Sterne.

Die Vorliebe des neuen englischen Premierministers für altgriechische Studien, auf welche die Neugriechen ebenso große Hoffnungen setzten, wie vordem die Türken auf die orientalischen Liebhabereien seines Vorgängers, hat uns in den fünfziger Jahren mit einer höchst merkwürdigen Thatsache bekannt gemacht. Gladstone fand nämlich, daß in der Entstehungszeit der homerischen Gedichte nur die Farbenbezeichnungen für rothe und gelbe Gegenstände mit einiger Sicherheit gebraucht wurden, während die Bezeichnung des Grünen (chloros) mit der des Fahlen und Gelblichen und die Farbworte für Blau (glaukos und kyaneos) mit den Bezeichnungen des Grauen und Schwarzen oder Dunklen zusammenfielen, sodaß mit dem letzteren Worte bald die blaue Farbe des Wassers und der Kornblume (Cyane), und bald die schwarze der Haare und Augenbrauen des Donnerers Kronion, und die dunkle des Trauergewandes der Thetis charakterisirt wurden. Gladstone schloß aus dieser Unbestimmtheit der Ausdrücke in dem 1858 erschienenen dritten Bande seiner „Homerischen Studien“, daß unter den Griechen der homerischen Zeit das Vermögen, die Farben zu unterscheiden, im menschlichen Auge kaum in seinen Anfängen entwickelt gewesen sei, daß im Wesentlichen nur Helligkeitsunterschiede wahrgenommen wurden, und daß, da auch die Empfindung des Rothen sehr unsicher gewesen sei, die Welt im Wesentlichen von ihnen „Grau in Grau“ gesehen worden sei.

Diese wahrhaft „graue Theorie“ wurde von einem deutschen Sprachforscher, dem leider zu früh verstorbenen Lazarus Geiger, mit jugendlicher Begeisterung aufgenommen und dahin ausgedehnt, daß bei sämmtlichen alten Culturvölkern der Farbensinn eine mangelhafte Ausbildung besessen hätte und daß nicht blos in den Schriften des blinden Homer’s, sondern auch in denen der alten Juden, Chinesen, tatarischen und germanischen Völker Blau und Schwarz mit demselben Worte bezeichnet, ja daß sogar noch bei Virgil das Farbwort für blau (caeruleus) auch für schwarz und dunkel gebraucht worden sei. In den vedischen Schriften, im Avesta, in der Bibel und selbst noch im Koran geschähe der Himmelsbläue ebenso wenig Erwähnung, wie bei Homer, und die aramäischen und hebräischen Dialekte der alten biblischen Völker hätten gar keinen Ausdruck für die blaue Farbe gehabt. Indem Geiger sein weiter ausgemaltes Phantasiegemälde vor die 1867 in seiner Vaterstadt Frankfurt am Main tagende Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte brachte, gab er seinen Ideen einen weiten Wiederhall, und ein volles Jahrzehnt hindurch blieb es einer der beliebtesten Stoffe für einen packenden Journalartikel, den Lesern zu erzählen, daß die Griechen das herrliche blaue Meer ihrer Küsten und die Pracht ihres tiefblauen Himmels gar nicht zu würdigen vermocht hätten. So populär wurden diese Gedanken auch in Künstlerkreisen, daß der geniale Feuerbach, wie es scheint, von ihnen verführt, sein im Jahre jener Rede gemaltes „Gastmahl des Plato“ so im Geiste der alten Griechen, das heißt so farblos malte, daß selbst die farbigere Wiederholung in der Berliner Nationalgallerie uns „Grau in Grau“ gemalt erscheint.

Geiger und andere der Naturforschung fernstehende Personen brachten diese graue Theorie mit den Grundgedanken der Darwin’schen Theorie in Verbindung, und eine Schaar oberflächlicher Philosophen schwelgte in der Idee, der Farbensinn gehöre zu den höheren geistigen Fähigkeiten, die erst im Menschen langsam zum Ausdruck gekommen seien. Es muß indessen zur Abwehr neuerer Zumuthungen, als ob dieses Traumbild ein darwinistisches sei, hier betont werden, daß weder Darwin an irgend einer Stelle seiner so vielfach die Entwickelung der menschlichen Fähigkeiten und des Farbenschmucks der Naturwesen behandelnden Werke, noch irgend ein anderer namhafter Vertreter seiner Lehre die Gladstone-Geiger’schen Anschauungen getheilt hat. Im Gegentheil gehen Darwin und seine Anhänger vielfach davon aus, daß der Farbensinn ein gemeinsames Erbtheil sogar schon der niederen Thiere sei, und ich habe den Lesern der „Gartenlaube“ früher einmal (Jahrg. 1878, Nr. 3) ausführlich erzählt, wie sie die schönen Farben vieler Blumen dadurch erklären, daß schöngefärbte Blüthen von den Insecten, die deren Fortpflanzung bewirken, bevorzugt und gezüchtet wurden, und der Oberlehrer Dr. Hermann Müller in Lippstadt, sowie der Londoner Banquier Sir John Lubbock haben sich durch genaue Beobachtung und durch Versuche davon überzeugt, daß Insecten die einzelnen Farben sehr wohl zu unterscheiden im Stande sind. Eine große Reihe anderer wichtiger Lebenserscheinungen, wie die lebhaften Farben ekelhaft schmeckender und darum gemiedener Thiere, und die ihrer Umgebung ähnlichen, unscheinbaren Farben der wohlschmeckenden und verfolgten Thiere, sind nur unter der Voraussetzung verständlich, daß im Durchschnitt alle mit Augen versehenen Thiere die verschiedenen Farben zu unterscheiden und zu würdigen wissen, sodaß die Unterstellung, gerade das höchste Lebewesen sollte dieses Vermögen von Natur aus nicht besessen haben, einem Anhänger Darwin’s ganz ungeheuerlich erscheinen muß.

Ja wenn man so in sein Museum gebannt ist,
Und sieht die Welt kaum einen Feiertag,
Kaum durch ein Fernglas, nur von weitem,

da läßt man sich wohl zu solchen wunderlichen Theorien verführen. Und es läßt sich ja nicht leugnen, jene Bestimmtheit und feste Umgrenzung der Farbworte, wie wir sie in unserer Sprache gewohnt sind, ist in den meisten alten Sprachen wirklich nicht vorhanden. Wir dürfen uns daher auch nicht wundern, wenn immer und immer von Neuem die Stubengelehrten in diese so verlockend aussehende Falle gegangen sind. Aber darüber müssen wir uns einigermaßen wundern, daß im Jahre 1877 sogar ein Arzt, der Breslauer Privatdocent für Augenheilkunde, Dr. Hugo Magnus, ebenfalls in die Schlinge der Sprachforscher gerieth. Die Sache hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß im Jahre 1876 ein Mitarbeiter der „Gartenlaube“, auf die Geiger’sche Theorie gestützt, die Farbenblindheit als eine Art Rückschlag (Atavismus) in den unentwickelten Zustand der Netzhaut zur Zeit der alten Arier,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 718. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_718.jpg&oldid=- (Version vom 17.5.2018)