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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Aus Belgiens Jubeltagen.
(Schluß.)


In Brüssel spielte sich am folgenden Tage die Hauptfeier der ganzen Jubiläumstage ab: das patriotische Fest, das Fest des Vaterlandes! Verzeihen Sie, wenn ich bei der Erinnerung etwas dithyrambisch werden sollte, es war zu unvergeßlich schön.

Das Fest fand im Garten der Ausstellung statt; auf allen Wegen strömte eine zahllose Menge festlich gekleideter Menschen, mit Cocarden und Schleifen geschmückt, dorthin. Die Straßen waren mit Fahnen decorirt. Hier der Friedensengel! Die Fahnen aller Nationen der Welt umgeben wie eine Strahlenkrone das Bild der Göttin; rechts und links die vergoldeten Medaillons Leopold's des Ersten und seines würdigen Sohnes und Nachfolgers. Weiterhin der zum Andenken an die großen Männer von 1830 errichtete Triumphbogen, sowie ein andrer, welcher der Verherrlichung der Künste, der Wissenschaft, der Industrie und des Ackerbaues gewidmet ist. Und immer weiter dringen wir vor inmitten dieser unendlichen Volksmenge, die das „Heute“ ganz vergessen zu haben und nur der Erinnerung an 1830 zu leben scheint. So finden wir der Reihe nach das Gedächtniß an die provisorische Regierung, an den Nationalcongreß, an Leopold den Ersten und an die Kämpfer des großen Jahres gefeiert.

Nunmehr gelangen wir, begleitet von Kanonensalven, die vom frühen Morgen an den hohen Tag begrüßt, zum Festplatz, den auf der einen Seite wohl an hunderttausend Zuschauer besetzt halten, während auf der anderen die reich drapirte königliche Tribüne strahlt; zwanzig andere Tribünen, rechts und links davon, sind für die geladenen Gäste bestimmt, und eine der besten gehört der Presse.

Nachdem der gewaltige Festzug sich geordnet und seine Plätze eingenommen, verkündete ein Kanonenschuß die Ankunft der königlichen Familie; die Musikcorps stimmen die Nationalhymne an, Alles erhebt sich – und plötzlich durchbraust der Ruf aus hunderttausend Kehlen die Luft: „Es lebe der König! Es lebe die Königin!“

Es war ein überwältigender Augenblick!

Sichtlich ergriffen nahm der König seinen Platz ein; um ihn reihten sich die Fahnen und Banner. Darauf trat der Senatspräsident heran, hielt eine Anrede und überreichte eine Adresse; ihm folgten der Präsident des Hauses der Abgeordneten und der Minister des Innern, der einen kurzen geschichtlichen Ueberblick der frühern Zeiten Belgiens, seiner Kämpfe gegen die Fremden, seiner Leiden gab und damit in begeisterten Worten die letzten fünfzig Jahre verglich, den Congreß und die provisorische Regierung um ihre Weisheit und Mäßigung preisend. Nach ihm sprach der Präsident des Cassationshofes, sowie der des Provinzialrathes, und zuletzt der Bürgermeister von Brüssel. Und dann antwortete der König in begeistert aufgenommener Rede, welche mit den Worten schloß: „Mein einziger Ehrgeiz ist, meinem Vaterlande zu dienen, wie ich es von ganzem Herzen und ganzer Seele liebe.“

Nun begannen die vorher erwähnten Körperschaften vorüberzuziehen an der königlichen Estrade, ein Zug, wie er wohl niemals vor den Augen eines Fürsten sich entfaltet hat: Zuerst fünf- bis sechstausend Vertreter aller Gemeinden Belgiens, dann die Freiheitskämpfer von 1830, vor denen alle Häupter sich entblößten und alle Hände Beifall klatschten; es folgten Hunderte von Gilden, Turn- und Sangesgenossenschaften und alle Deputationen der Bürgergarden und des Heeres.

Aber mitten in dieser Pracht, dieser Begeisterung dürfen wir zweier interessanter Momente nicht vergessen, die noch vor der Ankunft des Königs sich ereigneten. Seines hohen Alters wegen konnte Mr. Rogier nicht am Aufzuge theilnehmen; er kam allein an, auf den Arm eines Freundes gestützt – da drängte sich die ganze Masse der Umstehenden, Officiere, Würdenträger des Hofes, um ihn, die den König erwartete; man führte ihn zu seinem Ehrenplatze, und hier mußte sich dieser berühmte Staatsmann und Patriot sagen: das Volk ist doch dankbar und treu in seiner Liebe.

Und mit gleichem Jubel wurde der greise Abbé de Haerne empfangen (übrigens der einzige Geistliche, der am Feste Theil nahm!); sein edles Gesicht strahlte das Glück wieder, das er empfand, diesen Tag erlebt zu haben, nachdem er wie Rogier 1830 dieses Belgien gründen geholfen. Und als er neben Rogier seinen Ehrenplatz einnahm, weihte das Volk den beiden geliebten Veteranen neue, brausende Huldigungen.

Nach dem Vorbeizug ertönte, von großem Chor ausgeführt, die Festcantate, gedichtet von Hymans, componirt von Lassen, deren einzelne Verse und namentlich der Schluß:

Es stirbt kein Volk von freiem Sinn.
O Freiheit, unsre Führerin,
O Königthum, du Schirm und Wehr –
Ihr macht uns stark, nichts Andres mehr.
Frei Belgien, du sollst leben!

einen unendlichen Jubel und einen Beifallssturm hervorriefen, der endlich in der unwillkürlich aus den vielen Tausenden herausbrechenden Nationalhymne, der Brabançonne, gipfelte.

Und dann verließ die königliche Familie, nämlich der König, die Königin, die anmuthige Prinzessin Stephanie, der Graf von Flandern (der künftige Thronfolger) und dessen Kinder, den Festplatz, wieder geleitet von den Zurufen des Volkes, worauf die Massen sich verliefen – so schloß das patriotische Fest, das Fest des Vaterlandes, das Fest der fünfzigjährigen Freiheit.

Am folgenden Tage besuchte ich die internationale Ausstellung, die nichts eben besonders Hervorragendes enthielt, dann aber das Parlamentsgebäude, in dem namentlich der Senatssaal durch die von Gallait und den Bièfve gemalten lebensgroßen Bilder der belgischen Regenten sich auszeichnet, sowie die herrliche Kathedrale St. Gudula, die ihres edlen Baues, ihres in Holz geschnitzten Altars und ihrer kostbaren Glasmalereien wegen berühmt ist, auch den Justizpalast nahm ich in Augenschein, und endlich das Museum Wiertz. Ein wunderbares Museum, ganz den Werken eines einzigen, vor wenigen Jahren gestorbenen Künstlers gewidmet! Und diese Werke selbst! Bilder voll Kühnheit des Entwurfes, an Michel Angelo erinnernd, gewaltig gemalt, aber vielfach in erschreckend kolossalen Dimensionen – so ein Sturz der Dämonen, prachtvoll, aber einige sechszig Fuß hoch! – und dabei zum Theil grausig, abstoßend, in Entsetzen schwelgend und philosophisch gedacht, sodaß man oft sagen muß: welche Verirrung eines kühnen Geistes und eines großen Künstlers!

Abends war die ganze Stadt strahlend und großartig illuminirt, wenig mit den kalten Gasflammen, desto mehr mit bunten Lampions, farbigen Lämpchen, chinesischen Ballons etc., aber wunderbarer Weise sah man nirgends Transparente, Bilder, Sprüche. Besonders schön war der Park, dem Palaste des Königs gegenüber, mit seinen Ehrenpforten für Leopold den Ersten und Zweiten, für den Congreß etc., erleuchtet. Man sah nirgends Polizei, und doch herrschte überall die größte Ruhe und Ordnung. In mancher deutschen Stadt wäre das undenkbar.

Die vergangenen Zeiten tauchten feenhaft vor unseren Augen auf, als am nächsten Festtage die historische Cavalcade sich vor unsern Augen entfaltete, getreu und zugleich künstlerisch schön, ein lebendes Bild nach dem andern bietend.

Zuerst die alte vlamländische Standarte; dann zehn berittene Trompeter mit reichen Wappenschildern, kriegerische Fanfaren blasend; sie trugen das Costüm des dreizehnten Jahrhunderts. Das vierzehnte Jahrhundert schließt sich an: Ritter und Pferd in glänzendem Waffenschmuck; die Wappen ihrer Gemeinden sind nicht auf ihre Schultern gestickt, aber in ihrer Fahne glänzen sie. Die Leiber stecken in reichen Tuchtuniken, mit dem Stahlhelm auf dem Haupte, zur Seite das mächtige Schlachtschwert.

Es folgen vierzig Reiter, die alten belgischen Gemeinden darstellend, das Banner mit dem Wappen jeder Stadt in der Hand; ihre vier Gruppen stellen das dreizehnte, vierzehnte, fünfzehnte und sechszehnte Jahrhundert dar. Bei den Rittern des fünfzehnten Säculums ändert sich die Tracht; sie wird fast ganz eisern; nur unter ihrem Harnisch tragen die Mannen ein Gewand von Tuch, und auf der Brust das Wappen ihrer Gemeinde, deren Farben auch die Schabracken ihrer geharnischten Pferde zeigen. Reicher gekleidet, mit sammetnen, goldgestickten Gewändern und wallenden Federbüschen erscheinen die Vertreter des sechszehnten Jahrhunderts. Nun ein Herold, zwölf Trompeter in weißen, rothen, violetten Gewändern, mit Schnabelschuhen; eine zahlreiche Truppe Bewaffneter; ein Sängerchor in weißer Tunika mit Löwenköpfen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 674. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_674.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)