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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

No. 43.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.




Schwester Carmen.
Aus dem Leben einer deutschen Herrnhuter-Colonie.
Von M. Corvus.
(Fortsetzung.)


Schwester Agathe eilte hinaus.

„Freue Dich, liebe Carmen!“ sagte sie draußen. „Ein Bruder ist angekommen, welcher Dir endlich Kunde bringt von Deinem Vater, der noch lebt,“ und sie hatte erregter, als sonst ihre Art war, Carmen nach der Thür des Sprechzimmers geführt.

Zitternd überschritt diese die Schwelle.

Dort sah sie im hellen Licht der Lampe einen alten gebeugten Mann, der sich von seinem Platze nicht zu erheben vermochte; denn jetzt versagten ihm die Füße den Dienst; die Arme nur streckten sich der geliebten Tochter entgegen, und im nächsten Augenblicke lag sie an des Greises Brust. Den Blick dieser Augen hatte das Kind nicht vergessen, und sie las aus dem lieben Antlitz die theuren Züge sogleich wieder heraus. „Vater, mein lieber Vater!“

Von seinen Augen thaute es herab auf die Stirn des Mädchens; wie liebevoll waren die Töne, mit denen er wieder und immer wieder „mein Kind, mein Liebling!“ stammelte. Er empfand nun wieder die lange, schwere Jahre entbehrte Seligkeit des Besitzes in des Mädchens Umarmung. Dann bog er sanft ihren Kopf zurück und suchte in ihren reinen Zügen zu lesen.

„Ganz wie Inez bist Du geworden, Zug um Zug die Mutter wieder, wie ich sie damals unter den Palmen sah und liebte. So habe ich in Dir Euch Beide wiedergefunden,“ sagte er, und seine Augen strahlten glückselig unter Thränen.

„Und Du bleibst nun bei mir, lieber Vater? Du verlässest mich nicht wieder?“ fragte sie ängstlich.

„Ja, ich bleibe bei Dir, Carmen, in der alten, lieben Heimath, wo mir müdem Pilger wohl endlich Ruhe werden wird.“

„Armer Vater, wie viel magst Du gelitten haben bei Deinem fernen, schweren Werke! Einsam, ohne Hülfe und Beistand bist Du gewesen. Keiner von denen, die Dich suchten, konnte Dich finden; Niemand wußte von Dir,“ sagte Carmen und strich liebevoll mit der Hand über die braune, gefurchte Wange hin. „So völlig verschwunden, wie Du warst, haben Alle Dich für todt gehalten; nur mein Herz wollte nicht daran glauben. Warum doch hast Du nie eine Kunde von Dir gegeben?“

„Wohl gab ich eine, aber sie drang nicht zu Euch, mein Kind,“ entgegnete er. „Sieh, ich war am Ganges; dann aber ging ich höher hinauf nach dem Norden, um durch die Schluchten des Himalaya zu dringen. Dort ergriffen mich die Heiden und hielten mich als Sclaven gefangen. Jahrelang habe ich ihnen dienen müssen in niedriger, knechtischer Arbeit, und mein müder Rücken, oft zerschlagen von ihren Streichen, hat nur die steinige Erde zum Pfühl gehabt. Endlich glückte es mir doch, auf einem Pferde zu entweichen und in die mongolischen Steppen zu gelangen. Dort bin ich zwei Jahre mit den Nomaden umhergezogen, habe ihr Wanderleben getheilt, mit ihnen ihre Heerden gehütet, ihre einfachen Arbeiten verrichtet und dabei versucht, das Evangelium in ihre Herzen einzuführen. Aber in mir wogte die Unruhe, und die Sehnsucht drängte mich heim. Da habe ich den Wanderstab ergriffen und bin durch Sibirien gezogen in das russische Reich, immer zu Fuß, arm und mich durchbettelnd von Ort zu Ort, ich, der ich Hunderttausende besitze – bis ich endlich, zum Tode erschöpft, mit zerfetztem Kleide und zerrissenen Schuhen Sarepta erreichte. Dort wollten mich die Brüder behalten und pflegen, bis ich mich wieder stark und kräftig fühlte. Doch die Sehnsucht litt mich nicht dort. Nachdem ich einmal Europa erreicht hatte, schien es mir, ich stehe an der Schwelle der Heimath, und es trieb mich rastlos dorthin. Ich erbat mir von den Brüdern ein Darlehn, damit ich nun weiter fahren könnte, und sie statteten mich mit neuer Kleidung aus. Aber ich erkrankte auf der Reise, mußte in einem polnischen Städtchen liegen bleiben, und da meine Baarschaft hierdurch erschöpft wurde, habe ich die letzte Strecke bis hierher wieder durchwandern müssen. Nun ist Alles gut, da ich doch endlich hier bin, und das Ruhen wird hier köstlich sein,“ schloß er, befriedigt lächelnd, seinen traurigen Bericht.

Agathe war inzwischen wieder hereingekommen und hatte Erfrischungen für den Erschöpften gebracht. Welch eine süße Lust für den Wandermüden, diese erste Mahlzeit unter den Augen der Tochter, in den traulichen Wänden des alten, geliebten Heims! Und wie viel wußte er noch zu erzählen, während er sich an Speis' und Trank labte, von den Abenteuern und Wundern der Ferne! Spät erst, gekräftigt durch das wohlschmeckende Mahl und die tröstliche Nähe seines theueren Kindes, sagte er Carmen und Schwester Agathe „Gute Nacht!“ und begab sich in's Gemeinlogis, um sein Lager aufzusuchen. – – –

„Weißt Du es schon? Der Todte, der Verschollene, Bruder Mauer ist wieder da.“ So fragte und tönte es am andern Morgen allerorten in der Colonie. Es war das große Ereigniß, das Alle beschäftigte und mit grenzenlosem Staunen erfüllte.

Gesehen hatte ihn aber heute noch Niemand außer Carmen. Er hatte bis nahe an den Mittag heran geschlafen, als müsse er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 697. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_697.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)