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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Er war unruhig von seinem Platze aufgestanden, und den Arm auf die Lehne des Stuhles stützend, hatte er die letzten Worte hastiger gesprochen, wie in innerer Erregung eines schnellen Entschlusses; seine Augen suchten dabei den Fußboden, nur hin und wieder einmal flüchtig aufblickend, als ob er die Wirkung seiner Worte auf Schwester Agathe's Gesichte erlauschen wolle.

In den Zügen der Schwester aber schimmerte eine freudige Bewegung. „Ein Opfer zu des Herrn Preis, das Du für Schwester Carmen bringen willst!“ rief sie gerührt aus. „Wie könnte ich anders, als es billigen, lieber Bruder? Du, der fromme, weise, erprobte Mann, voll Liebe und Duldung für sie und doch voll der rechten Erkenntniß – wo in der Welt könnte sie einen besseren Berather und Führer finden, als Dich?“

„Sprich nicht also, Schwester Agathe!“ unterbrach er sie verweisend. „Keine sündhafte Creatur verdient solches Lob, am wenigsten ich. Wir sind alle nur demüthige Werkzeuge Gottes, und mangeln des Ruhms, den wir vor ihm haben sollen.“

„Nicht doch, lieber Bruder! Das Gute im Andern anzuerkennen, ist recht,“ erwiderte sie sanft, „und ich sage nicht mehr, als was in Wahrheit ist. Wären doch Alle so bescheiden, wie Du bei so vielem Verdienst es bist! Die Kranken verlangen nach Dir und rühmen Dich als ihren Helfer; den Gesunden bist Du überall ein liebevoller Freund und Berather. Laß Dir danken für das, was Du Carmen in Liebe und Güte bietest! Nach dem Liebesmahl will ich den Aeltesten Dein Anerbieten mittheilen, und stimmen auch diese ihm bei, so werde ich heute Abend mit Carmen über unseren Plan sprechen; ich habe sie ohnedies zu mir beschieden, sie wegen ihres Verhaltens von heute Morgen zu vernehmen. Jetzt aber wird es Zeit, nach dem Betsaal zu gehen.“

Sie erhob sich und reichte Jonathan die Hand hin, deren herzlichen Druck er erwiderte. Er war nie demüthiger in Miene und Gang gewesen, als da er jetzt das Zimmer verließ. Aber als er hinter sich die Thür in das Schloß gedrückt hatte, blieb er einen Augenblick stehen und warf den Kopf zurück. Der unangenehme, frivole Zug um seinen Mund trat lebhafter denn je in einem lüsternen Lächeln der Befriedigung hervor.

„Ah!“ flüsterte er, „Schönheit und Reichthum, wenn sie nun doch mein würden, das wäre eine süße Entschädigung für Vergangenes.“




3.

Als Frau von Trautenau mit ihrer Familie den großen, freundlichen Betsaal betrat, um dem Liebesmahl beizuwohnen, war die Gemeinde schon bei Gesang, zu dem die Orgel ertönte, versammelt; der Raum war beinahe gefüllt. Frau von Trautenau erhielt von Schwester Agathe für sich und Adele noch Plätze angewiesen, während Alexander ein paar leer stehende Stühle nahe am Eingang mit seinem Bruder Hans theilen mußte.

Der Raum bietet für eine Kirche ein eigenthümliches Bild dar. Auch er entbehrt jeglichen Schmuckes, der Altar ist nur ein grün behangener Tisch, auf welchem das Crucifix steht. Die Brüder und Schwestern saßen an langen, weiß gedeckten Tafeln, aber wie gewöhnlich von einander getrennt, und Jedem von der andächtig singenden Gemeine wurde Thee in Tassen nebst kleinen weißen Brödchen gereicht.

Jetzt schwieg der Gesang; die Orgel verstummte, und es erfolgte nun ein längeres Gebet, worauf der Lehrer den Brief eines Missionärs, Joseph Hübner, aus dem Kaffernlande vorlas.

Es war ein rührendes Bild demüthiger Selbstentsagung und treuen Ausharrens, das dieser Brief entrollte; Alexander fühlte sich mächtig ergriffen, sodaß er darüber ganz vergaß, welche seltsame Zusammenstellung von religiösen Betrachtungen mit leiblichem Genuß dieses Liebesmahl doch darbot. Auch hatte er im aufmerksamen Zuhören nicht bemerkt, daß in seiner nächsten Umgebung eine eigenthümliche Unruhe herrschte und die frommen Brüder, leise flüsternd, mit staunenden Blicken ihn und seinen Bruder betrachteten.

Der Vorleser schwieg gerade, und die Orgel intonirte zu einem neuen Gesang; da stieß Hans seinen Bruder an:

„Was finden sie nur Merkwürdiges an uns? Sie betrachten uns so eigenthümlich.“

Alexander besah sich und seinen Bruder genau – er konnte nichts Auffälliges an ihnen Beiden entdecken; auch hatten sie still dem Gang der Feier beigewohnt und ihre empfangene Tasse Thee und das Brödchen pflichtschuldigst genossen. Aber es mußte doch etwas Besonderes an ihnen sein, was Störung verursachte. Er wendete sich daher an seinen Nachbar mit der Frage:

„Wir nehmen doch nicht etwa Jemand hier die Plätze weg?“

„O nein, lieber Herr,“ entgegnete der Angeredete.

„Um so besser! Wir möchten nicht Störung verursachen, und ich fing schon an zu fürchten, daß dies geschehen sei.“

„Bitte, entschuldigen Sie, lieber Herr,“ stammelte der Bruder verlegen. „Es war gewiß unbescheiden von uns, Sie so viel zu betrachten, und doch, es war nur aus Mitgefühl – ein so junges Blut, wie der liebe Bruder ist, und doch schon Wittwer!“

Alexander maß den Sprechenden mit prüfenden Blicken, ob der Mann wohl fasele. Hans – Wittwer! Dieser sah doch trotz seiner aufgeschossenen Länge noch völlig wie ein unreifer Schulknabe aus.

„Wittwer, mein Herr?“ fragte Alexander gedehnt. „Mein Bruder ist sechszehn Jahre alt und besucht noch die Schule; da heirathet man bei uns noch nicht.“

„Dann freilich, lieber Herr – es wollte mir auch seltsam scheinen,“ stotterte der gute Mann in äußerster Befangenheit. „Aber – Sie haben sich unter das Chor der Wittwer gesetzt.“

Fast hätten Alexander und Hans laut aufgelacht; es war ein gar zu drolliges Mißverständniß.

„Da sind wir Beide am falschen Platze, mein Bruder sowohl wie ich; entschuldigen Sie unsere Unkenntniß Ihrer Einrichtungen! Ich sah wohl die Männer und Frauen getrennt sitzen, konnte aber nicht ahnen, daß auch die Wittwer ihre eigenen Plätze haben. Sagen Sie mir gefälligst, wohin wir uns zu begeben haben, beide unverheirathete Bursche, die wir sind.“

„Nein, bitte, lieber Herr,“ meinte sein Nachbar. „Bleiben Sie, wo Sie sind! Das Liebesmahl wird ohnedies gleich zu Ende sein, und es wird nur noch Bruder Daniel von den Brüdern und Schwestern Abschied nehmen; denn er geht als Missionär in das Capland, Bruder Joseph zu Hülfe, und wird morgen abreisen.“

Indem erhob sich auch schon die Gemeine, und ein Mann schritt langsam vor. Er ging zuerst zu den versammelten Schwestern, jeder die Hand zu reichen; dann kam er zu den Brüdern herüber und gab jedem den Scheidekuß. Und der da Abschied nahm, um von den Bequemlichkeiten des civilisirten Lebens hinweg dem fernen Bruder zu folgen in dessen Ringen und Ausharren – es war derselbe linkische, unmännlich aussehende Bruder, der am Morgen in seinen Reitversuchen so unglücklich gewesen war.

Es ist immer das unleidliche Gefühl einer moralischen Niederlage, welches uns überkommt, wenn wir plötzlich einen Menschen an Bedeutung vor uns emporwachsen sehen, den wir eben noch geringschätzig betrachten zu dürfen glaubten. Ein gerechter Sinn weiß sich schnell in diese Anerkennung zu finden; ein kleinlicher, eingebildeter trägt aus solcher Niederlage nur Groll und Mißgunst hinweg.

Alexander überkam es mit Beschämung, daß er vermocht hatte, geringschätzig ob des unbeholfenen Mannes zu lachen, der ihm doch jetzt wie ein Held erschien.

An der ihnen gegenüberstehenden Tafel hatten die jungen Schwestern und die Zöglinge der Erziehungsanstalt ihre Plätze, unter ihnen Adele und nicht fern von ihr Carmen. Als Alexander jetzt sinnend aufsah, begegnete er plötzlich den glänzenden Augen Carmen's, die ihn mit einem Ausdrucke sieghaften Stolzes und fast gebietender Hoheit maßen, als fühle sie mit Genugthuung die Demüthigung, welche ihm der Augenblick für sein geringschätziges Lächeln am Morgen gebracht. In ihrem Gesichte, so ausdrucksvoll wie es war, glaubte er deutlich zu lesen: „Du kannst vielleicht gut reiten – der Mann da kann es nicht; Du fürchtetest Dich nicht, das Kind zu retten, indem Du das wilde Thier aufhieltest – der Mann wagte es nicht; aber würdest Du den Muth zu leiden haben, den er besitzt?“

Wie so ihre Blicke sich maßen, hielt sie ruhig und sicher den seinigen aus, ihm aber war es, als müsse er die Augen niederschlagen.

Inzwischen war der Bruder demüthig, bescheiden bis in seine Nähe gekommen, um den Bruderkuß beim Abschiede von den Nachbarn Alexander's zu empfangen. Und jetzt stand der Mann vor diesem; unschlüssig hielt er an – er mochte seinen Helfer vom Morgen wiedererkennen, und das Roth der Beschämung überzog die sanften, fast weibischen Gesichtszüge, als er zu dem aufsah,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 667. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_667.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)