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verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


auf Tausende) sehr gesucht waren und mit denen deshalb ein ebenso schwunghafter wie einträglicher Handel getrieben wurde.

Wie dicht der Geschoßhagel an einzelnen Stellen war, ergiebt sich daraus, daß in der ersten Zeit in wenigen Stunden ganze Körbe voll Granatsplitter und Kugeln gesammelt werden konnten. Selbst heute noch fördern Pflug und Spaten einzelne Kugeln aus dem Schooße der Erde. Ohne Zweifel liegen auch noch viele Granaten in dem weichen Ackerboden, in den sie sich hineingewühlt haben. Die von der Bevölkerung gehegte Befürchtung, dieselben könnten durch die Berührung beim Pflügen oder Graben platzen und Verheerungen anrichten, hat sich glücklicher Weise nicht bestätigt; vielmehr ist constatirt worden, daß die Pulverfüllung schon wenige Monate nach der Schlacht vom eindringenden Wasser so durchnäßt war, daß sie die Explosionsfähigkeit vollständig verloren hatte.

Am Eingang des Dorfes befindet sich der Militärkirchhof, auf welchem meist solche Opfer der Schlacht ruhen, welche kürzere oder längere Zeit nach dem Kampfe ihren Wunden erlagen. Im ganzen Dorfe war damals wohl kein Haus, das nicht bis unter das Dach mit Verwundeten angefüllt gewesen wäre. Eines der Hauptlazarethe bildete die an der Straße nach Rezonville gelegene, etwas isolirte Ferrne; in Folge der massenhaften Amputationen waren die Fußböden der Gebäude so mit Blut getränkt, daß ein Decennium nicht genügt hat, die Spuren zu verwischen.

Was die gegenwärtige Stimmung der Bevölkerung in Gravelotte wie auch in der ganzen Umgegend betrifft, so kann dieselbe als verhältnißmäßig günstig bezeichnet werden. Der französisch sprechende Lothringer unterscheidet sich durch sein ganzes schwerfälliges Auftreten, besonders aber durch sein eigenthümliches Platt wesentlich von dem eigentlichen Franzosen, der in ihm ebenso den Querkopf erblickt, wie in dem Elsässer. Dabei ist er eine knorrige, durchaus praktische Natur, die schnell herausfand, daß sie sich unter der deutschen Regierung besser befinde als unter der französischen. Der Lothringer hat sich daher, besonders auf dem flachen Lande, mit den neuen Verhältnissen so ziemlich ausgesöhnt, was auch daraus hervorgeht, daß neuerdings die Militärpflichtigen nahezu vollständig vor der Musterungscommission erscheinen.

Im Allgemeinen scheint es sich nach den bisherigen Erfahrungen zu bestätigen, daß der Lothringer schneller als der Elsässer für Deutschland zu gewinnen sei, da er weit weniger conservativ ist und nicht so zäh am Althergebrachten hängt wie Letzterer. Das tritt z. B. auch bei der Kleidung zu Tage. Während man im Elsaß noch häufig die alten, kleidsamen Trachten sieht, sind dieselben in Lothringen längst verschwunden. Selbst das hübsche, weiße, gefältelte Lothringer Häubchen, das einzige Ueberbleibsel aus früherer Zeit, ist auf den Aussterbe-Etat gesetzt.

Von eigentlichem Patriotismus ist selbstverständlich im großen Ganzen vorläufig auch in Lothringen noch keine Rede. Daß aber wenigstens Anfänge dazu bereits vorhanden sind, war bei der letzten Anwesenheit des Kaisers, der beim Besuche der Schlachtfelder durch die ihn umjubelnde Bevölkerung mehrfach von seinem Gefolge abgedrängt und auf's Herzlichste bewillkommnet wurde, zu bemerken. Der Zeit und der langsam, aber sicher wirkenden Thätigkeit der Schule muß es überlassen bleiben, das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem deutschen Reiche wieder zu wecken und zu beleben. Die vollständig neu organisirte Schule legt das Hauptgewicht auf Erlernung der deutschen Sprache, und hat damit ihre Aufgabe wohl richtig erfaßt; denn so viel steht jedenfalls fest, daß das Volk erst dann wieder deutsch fühlen und denken wird, wenn es deutsch sprechen gelernt hat. Bis dahin wird allerdings noch manches Jahrzehnt vergehen. Doch ist jetzt schon ein tüchtiger Anfang gemacht worden; fast jedes Kind versteht etwas Deutsch. Auch das deutsche Volkslied wird sorgfältig gepflegt, und einen merkwürdigen Eindruck macht es auf den Fremden, wenn er Lieder wie: „Ich hatt’ einen Cameraden“ oder: „Morgenroth, Morgenroth, leuchtest mir zum frühen Tod“ in einem der Schlachtorte von der heranwachsenden Jugend, und zwar mit großer Vorliebe, singen hört. Man glaubt sich um zehn Jahre zurückversetzt, wo diese Lieder in denselben Dörfern begeistert aus deutschen Soldatenkehlen ertönten.

In einer starken halben Stande erreicht man, auf gut erhaltener Chaussee Rezonville. Hier war es, wo die französischen Truppen am 16. August durch die in unerwarteter Weise auf der Höhe von Gorze erscheinende fünfte Cavalleriedivision im Bivouak überrascht wurden. Die gegenwärtig noch zahlreich herumliegenden Ueberbleibsel von Kochgeschirren und blechernen Feldflaschen, an denen man theilweise noch die betreffenden Regiments- und Compagnienummern sehen kann, sind Zeugen der damals eingerissenen heillosen Panik.

Links von der Straße gegen das Ende des Dorfes zu liegt eine kleine, nicht gerade durch Sauberkeit sich auszeichnende Herberge, das „Hôtel Bismarck“, von der Bevölkerung allgemein so genannt, weil Bismarck, nachdem er vergeblich in den mit Verwundeten angefüllten Häusern Unterkunft gesucht hatte, trotz der Proteste des Besitzers mit dem Erbgroßherzog von Mecklenburg und dem amerikanischen General Sheridan in einer unbesetzt gefundenen, allerdings mehr als bescheidenen Kammer nach der Schlacht von Gravelotte sein Nachtquartier aufschlug.

Diese Kammer ist für den Besitzer eine wahre Goldgrube geworden. Viele Tausende von Fremden sind zur Besichtigung derselben in die unscheinbare Wirthschaft eingetreten und haben dabei den übrigens ganz trinkbaren Wein mit in Kauf genommen. Raritätensüchtige Engländer haben es sich nicht nehmen lassen, alles, was in der Kammer nicht niet- und nagelfest war, für hohe Preise zu erstehen. Hätte man sie gewähren lassen, so würde von dem ganzen Häuslein kein Stein auf dem andern geblieben sein, ebenso wenig wie von dem unweit davon am Ausgange des Dorfes gelegenen „Kaiserhaus“.

Ueber der Thür dieses einfachen, zweistöckigen Bauernhauses hat der Kriegerverein in Metz eine Marmortafel anbringen lassen, welche besagt, daß der Kaiser hier die Nacht vom 18. auf den 19. August 1870 zugebracht habe. Ueber eine steile, finstere Treppe gelangt man in eine Art Vorzimmer und durch dieses in das eigentliche Kaiserzimmer. Von diesem unscheinbaren Raume aus ging am 19. August die bekannte große Siegesdepesche an die Königin ab. Der Hausbesitzer, welcher rührende Züge von der Anspruchslosigkeit seines ehemaligen hohen Gastes zu erzählen weiß, hat die ganze Einrichtung so gelassen, wie sie vor zehn Jahren war. Ein großes Himmelbett, zu dessen Vervollständigung Kissen aus einem Krankenwagen herbeigeschafft werden mußten, eine Kommode und ein Paar Strohstühle bildeten die ganze Einrichtung des Zimmers, welches der Kaiser bei seinem am 25. September vorigen Jahres ausgeführten Besuche der Schlachtfelder wieder betrat und in der Erinnerung an die damalige schwere Zeit mit sichtlicher Rührung verließ.

Hinter Rezonville befindet sich das Terrain, auf welchem am 16. August der von Freiligrath in seinem herrlichen Gedichte besungene Todesritt der Brigade Bredow dahinbrauste. Es wird auf der einen Seite durch die nach Mars-la-Tour führende Straße begrenzt, während sich auf der andern in einer Entfernung von etwa einem Kilometer ein Wäldchen erhebt, an dessen Rande sich die alte, streckenweise noch gut erhaltene Römerstraße hinzieht, um sich in dem Tronviller Gebüsche zu verlieren.

Es gehört nur eine geringe Erregung der Einbildungskraft dazu, um sich das hier abgespielte Drama zu vergegenwärtigen und die schwarz-weißen Lanzenfähnchen der altmärkischen Ulanen im Verein mit den weißen Waffenröcken der Halberstädter Kürassiere in dem welligen Terrain aus den Getreidefeldern, in denen zahlreiche Klatschrosen wie große Blutstropfen hervorleuchten, auftauchen und gegen den übermächtigen Feind und dessen todbringende Batterien anstürmen zu sehen, alles vor sich niederwerfend, bis das todesmuthige Häufchen, von allen Seiten bedrängt, sich unter den entsetzlichsten Verlusten wieder rückwärts durchschlagen muß.

Doch was ist das? In Frankreich hat
Es im August geschneit;
Da liegt das halbe Halberstadt
Im weißen Waffenkleid.

Eine lange Reihe von Soldaten- und Pferdegräbern bezeichnet den blutigen Weg, den die tapferen Reiter genommen. An der Stelle, wo der Sturm endigte, erhebt sich ein weithin sichtbares Denkmal. Schöner und unvergänglicher ist das Denkmal, das die Geschichte den Helden des Todesrittes gesetzt hat.

Bei dem nun folgenden, ungefähr im Mittelpunkte des Schlachtfeldes vom 16. August gelegenen freundlichen Dorfe Vionville steht das in massenhaften Verhältnissen aufgeführte, thurmartige Denkmal des Brandenburgischen Infanterie-Regiments Nr. 20, an derselben Stelle, von welcher aus eine französische Batterie

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