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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


wir uns doch Alle, daß der Herr Dich hat wieder heimkehren lassen, und preisen ihn dafür,“ antwortete Jonathan. „Aber ein Beruhigungsmittel werde ich Dir denn doch aufschreiben müssen, damit Du schneller wieder zu Kräften kommst. Und sprich heute nicht viel, berichte uns lieber später einmal von dem, was Du erlebt hast!“

Er kehrte sich bei diesen Worten nach dem jungen Mädchen um und blickte sie besorgt und forschend an, als wolle er ergründen, wie weit er ihrem Schweigen vertrauen könne. Sie hielt die Augen gesenkt und stand halb von ihm abgewendet da.

„Ich mache ihr den Vater wieder gesund, ja gewiß, wenn sie mich darum freundlich ansehen will,“ fügte er mit Betonung hinzu. Da schlug sie die Augen zu ihm auf; sie mußte ihn ansehen, obgleich sie nicht wollte; er beherrschte sie, trotz ihres Widerwillens.

„Wenn Du für das Wohlbefinden meines Vaters etwas thun kannst, so komme ich dabei gar nicht in Betracht, Bruder Jonathan; denn Du wirst es doch um Gottes- und um Deinetwillen thun,“ sagte sie ruhig.

Er setzte sich an den Tisch und zog ein Stück Papier hervor, worauf er ein Recept schrieb, und dieses Carmen hinreichte.

„Laß das bereiten, liebe Schwester,“ sagte er, „und gieb dem Vater nach Verordnung davon – es wird ihm wohlthun und ihn bald wieder kräftigen. Du weißt, Bruder Michael, meine Mittel sind wirksam.“

Ein eigenthümlicher Zug von Hohn zuckte um seinen Mund, als er so sprach, und Carmen, die das gewahrte, fragte sich erstaunt, wessen er wohl spotte? Ob ihrer Angst um den Vater, oder ob dessen Schwäche? Aber es war nur wie ein flüchtiger Blitz gewesen, und sein Gesicht hatte den gewohnten milden Ausdruck wieder angenommen, als er sich jetzt zum Gehen erhob und zu Mauer sagte:

„Adieu, Bruder Michael! Der Herr behüte Dich und gebe Dir baldige Genesung, damit Du Dich der Heimath erfreuen kannst.“

„Ich werde die Medicin gleich bereiten lassen lieber Vater,“ meinte Carmen erleichtert, als die Thür sich hinter dem Fortgegangenen wieder geschlossen hatte. Da gewahrte sie mit Schrecken, daß der Vater die Hände vor's Gesicht geschlagen hatte und daß große Thränen zwischen seinen Fingern hervorperlten. – – –

Tage waren seit jenem Besuche Jonathan's in's Land gegangen. Carmen's besänftigendem und erheiterndem Einflusse war es allmählich gelungen, das erregte Gemüth des Vaters zu beschwichtigen, so daß nach und nach eine ruhigere gleichmäßigere Stimmung über den Kranken kam und sein Befinden sich von Tag zu Tag besserte. Etwas Bedrücktes wich aber nie von ihm.

Dabei war seine Hand freigebig und immer gern bereit, mit seinen reichen Mitteln zu helfen und zu nützen, wo es in der Gemeine nöthig war. Für sich selbst bedurfte er außerordentlich wenig; die Entsagung aller Annehmlichkeiten und Genüsse des Lebens schien ihm zur andern Natur geworden zu sein – nur daß er Ruhe habe und ein Haus finde, in welchem er mit Carmen wohnen könne, war sein einziger Wunsch.

Es war gerade kein solches zum Vermiethen oder zum Verkauf in dem kleinen Orte frei, und so entschied er sich, nach seinen Wünschen selbst bauen zu lassen.

Inzwischen sah er sich nach einer vorläufigen Behausung um; denn er mochte nicht erst im Wittwerhaus Wohnung nehmen. Darum mietete er sich bei Andern in einem Zimmer ein; Carmen aber blieb noch wie bisher im Schwesternhaus, gab den Kindern einigen Unterricht und verbrachte den übrigen Theil des Tages bis zum Abend mit dem Vater.

Ihr hatte dieser die ganze alte Heiterkeit und Sicherheit zurückgegeben; denn in ihm sah sie ihren Schutz und ihre Stütze, ohne zu ahnen, daß eigentlich sie es war, welche den Vater stütze. Vor ihm wagte sie den natürlichen Frohsinn ihres Charakters ganz unbeschränkt hervorleuchten zu lassen, und er lächelte sie glücklich an, wenn ihre schöne Stimme einmal ein anderes als ein geistliches, ein lebensfrisches spanisches Lied trillerte, ihre Füße sich im Kreise zu drehen wagten und einen alten, halbvergessenen spanischen Tanz wieder versuchten, der wie ein Gruß aus tropischer Welt ihr aus Jamaica noch im Gedächtniß geblieben war. Oder sie liebkoste ihn mit ihrer herzgewinnenden, lebhaften Ausdrucksweise, als müsse sie die zurückgehaltene Zärtlichkeit der langen Jahre der Trennung nun über ihn ausschütten.

„Ganz wie Inez! Froh und heißblütig wie sie!“ konnte Mauer da bewegt ausrufen, und seine großen blauen Augen leuchteten in heller Freude über die Tochter hin. So gelang es ihr, die Wolken von seiner Stirn wenigstens momentan hinwegzuzaubern, und sie selbst war nie glücklicher, als wenn ihr dies gelang.

Aber seitdem Mauer wohler war, drängte sich Alles zu ihm. Die Jugendgenossen suchten den Zurückgekehrten auf; der Gemeinhelfer und die Vorsteher der Aeltesten-Conferenz wollten Bericht über sein Missionswerk bei den Mongolen haben, über den Cultus- und Religionszustand, den er bei den Heiden in Bengalen und am Himalaya gefunden hatte, und Mauer mußte in den Versammlungen öffentlich darüber sprechen.

Es konnte nicht fehlen, daß Mauer so zu einer gewissen Bedeutung in der Gemeine gelangte, und man sprach davon, ihm dieses oder jenes Amt übertragen zu wollen. Er aber bat mit eindringlichem Ernst, daß man daran nicht denken, vielmehr völlig von ihm absehen möge; er hatte eine wahrhafte Scheu, aus sich herauszutreten, und wo er genöthigt wurde, öffentlich zu sprechen, geschah es immer mit sichtlicher Selbstüberwindung.

Nicht einmal dem alten Freunde gegenüber wich dieses scheue Wesen von ihm.

„Eine sonderbare Freundschaft!“ konnte Carmen oftmals sich nicht enthalten zu denken, wenn sie die beiden Freunde beobachtete. Der Vater verlangte nie nach Jonathan, wie seine Sehnsucht überhaupt auf nichts als auf Carmen und auf Ruhe gerichtet war. In Jonathan's Gegenwart war er immer sehr erregt; etwas wie bittende Unterordnung sprach sich in seinem Verkehre mit dem Freunde aus, als sei er der Empfangende, Jonathan der Gewährende. Oft, wenn Jonathan mit ihm sprach, wechselte er plötzlich die Farbe, und dann lag es wie jäher Schreck auf seinem Gesichte. Oft klang es auch wie leiser Spott aus den Worten Jonathan's, und sofort senkte Mauer demüthig die Blicke.

Einige Tage nach seinem Ohnmachtsanfalle im Betsaale fragte ihn Jonathan, wie ihm die verordnete Medicin bekomme.

„Gut,“ entgegnete Mauer. „Ich fühle mich kräftiger.“

„Ich erwartete das,“ meinte Jonathan, freundlich lächelnd. „Fünfzehn Tropfen habe ich verordnet. Nun, auch zwanzig kannst Du davon nehmen – das wird nicht schaden – aber ja nicht mehr, lieber Bruder.“

Da sah Mauer bleich und verstört zu ihm auf und rang nach Athem, während Jener doch fortfuhr, ihn anzulächeln.

Und darum dachte Carmen: „Eine sonderbare Freundschaft!“ „Ich glaube, dem guten Vater geht es wie mir,“ sagte sie erklärend zu sich selbst; „er fühlt etwas wie den kalten Leib der Schlange an Jonathan, aber er wagt nicht, sich das einzugestehen oder sich dagegen zu wehren, da er ihn dennoch lieb hat – vielleicht auch das nur aus alter Gewohnheit von der Jugendzeit her.“

So gingen Wochen, Monate in's Land. Der Bau des Hauses war von Mauer in Angriff genommen worden; er trieb damit, denn es verlangte ihn, dasselbe möglichst bald beziehen zu können. Der Plan zu dem Hause war unter Anlehnung an den Stilgeschmack und die Raumverhältnisse der Hacienda auf Jamaica entworfen worden, in welcher einstmals Carmen's Mutter geschaltet hatte. Wie dort sollte das Haus von einer breiten Veranda rings umgeben werden, die in einen großen Garten hinabführt. Auf die Veranda sollten sich tiefgehende Fenster öffnen und an Stelle der Magnolien Platanen das Haus beschatten.

Aber von der Veranda mußten sie alsbald absehen; denn kaum war den Aeltesten der Plan zu Gehör gekommen, als der Gemeinhelfer bei Mauer erschien und ihm vorstellte, daß dies ein Abweichen von der Einfachheit ihrer Einrichtungen sei und der Colonie nur zu Aergerniß gereichen würde. Wer in der Colonie leben wolle, müsse schlicht und ohne alles Prunken an dem Hergebrachten halten und als ein demüthig Glied dem Ganzen sich fügen.

„Daß ich alter Mann doch mit thörichten Ideen Dir vorangehen mußte!“ sagte Mauer tief beschämt zu der Tochter. „Man bringt doch unbewußt viel von der Welt draußen mit heim, wenn man so lange fort war, wie ich es gewesen bin, und erst unter den Brüdern bemerkt man, wie viel davon Einem anhaftet. Das Aufgeben des eigenen Willens und Wünschens und das sich unterordnende Schicken in's Ganze, das vergißt sich so leicht und muß nun erst wieder gelernt werden.“

„Sie finden aber auch in so vielen Dingen hier ein Unrecht,

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