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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


viele verlorene Ruhe nachholen, und die Tochter hatte den ganzen Morgen still an seinem Bett gesessen, damit beim Erwachen sein erster Blick auf sie fallen möge. Dann hatten sie gemeinschaftlich auf seinem Zimmer gespeist, sich vom Vergangenen erzählt und Pläne für die nun kommende glückliche Zeit entworfen. Er wollte sich hier ein Haus kaufen, in dem Carmen mit ihm wohnen werde; nichts sollte Vater und Kind wieder trennen.

Carmen's Herz klopfte so glücklich, so erleichtert, endlich den Vater wieder zu haben, eine Liebe, die ihr sicher gehörte und ihr immer Schutz gewährte. Auch gegen Jonathan's furchtbare Leidenschaft würde sie ihr ein Schirm sein. Sie ging im Stillen mit sich zu Rathe, ob sie dem Vater gleich von dem Geschehenen sagen dürfe; sie hatte zu schweigen gelobt, aber nahm der Vater nicht eine Ausnahmestellung ein? Sie konnte sich nicht klar darüber werden und vermied darum lieber ganz, Jonathan's zu erwähnen. Dieser war überdem seit einigen Tagen verreist, und sie hatte noch Zeit, zu überlegen und eine ruhigere Stunde abzuwarten, in welcher sie den Vater zum Vertrauten machen wollte.

Nachmittags gingen sie in die Andachtsstunde. Alle strömten in den Betsaal, Bruder Mauer dort zu sehen, von seiner Missionsarbeit, seinen Erlebnissen und seiner merkwürdigen Rückkehr zu hören. Dort saß er unter dem Wittwerchor, andächtig singend und die Augen gesenkt, als fühle er Aller Blicke, die sich nach ihm richteten, und wolle von ihnen in seiner Andacht sich nicht stören lassen.

Als der Gesang schwieg, gingen der Gemeinhelfer und der Lehrer auf Mauer zu. Sie begrüßten ihn mit herzlichem Händedruck, sprachen freundlich einige Worte zu ihm und führten ihn dann vor, damit er nun zu der Gemeine rede.

Er ging heute fester emporgerichtet, und das Stattliche seiner hohen Figur trat wieder mehr hervor als am Tage zuvor. Mit glücklichem Lächeln streiften jetzt seine Blicke über die Versammelten hin, als wolle er alle die Brüder und Schwestern begrüßen; viele unter ihnen waren ihm unbekannt, ja die meisten waren es wohl, aber Alle ihm doch lieb als Theile seiner Heimath und Gemeine.

So ging er zwischen seinen beiden Führern dahin, die Seele voll lang entbehrten Glückes – da öffnete sich noch einmal die Thür des Saales, und ein verspäteter Besuch trat ein – es war Bruder Jonathan Fricke. Er ging schneller als gewöhnlich, und seine Augen irrten suchend umher; vermuthlich hatte er schon von dem Wiedergekehrten gehört, und er eilte ihn zu sehen. In dem mittleren freien Raume des menschenerfüllten Saales stieß er auf die Drei; seine Blicke trafen auf die hohe Gestalt des alten Freundes; er streckte ihm die Hand entgegen und sagte mit gedämpfter Stimme:

„Stehen die Todten wieder auf, Bruder Michael?“

Mauer zuckte bei dem Tone dieser Stimme zusammen; seine Augen begegneten denen Jonathan's; sie weiteten sich wie in Entsetzen, Leichenblässe überzog sein Gesicht – er wankte.

„Du hier?“ stammelte er und – brach zusammen.

Eine allgemeine Aufregung folgte dieser Scene, aber man fand es recht begreiflich, daß die vielen Wiederbegrüßungen den Weitgewanderten und Erschöpften angreifen mußten; nun auch noch das so unvorbereitete Wiedersehen mit dem alten Freunde – es war wirklich zu viel für seine Kräfte gewesen. Man beklagte ihn lebhaft, und die Theilnahme für ihn wuchs nur um so höher.

Der Ohnmächtige mußte fortgeschafft werden, und Carmen folgte ihm in sein Zimmer im Gemeinlogis. Nach unausgesetzten Bemühungen schien er endlich wieder zur Besinnung zu kommen, und Carmen bat, daß man sie nun allein mit dem Vater lasse, damit er sich in Ruhe zu sammeln und zu erholen vermöge. Den Bruder Jonathan, der ihm seinen ärztlichen Beistand angedeihen lassen wollte, wies sie entschieden zurück.

Carmen setzte sich an das Lager des Vaters, und als er die Augen endlich wieder aufschlug und sich ängstlich im Zimmer umsah, flüsterte er:

„Kind, wer war das, den ich zuletzt im Betsaale gesehen und der zu mir sprach?“

„Beunruhige Dich nicht, lieber Vater! Es war ja Dein alter Freund, Jonathan Fricke,“ entgegnete Carmen, seine Hand wie beschwichtigend in der ihrigen haltend. Doch diese zuckte und fuhr zurück, als sie den Namen nannte.

„Ich wußte nicht, daß er wieder hier ist,“ sagte er fast stöhnend, als leide er sehr.

„Kann ich Dir mit nichts helfen, lieber Vater?“ fragte Carmen besorgt. „Hast Du Schmerzen?“

Er schüttelte verneinend den Kopf statt jeder Antwort und lag dann still da, die Augen geschlossen. Nach einer geraumen Weile sah er Carmen wieder an – trostlos und gramvoll. Er seufzte leise auf.

„Erzähle mir von ihm!“ bat er. „Er war doch in Bethlehem in Nordamerika – wie kommt er hierher, und seit wann ist er unter Euch?“

Sie erzählte lange und eingehend von Jonathan's Schicksalen, nur was sich zwischen ihm und ihr zugetragen, wagte sie bei der Erregung des Vaters nun gar nicht zu erwähnen. Als sie endlich schwieg, war es still geworden um die Beiden; nur eine Uhr tickte leise. Zuweilen drang ein tiefer Athemzug des Vaters an Carmen's Ohr; er hatte das Gesicht der Wand zugekehrt und lag regungslos da, sodaß sie meinte, er sei erschöpft eingeschlafen, und auch sie wagte nicht sich zu regen, um diesen wohlthätigen Schlummer nicht zu stören. Da seufzte er plötzlich leise auf und flüsterte vor sich hin:

„Die alte Geschichte, die immer noch nicht schlafen will! Liebe Heimath, mit Deiner süßen Ruhe war es nichts.“

„Was meinst Du, lieber Vater?“ fragte Carmen, sich über ihn beugend. Er hatte die Augen geschlossen. Lautlos sank sie auf den Stuhl neben dem Schlafenden zurück.




6.

Am andern Tage war Mauer noch so völlig erschöpft, so gebrochen von dem gehabten Anfall, daß er sich kaum von seinem Lager zu erheben vermochte. Und doch litt es ihn nicht dort; kein Zureden von Seiten Carmen's half; er stand auf und kleidete sich an, aber er vermochte nicht aus dem Hause zu gehen, und es war nöthig, daß er sich ruhig verhalte. Sie versuchte, so viel sie konnte, ihn durch heitere Gespräche von einer schweren, trübsinnigen Stimmung abzulenken, die ihn mit der Schwäche befallen hatte. Es tat ihr im Herzen weh, wenn sie heute in dieses unsagbar gramvolle Gesicht sah, das noch gestern so hell in süßer Freude geleuchtet hatte.

Um zehn Uhr am Morgen kam Jonathan, nach dem kranken Freunde zu sehen. Es war gut, daß Carmen am Fenster stand und ihn über die Straße herüber auf das Haus zuschreiten sah und dadurch den Vater auf den Besuch vorbereiten konnte; denn er schrak sichtlich zusammen, als sie ihm davon sagte. Aber er faßte sich bald und antwortete mit einem Lächeln der Ergebung:

„Laß ihn nur hereinkommen! Je früher ich all das Wiedersehen und Begrüßen abmache, um so eher gelange ich zur Ruhe. Ich muß mich doch wieder an das Frühere gewöhnen, was auch dazwischen liege, und es wird heute besser gehen, als gestern. Ich habe ihn nicht gesehen, seitdem Deine gute Mutter todt ist, Carmen, und es ist eine furchtbar schwere Zeit, die ich seitdem durchlebt habe.“

Sie wollte sich entfernen, um den Beiden das erste Beisammensein nicht zu stören; Mauer aber hielt sie zurück und bat: „Bleibe bei mir, Kind!“ als könne er ihrer Nähe nicht entbehren.

Jonathan trat ein. Er blieb einen Augenblick an der Thür stehen, und seine Augen flogen auf den Kranken hin, wie um dessen Gesichtsausdruck zu prüfen. Dieser saß erschöpft, in die Kissen des Sophas gedrückt und richtete die großen, eingesunkenen Augen fragend oder bittend auf den Eintretenden; es war, als wollten sie sagen: schone meiner!

„Guten Morgen, Bruder Michael,“ sagte Jonathan, „hast Du Dich wieder ein wenig erholt?“

Er hielt ihm die Hand hin, in welche der Andere die seinige zögernd legte, und als er sie dann wieder zurückzuziehen suchte, hielt Jonathan sie fest, indem er hinzufügte:

„Laß mich Dir gleich nach dem Pulse fühlen! Du siehst noch immer sehr angegriffen aus, und Deine Hand ist kalt wie Eis.“

„Ich danke Dir, Bruder Jonathan,“ sagte der Kranke, „ich denke, wenn ich nur ruhen kann, wird es am ehesten wieder gut mit mir werden. Ich habe Schweres getragen, lieber Bruder, und es hat mir die Schultern wund gedrückt; nun hat Gott mich doch wieder heimgeführt, und Euer Mitleid und Euer Erbarmen dürfte um das, was ich litt, wohl mit mir Aermstem sein.“

„Gewiß, lieber Bruder, es soll Dir auch werden. Freuen

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