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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


St. Pauli andererseits nicht möglich ist, muß gerade deshalb gleich ganz Hamburg herein in die Zolllinie.“

Die Reichsverfassung hat allerdings im Artikel 34 die Möglichkeit vorgesehen, daß die Hansastädte Bremen und Hamburg den Einschluß ihres jetzt außerhalb der gemeinsamen Zollgrenze befindlichen Gebiets oder eines Theiles desselben in die Zollgrenze beantragen, und mancher aufrichtige Anhänger der wirthschaftlichen Freiheit sah schon diesen Zeitpunkt der freien Entschließung von Bremen und Hamburg sich immer mehr nähern, so lange unsere Handelspolitik während der Zeiten des Zollvereins und des Norddeutschen Bundes, nicht weniger aber auch in dem ersten Lustrum des wiederaufgerichteten Deutschen Reichs (1871 bis 1876) consequent und beharrlich auf der Bahn eines maßvollen Fortschritts blieb, welcher durch den Abschluß von Handelsverträgen den internationalen Verkehr förderte, die Schutzzölle allmählich in Finanzzölle verwandelte und so nach und nach die Ursachen beseitigte, welche verhinderten, daß sich im Zollgebiete große Centren des Welthandels bildeten.

Allein diese Möglichkeit ist wieder in weite Ferne gerückt, seitdem wir im Jahre 1879 mit unserer seit den Zeiten eines Stein, eines Hardenberg, eines Schön, eines Motz, Maaßen und Kühne beobachteten Handelspolitik so schroff gebrochen haben. Die Sonne der wirthschaftlichen Freiheit würde den Wanderer veranlaßt haben, den Mantel abzulegen – in der jetzigen Zeit der Stürme, der Ueberraschungen und der Ueberstürzungen unserer sogenannten „Wirthschafts- und Steuerreform“ welche alltäglich Neues und Unerhörtes ausbrütet und über Nacht in Vollzug setzt, muß er sich nur noch fester in denselben einhüllen.

Im gegenwärtigen Augenblick die Freihafenstellung der Hansastädte, und insbesondere die Hamburgs, aufheben, wäre in wirthschaftlicher Beziehung ein großes Unglück, ja ein wahres Verhängniß nicht etwa blos für Hamburg, sondern für ganz Deutschland, und zwar für Industrie wie Handel.

Fassen wir das Ergebniß aller geschichtlichen Erinnerungen, volkswirthschaftlichen Untersuchungen und finanziellen Erwägungen in kurzen Worten zusammen, so besteht es in Folgendem:

Die jetzige Freihafenstellung Hamburgs hat für das gesammte, unter Kaiser und Reich geeinigte Deutschland eine große Bedeutung. Dadurch, daß sie unsere mercantile Kraft unter freier Bewegung concentrirt, gewährt sie Deutschland eine günstigere Position im internationalen Handel. Durch Einbeziehung in die Zolllinie wird der Antheil Deutschlands am internationalen Verkehr geschmälert und verringert. Dieser Antheil ist in dem Laufe der letzten Jahrzehnte gewachsen, wie uns namentlich z. B. die Statistik des Baumwollenverkehrs darthut. Derselbe ist insbesondere auf Kosten Englands gewachsen. Einen beträchtlichen Theil dieser Stellung, welche wir Deutschen uns in dem Welthandel errungen haben, würden wir verlieren in dem Augenblicke, wo das Hamburger Gebiet seine Freihafenstellung einbüßte und einem Zolltarife und einer Zollbehandlung unterworfen würde, welche dem Welthandel nicht günstig sind und nach den Erklärungen ihrer eifrigen Anhänger nicht günstig sein wollen, indem Letztere bekanntlich den Handel überhaupt, und namentlich den internationalen Handel, für „egoistisch“ erklären. Mit dem Welthandel Deutschlands würde gleichzeitig auch die Schifffahrt zurückgehen. Die Handelsmarine aber ist der Vorläufer, die Schwester, die Stütze, die Grundlage der Kriegsmarine. Die eine ist ohne die andere nicht denkbar. Dieser Zusammenhang der Dinge, und namentlich der großen Dinge, wird nur zu leicht übersehen von Denjenigen, welche sich in den engen Kreis von kleinen Sonder-, Classen- und Kasten-Interessen einpferchen und darauf aus sind, alle Machtmittel des Staates für letzteren, und zwar auf Kosten der minder besitzenden Classen, in die Wagschale zu werfen, während sie doch nur für das Gemeinwohl Aller, zum Schutz und zum Nutzen des Ganzen, verwandt werden dürfen.

Was ist denn der Freihafen? Er ist ein großer Lagerplatz unmittelbar vor unserer Hausthür – ein Lagerplatz, auf welchem sich alle Befriedigungs- und Productionsmittel reichlich ansammeln, um uns die Auswahl des Zweckmäßigsten, des Besten und des Wohlfeilsten zu erleichtern. Und wir sind es, welche dabei den Löwenantheil beziehen. Wir haben nicht nur die erste Auswahl, das heißt die Auswahl des Besten, sondern auch die letzte Auswahl, das heißt die Auswahl des Billigsten. Nachdem nämlich wir, die Deutschen, gewählt haben, wählen dort die anderen Nationen, und dann kommen schließlich wir wieder zum zweiten Male und kaufen zu ausnahmsweise billigen Preisen, zu welchen das von Andern weniger Gesuchte nunmehr uns zu Gebote steht, und zwar uns deshalb, weil wir, wie es bei Fritz Reuter heißt, „die Nächsten dazu sind“. Diese billigen Preise aber machen eine industrielle Ausnutzung möglich, welche sonst ausgeschlossen wäre.

Hieraus ergiebt sich denn eine Verbesserung der Lage auch der deutschen Industrie, namentlich der exportirenden Industrie in dem Inlande, deren Exportfähigkeit ja gerade dadurch erhöht wird, sowie ferner die Möglichkeit industrieller Beschäftigung deutscher Arbeitskräfte in Productionszweigen, welche nur im deutschen Küstengebiete möglich sind und die, wenn man sie hier durch Neuerungen oder Umwälzungen unterdrückt oder unmöglich macht, ihren Platz im Auslande suchen werden. Ich habe das an einer anderen Stelle am Bremer Tabakshandel nachgewiesen, dessen Geschichte und Statistik in dieser Beziehung außerordentlich lehrreich ist für Jeden, der des guten Willens ist, etwas zu lernen.

Der Hauptvortheil der Freihafenstellung für Deutschland aber ist die dadurch gegebene Förderung des Exportes für Producte der Landwirthschaft und des Gewerbfleißes, und da unsere Industrie weit mehr producirt, als das Inland zu verbrauchen im Stande ist, so kommt dieser Vortheil in hervorragender Weise dem industriellen deutschen Binnenlande zu gute, und die Angriffe, welche im vermeintlichen Interesse des letzteren von dem Verfasser des „Manuscripts aus Süddeutschland“ (siehe unsern ersten Artikel in der vorigen Nummer der „Gartenlaube“) gegen Hamburg und die übrigen Hansastädte erhoben wurden und selbst heute, sechszig Jahre später, nachdem zwischenzeitig die in jenem „Manuscript“ behandelten Dissonanzen jeden thatsächlichen Anhalt verloren haben, noch hin und wieder ein verspätetes Echo wachrufen – diese Angriffe würden schwer zu begreifen sein, wenn man nicht wüßte, wie zu allen Zeiten an die Unwissenheit und die Leidenschaft appellirt wird, und selten ohne allen Erfolg.

Dagegen verdient eine Ausstellung, welche ein angesehener historisch-politischer Schriftsteller im Juniheft der „Preußischen Jahrbücher“ gemacht hat, eine Erwähnung und Widerlegung. Er meint, „daß die neue auf Begünstigung des Exports gerichtete Handelspolitik dringend wünschen muß, die Bildung von großen Lagern inländischer Fabrikate in den Seeplätzen zu erleichtern, und daß die Hansastädte mit diesem berechtigten Wunsche des deutschen Reiches zu rechnen haben.“ Er feindet die Freihafenstellung an, „weil die trennende Zollschranke jene großen permanenten Ausstellungen der Export-Industrie, wie sie der ausländische Kunde in einem Welthandelsplatze zu finden hoffte, erschweren.“

Diese Worte haben auf den ersten Blick etwas Bestechendes, ja etwas durch ihre Klangfärbung Blendendes. Aber in Wirklichkeit enthalten sie eine Kette von schweren Irrthümern. Zunächst ist es nicht die „neue“ Handelspolitik, welche den Export begünstigt. Im Gegentheil, dies that die alte, welche dem System der westeuropäischen Handelsverträge beigetreten und dadurch den Export deutscher Fabrikate – darüber läßt auch die officielle Statistik keinen Zweifel – mächtig gehoben, indem sie die Nachbarstaaten veranlaßte, ihre Tarifsätze zu ermäßigen, die Differentialzölle zu beseitigen und uns das Recht der meistbegünstigten Nationen einzuräumen. Die neue Handelspolitik dagegen hat durch Erhöhung der Zollschranken den internationalen Austausch erschwert, und zwar nicht nur den Import, sondern folgeweise auch den Export; sie hat die Handelsverträge erlöschen lassen und nicht wieder in ihrem alten Bestande erneuert; sie hat durch ihr Verhalten auch andere Staaten ermuthigt, zu der veralteten Politik der Handelsfeindseligkeit gegen Deutschland zurückzukehren. Man würde der deutschen Reichsregierung schweres Unrecht zufügen, wenn man an der Aufrichtigkeit der von ihr wiederholt kundgegebenen Absicht zweifelte, auch auf volkswirthschaftlichem Gebiete ein engeres und intimeres bleibendes Verhältniß mit der österreichisch-ungarischen Monarchie wieder herzustellen. Allein trotz allen guten Willens ist bei Aufrechterhaltung der „neuen Handelspolitik“ ihr dies gänzlich unmöglich. Es ist die unerbitliche Logik der Thatsachen, die es verhindert. Dies ist der erste Irrthum.

Der zweite Irrthum hat seinen Grund darin, daß der gedachte Gegner der Hamburger Freihafenstellung offenbar nicht weiß, was er freilich, wenn er über einen solchen Gegenstand schreibt, wohl wissen sollte, daß in Hamburg bereits eine seinen Wünschen entsprechende Zollvereinsniederlage existirt, deren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_678.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)