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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


einem Lebensberufe seine ganze Kraft und bildet sich gründlich dafür aus. Verlangt doch unsere Zeit vor Allem Vielseitigkeit und zuckt spöttisch die Achseln über die Gründlichkeit der alten Tage von Anno dazumal, wo noch der Gelehrte nur Gelehrter war, der Soldat nur Soldat, der Professionist nicht auf der Geschwornen-Liste stand und der Künstler nicht nebenbei auch als Kaufmann speculirte.

Jetzt ist das anders geworden; jetzt muß Jeder – Alles sein, wenn er im großen Kampfe um’s Dasein nicht unterliegen, wenn er sich im ewigen Wettlauf nach Ruhm und Gewinn in den ersten Reihen behaupten will. Wehe dem Oekonomen, der nicht Chemiker, Kaufmann, Politiker ist! Er kommt gar bald unter den Schlitten. Um aber in gesellschaftlicher Beziehung zu bestehen, muß er auch noch Schöngeist und feiner Weltmann sein; er muß wenigstens eine Art von Sport cultiviren, Reisen gemacht und Alles gesehen haben, was es mindestens in Europa Sehenswerthes giebt.

Ich bitte euch, wie soll ein Menschenleben zu alledem ausreichen? Es reicht auch in Wahrheit nicht aus dazu. Deshalb die Oberflächlichkeit in Allem, und das ängstliche, unaufhörliche Hasten. Wir lesen in einem alten Buche: „Um Italiens Schätze mit Verstand zu genießen, bedürfe es eigentlich eines ganzen Menschenlebens. Die Jugend, sich durch Studien darauf vorzubereiten, die reifen Jahre, um das Wunderland zu schauen, und das Alter, um es zu beschreiben und in der Erinnerung daran zu schwelgen!“

Wie aber reist man in unseren Tagen nach Italien?

Man entschließt sich heute zur Reise, nimmt morgen ein Rundreisebillet oder schließt sich einem Vergnügungszuge an, der übermorgen abdampft. In vier Wochen ist man wieder daheim, hat Florenz, Rom und Neapel gesehen und weiß davon ebenso klug mit zu schwatzen, wie all die Anderen auch.

Wer liest heute ein gutes Buch so wie wir Alten zu unserer Zeit? Wohl sehr Wenige! Man durchfliegt Bücher und Zeitschriften, um von ihnen ebenso sagen zu können: „Ich habe sie gelesen,“ wie man von Italien sagt: „Ich habe es gesehen.“ Wie wollte man denn auch sonst allwöchentlich mit etlichen zwanzig Zeitschriften, einigen neuen Romanen und so vielen Zeitungen fertig werden?

Lächelnd erinnere ich mich der Zeit, wo ich Monate lang über einem Walter Scott’schen Roman las und denselben dann beim Spaziergang fast wörtlich getreu den jüngeren Geschwistern wieder erzählte!

Damals – ja damals lebte man wirklich mit diesem „Ivanhoe“ und „Richard“ während der Zeit, wo man sie las. Die jungen Frauen tauften ihre Kinder mit dem Namen ihres Lieblingshelden, die Mädchen träumten sich während des eifrigen Nähens und Strickens in die schottischen Königsgemächer und gaben sich gegenseitig scherzend die Namen der betreffenden Burgfräulein.

Wie viel Kinder hätten wir heute zu taufen, wenn wir in ihnen alle Namen verewigen wollten, die jede Woche an uns vorüber huschen! Kaum daß hier und da eine besonders pikante oder originelle Scene haften bleibt im Gedächtniß, kaum daß man sich im nächsten Jahr noch der Titel jener Bücher erinnert, die man in diesem gelesen hat – von Liebe zu einem schönen Buch kann nicht mehr die Rede sein. Es ist aber, als ob mit der Anhänglichkeit und Liebe zu den Dingen auch die zu den Personen uns mehr oder weniger abhanden gekommen wäre.

Das Kind unserer Tage besitzt ein Dutzend Puppen und Püppchen von der verschiedensten Art und bekommt alle Weihnachten wieder neue dazu. Unmöglich kann es diese bunte Schaar so lieben, wie wir unsere einzige Puppe mit dem gemalten Holzkopf und den schwarzen Korkzieherlocken geliebt haben. – Ob auch die Farben ihres Gesichtes längst in übel angebrachtem Eifer abgewaschen oder in übergroßer Zärtlichkeit ab – geküßt waren, doch wurde das steife Ding jeden Abend ausgezogen und in sein weißes Bettchen gelegt, am Morgen aber sorgfältigst wieder angekleidet, um auf unserm Schooß die süße warme Milch mit aus unserm Glase zu trinken; von keinem Leckerbissen vergaßen wir, der geliebten alten Puppe den ersten Bissen zu geben, aber wehe dem übermüthigen Bruder, der es gewagt hätte, den Liebling unseres kleinen Herzens zu schmähen!

So wuchs die Liebe und Anhänglichkeit groß in unserem Herzen und erstreckte sich später auch auf die wenigen Schulfreundinnen, mit welchen wir unzertrennlich verbunden blieben, nicht nur auf der Schulbank, sondern auch weiter hin, bis an den Rand des Grabes. Jetzt, wo ein Kind ein Dutzend Puppen hat und, bei dem häufigen Wechsel von Wohnort und Schule, noch viel mehr Gespielinnen, jetzt kann solch tiefe, mit uns groß gewachsene Anhänglichkeit und Treue nur schwer noch im Kinderherzen Wurzel fassen. Schnell vergißt es die zerbrochene Puppe über der glänzenden neuen, die alte Gespielin über der neuen; schnell vergißt es, heranwachsend, auch alle die Lieben, von welchen es zeitweilig oder durch den Tod geschieden wird.

Wir haben keine Zeit mehr, um geliebte Todte zu trauern, wie ehedem. Immer vorwärts geht das tolle Jagen, wie in der Feldschlacht, über die Opfer hinweg, für die man kaum noch einen kurzen Blick des Bedauerns hat. Es mag eine altmodische Ansicht sein, aber mich dünkt, als sei unser ganzes jetziges Leben zu reich, zu wechselnd, zu mannigfaltig geworden. Vielleicht gewinnt das Menschengeschlecht im großen Ganzen dadurch, aber jeder Einzelne verliert entschieden durch diese Ueberladung.

Um noch einmal auf die Kinder der alten Zeit zurückzukommen: mit welchem Vergnügen lasen wir damals unser einziges Buch wieder und immer wieder, bis wir es wörtlich auswendig wußten, um es dann – erst recht noch einmal zu lesen!

Ich besitze noch ein paar solch alter Bücher, die ich geliebt habe wie lebende Wesen. Waren ja doch auch alle Personen, von denen sie handelten, mir wirkliche Menschen, denen im Leben einmal zu begegnen, ich beständig hoffte. Ich frage euch alle, ihr Groß- und Urgroßmütter, steht der alte Campe nicht lebendig vor eurer Erinnerung? Oder sitzt er nicht vielmehr lebendig da, unter dem Apfelbaume, den „Robinson“ erzählend?

Welches von unsern Enkelkindern hat irgend ein Buch aus seiner reichen, schön ausgestatteten Bibliothek so lieb und kennt es so genau, wie wir den „Robinson“, „die Kinderbibliothek“ und „die Entdeckung von Amerika“? Welches Kind weint heiße Thränen über das Schicksal seiner Bücherhelden, wie wir sie geweint haben? – Das Alles ist versunken und verklungen mit der alten guten Zeit.

Das schöne Spielzeug aller Art, womit wir unsere Kinder so überladen, daß sie es weder in Ordnung zu halten, noch es lieb zu haben vermögen, ist eine würdige Vorbereitung für ein Leben, das ihnen auch so viel und Vielerlei bieten, auferlegen und zumuthen wird, daß es nur wie ein beängstigender, nebelhafter Traum an ihnen vorüber gleitet, ohne sie je zu voller Erkenntniß, zu innigem Verständniß, zu ruhigem Genusse gelangen zu lassen.

Wir erziehen, ohne es zu wollen, schon unsere Kinder dazu, in hastiger Eile über diese schöne herrliche Erdenwelt fortzujagen, die doch wahrlich verdiente, etwas näher besehen zu werden!

Das Kind der alten Zeit durfte sich ausspielen, der Jüngling sich auslernen; Mann und Frau genossen in vollen Zügen die Freuden des Familienlebens und begnügten sich mit der Erfüllung ihrer Berufs- und Elternpflichten; das Alter ruhte behaglich aus auf den Lorbeeren seiner Thätigkeit und nützte seine Erfahrungen noch reichlich in belehrenden Erzählungen und weisen Rathschlägen für die heranwachsende Generation. Es gönnte aber auch dieser nachfolgenden Generation ihren Antheil und verlangte nicht, selbst mit zu ringen und zu kämpfen, mit zu laufen und zu jagen bis zum letzten Athemzuge.

„Großvater“, der meinige zum Beispiel, war nicht nur ein echter Bräutigam, als er „Großmutter nahm“, er war auch ein seelenvolles Kind, da er im väterlichen Garten seine Drachen steigen ließ; er war ein fleißiger tüchtiger Student, und genoß die wenigen, aber schönen Reisen, die er zur Ferienzeit, größtentheils zu Fuß, mit Ränzel und Wanderstab, unternehmen durfte, in vollen Zügen. Er lebte sodann mit Leib und Seele für seinen Beruf und seine Familie und brachte schließlich sein heiter ruhiges, beschauliches Alter in ungetrübter Geistesfrische auf fünfundachtzig Jahre. Bis zum letzten Lebenstage mild, heiter und freundlich, theilte er seine Zeit zwischen den geliebten Bücherschätzen und den geliebten Kindern. Die letzteren meinten freilich zuweilen, dabei ein bischen zu kurz zu kommen, aber die Bücher waren ja auch Großvaters älteste Freunde, so mußte man ihnen schon den Vorrang gönnen. – So hat Großvater sich Zeit genommen, zu leben, wirklich zu leben, und jedem einzelnen Lebensabschnitt sein volles Recht zu geben; er nahm sich auch Zeit dazu, sanft und friedlich einzuschlummern – wer weiß, vielleicht zu einem schönen Erwachen dort oben, wo wir wohl gar Rechenschaft abzulegen haben werden von der Verwendung oder Verschwendung unseres Erdenlebens!



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