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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Besseren besonnen habe? Doch Carmen beharrte bei ihrer erklärten Weigerung.

Bruder Jonathan schien diese Abweisung ruhig hinzunehmen, und wenn er ja etwas wie Kränkung oder gar Enttäuschung deshalb empfand, so mußte seine Selbstbeherrschung groß sein, denn sein Gesicht veränderte nicht im geringsten den Ausdruck frommer, ergebener Ruhe, und in seiner Stimme zitterte nicht der leiseste Hauch von Gereiztheit wieder, sodaß Schwester Agathe sich zu ihrer Beruhigung sagte:

„Es war ja nur ein Opfer, das er, selbstlos wie immer, für das Heil des Mädchens bringen wollte.“

Jonathan führte sein Beruf häufig in das Schwesternhaus, aber er verkehrte dort nur mit den Kranken und deren Pflegerinnen, zwar kam er jetzt öfter und zu verschiedeneren Tageszeiten als bisher in das Haus, um, wie er sagte, nach dem und jenem, was er vergessen, zu sehen, und wenn er da langsam mit seinen lautlosen Schritten durch die Gänge wandelte, traf er selten auf eine der Schwestern, auf Carmen aber nie.

Heute war nach einem Regentage noch ein schöner Abend gekommen, der klar und mild hernieder dämmerte. Carmen führte die kleine Frieda, mit welcher sie Frau von Trautenau neulich auf der Straße getroffen hatte, in das Elternhaus zurück, da das Kind nur während des Tages in Gesellschaft der andern Kinder in der Anstalt verweilte. Sie schlug einen kleinen Umweg ein und mäßigte ihre gewöhnlich so flüchtigen Schritte, um noch etwas länger die balsamische Frühlingsluft einzuathmen. Sie ging einen einsamen Weg zwischen Gärten dahin, wo an den Hecken der Weißdorn die ersten Blüthen entfaltet hatte und der süße Geruch der Veilchen aus dem Grase zu ihr emporduftete, sodaß sie sich verlangend bückte, um einige der holden Erstlingsblümchen zu pflücken.

Plötzlich hatte sie das unbehagliche Gefühl, als stehe Jemand hinter ihr, obgleich sie auf dem weichen Boden keine Schritte vernommen hatte. Sie erhob sich hastig – da legte sich schnell ein starker Arm um ihre Schultern und sie fühlte sich gewaltsam an eines Mannes Brust gerissen. Sie wollte um Hülfe rufen, aber der Athem versagte ihr; denn sie sah in Bruder Jonathan' s heiße Augen, und es war ihr, als erstarrte sie unter dem Druck seines Armes, wie damals, als die Schlange sie umringelt hatte.

Wie verwandelt war doch sein Gesicht! Leidenschaft und Gewaltsamkeit war, wie die verheerende Gluth des Vulcans, darüber ausgegossen und strömte in brennenden Worten über seine Lippen:

„Carmen, so jung, so heißen Blutes wie Du bist, solltest Du nicht Liebe erwidern können, die leidenschaftlich, verlangend Dir entgegenschlägt?“ rief er aus. „Du sahst nur den kühlen, bedächtigen Mann in mir, der Dich zur Gefährtin nehmen wollte, und wiesest ihn ab. Den glühend Liebenden aber, der Dich zum Weibe begehrt, um mit Dir die Wonne des Himmels in unaussprechbaren Freuden auf Erden zu genießen, o Carmen, den weise nicht von Dir zurück! So, lege Dein Köpfchen an meine Brust und fühle das gewaltige Schlagen meines Herzens – es ist die Sehnsucht, die nach Dir verlangt und so ruhelos darin klopft. Sieh mir in's Auge, laß' an meiner Gluth die Deine sich entfachen, in meiner Liebe Dein Herz aufgehen! Liebe, Liebe! Carmen, hast Du es vergessen, wie wir uns lieben sollen, Bruder und Schwester? Nein, mehr noch, uns selbst hingebend ohne Vorbehalt! Liebe mich also, Mädchen, wie ich Dich, und sei mein!“

Ihr Kopf hatte an seiner Brust gelegen – ihre Arme kraftlos von den seinigen umschlungen, war sie wie das dem Tode verfallene Vögelchen, das der Schlange nicht zu entrinnen vermag. Jetzt, als er athemlos schwieg, suchten seine heißen Lippen ihren bleichen, vom Schrecken fest geschlossenen Mund – er küßte sie begehrlich. Da erfaßte sie Entsetzen und Ekel. Mit einem gewaltsamen Ruck sich von ihm losreißend, floh sie einige Schritte zurück; dann, den Rücken durch die Hecke gedeckt, kehrte sie ihm das zürnende Antlitz zu, und die Augen funkelnd auf ihn richtend, rief sie:

„Zurück, Abscheulicher! Wie darfst Du es wagen, mich also zu berühren? Nahe mir nicht wieder, oder ich lasse meine Stimme laut ertönen, daß Himmel und Erde mir zu Hülfe kommen.“

Sie stand so wild erregt, so stolz und empört vor ihm da, daß er nicht wagte, ihr auf's Neue zu nahen, ja es flirrte ihm vor den erhitzten Augen, als sei noch eine andere Gestalt neben ihr, welcher sie so sehr glich und die ihr nun drohend und helfend zur Seite stehe.

„Ich will Dir nicht wieder nahen, wenn Du es nicht magst, Carmen, und verzeihe mir meine stürmische Leidenschaft!“ bat er dringend. „Aber versprich mir, daß Du mir gehören willst! Du bist ja nicht kalt, Carmen; Du wirst, Du mußt mitempfinden, was ich fühle. Laß mich Dir zeigen, was das Glück der Erde ist, das Du vielleicht ahnst, aber in seiner süßen Wonne nicht kennst!“

Das Mädchen schwieg. Ihre Antipathie gegen Jonathan war so alt wie ihr Erinnerungsvermögen; schon auf Jamaica war er ihr ein Gegenstand des Widerwillens gewesen, aber sie vermochte keinen Grund für ihre Abneigung anzugeben, und was sie von dem Mann wußte, sprach alles so sehr zu seiner Ehre, daß ihre Antipathie als ein völlig unberechtigtes Gefühl erscheinen mußte. Er genoß die Achtung und Verehrung der ganzen Gemeine; seine Frömmigkeit und Sittenstrenge, seine Enthaltsamkeit und Demuth waren hervorragend, selbst unter diesen frommen Seelen. Gegen Carmen war er in neuerer Zeit von besonderer Freundlichkeit gewesen, was von ihm, als dem Freund ihres Vaters, ihr erklärlich dünkte, aber nur ihr vermehrtes Unbehagen erweckte, sodaß sie den Aeußerungen seiner wohlwollenden Gesinnung zu entgehen suchte, wo sie es nur konnte. Ihre Ablehnung, ihn zu heirathen, glaubte sie ohne besondere Bedeutung für ihn, da sein Antrag ihr eben nur als ein Beweis dafür erschienen war, er wolle seine Freundschaft vom Vater auf die Tochter übertragen.

Nun erschreckte sie diese plötzlich hervorbrechende Leidenschaft, wenn sie auch in ihrem kindlich unschuldvollen Gemüthe nicht wirklich verstand, was sie daran so tief verletzte. Aber der Gedanke, daß er sie liebe und sie diese Liebe doch nimmermehr erwidern könne, erweckte in ihr die Scheu, ein ihr unverständliches, vielleicht tiefes Empfinden zu verletzen, und sie zwang sich daher zur Mäßigung ihrer empörten Gefühle, indem sie ihm endlich antwortete:

„Verzeihe mir, wenn ich Dir wehe thun muß, Bruder Jonathan, aber ich kann es nicht ändern – ich vermag's nicht, Dich zu lieben, wie Du es begehrst; ich wünsche und verdiene es auch nicht, daß Du ein so warmes Empfinden mir schenkst.“

„Carmen, das ist nicht Dein Ernst. Ich habe Dich erschreckt – besinne Dich! – laß dieses nicht Dein letztes Wort sein!“ Er trat nun doch wieder einige Schritte auf sie zu, aber Carmen wich scheu vor ihm zurück.

„Ich kann nichts Anderes,“ sagte sie fest, „jetzt aber laß mich, bitte, ruhig meines Weges heimgehen; Schwester Agathe harrt schon meiner.“

Bei Nennung dieses Namens schrak er zusammen und sah mit verstörten, unruhigen Blicken auf Carmen hin. Es wurde ihm plötzlich klar, von wie furchtbar zerschmetternden Folgen sein Benehmen gegen Carmen für ihn werden könne. Wie lähmende Furcht erfaßte ihn der Gedanke an das Gesetz der Brüderschaft, welches vorschrieb, daß alle Glieder der Gemeine jeglichen Fehl gegen die Moral, den sie an irgend einem Mitgliede der Brüderschaft gewahren, dem betreffenden Chorältesten zu entdecken haben, auf daß der Fehlende vermahnt werde. Wer da gefehlt hat, wird ein oder mehrere Male von der allmonatlichen Abendmahlsfeier ausgeschlossen, bis er durch Reue bekundet, daß eine Umkehr zum Guten in seiner Seele erfolgt sei. Hat aber die Strafe noch nicht die rechte Besserung hervorgebracht, so wird dem Betreffenden der Aufenthalt im Gemeinort für eine Zeitlang untersagt, strengsten Falls aber wird er ganz aus der Brüdergemeine ausgeschlossen.

Er, Bruder Jonathan, der bisher so makellose, mit sich und Andern so strenge, vielleicht plötzlich angeklagt, vermahnt, bestraft! Es war ein entsetzliches Bild gefallener Größe, welches sich bei Nennung Agathe's, der Aeltesten des ledigen Schwesternchores, ihm aufdrängte. Seine alte Selbstbeherrschung kehrte ihm auf ein Mal wieder; er fuhr mit der Hand über Stirn und Augen hin, als könne er so die Leidenschaft verwischen, die dort eben noch mit brennenden Lettern geschrieben stand, und es glückte ihm auch einigermaßen, einen gesammelteren Ausdruck anzunehmen und seiner Stimme etwas von der alten Ruhe wiederzugeben.

„Du hast gesehen, liebe Schwester, daß Leidenschaften uns hinterrücks überkommen, und was sie aus uns machen können, so sehr wir uns bestreben mögen, vor dem Herrn zu wandeln und unser Herz ihm darzubringen,“ versuchte er im alten Tone der

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