Seite:Die Gartenlaube (1880) 628.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

hatte den alten Pfad neben dem Ufer theils weggerissen, theils ungangbar gemacht; wir mußten auf weite Strecken hin einen neuen Pfad bahnen, stießen immer wieder auf neue Hindernisse, suchten hin und her, vorwärts und zurück, verloren und suchten wieder die rechte Richtung, arbeiteten uns matt und müde und doch nur langsam weiter – es war, als habe Wald und Strom sich gegen uns verschworen. Die Kost ging aus; kein Wild kam zu Schuß, selbst die Thiere schienen verscheucht. Kein Nachtlager bot Ruhe und Schlaf, und die Kräfte wollten uns fast verlassen.

‚Am Samstag,‘ hatte Miguela gesagt, ‚erwarte ich Euch.‘

Der Sonntag war herangekommen; unser Kampf um’s Leben hatte uns Tag und Stundenschlag vergessen lassen, und der Gedanke an meinen jungen Freund, welchem ich Miguela auf die Seele gebunden, schläferte mich vollends ein.

Miguela aber gedachte des Tages besser; sie führte mit dem bestimmten Stundenschlage ihre Drohung aus und machte sich, von ihrem kleinen Bruder und meinem jungen Freunde, der sich unabweisbar an ihre Sohle heftete, begleitet, auf den Weg, den Weg, der uns gestählten Männern zum Grabe zu werden drohte.

Die Morgendämmerung lag über Santa Barbara; alle Menschen schliefen; die ersten Stimmen im Walde regten sich, und freundlich blaute der Himmel aus der grauen Dämmerung auf, aber der dunstige, sengende Glanz der Sonne und der flimmernde, schwefelige Dunst, der sich über die Erde lagerte, kündete alsbald einen heißen, schwülen Gewittertag an.

Rüstig schritten die drei Wanderer auf unserer, noch erhaltenen Pfadspur fort. Miguela schrak vor nichts zurück, nicht vor den angeschwollenen Stromwellen noch vor den über den Grund hinrollenden Steinen; bald blutete sie aus der zerrissenen Haut und die Kleider sogen sich schwer voll Wasser; Felsen- und Baumtrümmer sperrten den Weg. Umsonst baten und riethen die beiden Burschen vor den Schrecken der Wildniß zur Umkehr; Miguela spornte nur noch entschiedener zum rastlosen Gange an und mahnte, vorsichtig nach unserer Spur zu spähen. Das Alles hat ihr Bruder uns nachher erzählt.

So kamen sie in das Felsenloch. Mein junger Freund sah den schmalen Schluchtpaß oben durch einen gestürzten Baum gesperrt; er kletterte schnell voraus, um einen Durchhau mit der Axt zu machen, während Miguela so lange unten auf einem Stein ruhte. Zwischen den lichtlosen, schmalen Felsenufern sahen sie nicht, daß der sengende Gluthdunst anfing zu rauchen, daß das Auge der Sonne trübe und blind ward, der Himmel sich aschgrau umzog, und an den Bergen dicke Wolken niederrollten.

‚Bruder – es donnert auf den Bergen!‘ ruft der Bube da unten dem Anderen oben ängstlich zu, der unter den Schlägen der Axt nichts sieht und hört.

‚Eile Dich, Knabe, und hilf ihm oben bei der Arbeit!‘ treibt Miguela den Bruder mit aufmunterndem Zurufe an.

Kaum hat der Knabe den halben Weg hinter sich, da stürzen sich donnernd die Wasser herab; erschreckt wendet er das Gesicht; Miguela steht auf einem Felsblocke mitten in der Schlucht.

‚Schwester – die Fluth! Bruder – die Fluth!‘ ruft er voll Todesangst hinunter und hinauf.

Kaum stößt er den Schreckensruf aus, da rast auch schon donnernd die Fluth herbei. Schlammigen, rothen Schaum aufwerfend, drängt sich die Sturzwelle in das Felsenloch ein. Dumpf rollt das Gerölle über den Grund; Bäume brechen und zersplittern an den Felsen; die schweren Quadern wanken, und die Erdfeste scheint zusammenzubrechen.

‚Bruder, mein Bruder, hilf!‘ ruft es mitten aus dem kochenden Gischt heraus. Miguela steht auf einem wankenden Felsblocke, von der rothschäumenden Brandung umtost. Sturmschnell wächst die Fluth, und in rasender Eile spannt sie die wilden Flügel aus; gleich brüllenden Geschossen rollt Gestein gegen Gestein. Da prallt, vom wilden Wirbel gepackt, ein Baumstamm gegen den Felsblock, über welchen die Wellen die gierigen Arme nach Miguela zusammenschlagen. Der Stein wankt – kippt; ein markerschütternder Schrei: Miguela sinkt, von der Fluth erfaßt. Der Bursche aber sieht die heranwälzenden Wasser, sieht Miguela von den Wogen umbrandet, sieht den Felsblock wanken, Miguela untersinken; in einem Augenblick ist alles Das geschehen. Zwei Arme noch heben sich aus dem rothen Gischt – da stürzt auch er in das grause Grab. Noch einmal hebt die Welle Miguela empor – Arm streckt sich gegen Arm; und wieder schnellt ein Sturmbalken heran – und mit umschlungenen Armen liege Beide in den Grund gebohrt.

Den, der das Alles sieht, den hülflosen Knaben, faßt dieselbe Welle – doch sie schleudert ihn an das steile Ufer, ihn im Gebüsche zurücklassend, als sie wieder hinabfällt und weiter rollt. Betäubt, wund und zerschlagen, bleibt er liegen; vor seinen dunkelnden Augen taucht unten noch einmal das Haar, das Haupt, das Kleid aus der Fluth; dann schwindet Alles vor seinen Blicken, und dunkle Nacht umfängt seine Sinne. –

‚Auch hier ging das Wasser hoch,‘ sprechen wir, als wir zu dem Felsenloche der Schlucht von Santa Barbara hinabsteigen.

‚Still, Cameraden,‘ rufe ich, hinaushorchend; ‚mir ist’s, als hörte ich jammern.‘

Wir gehen weiter; die Rufe treffen deutlicher unser Ohr; vernehmlicher wird das Stöhnen und Wehklagen. Noch einige Schritte – und vor uns liegt der Knabe, blutig und zerschlagen, in’s Gestrüpp eingeklemmt. Winselnd ruft er uns entgegen:

‚Die Fluth hat sie Beide hinweggerissen.‘

Der ‚grimme Wolf‘ stiert versteinert auf den wunden, jammernden Knaben; dann plötzlich sprüht ein düsteres, wildes Feuer aus seinen verglasten Augen; er blickt in die Runde und brüllt auf, wie eine angeschossene Bestie:

‚Das habt Ihr gethan. Ihr habt sie hinausgetrieben.‘

‚Mann,‘ rufe ich ihn an, ‚weshalb beschuldigst Du uns? Das ist Dein Werk – habe ich es Dir nicht immer gesagt?‘

Wüthend schleudert er meinen Arm zurück und stürzt hinab, dem Strome nach, in das Felsenloch.

Wir Anderen legen den Knaben ruhig nieder; die Einen bleiben bei ihm zurück, die Anderen – unter ihnen ich – eilen dem Alten nach.

Wir laufen, klettern, steigen und keuchen lautlos neben einander her – immer weiter die Quebrada hinab; wer uns durch das Felsenloch geführt und wie wir hindurchgekommen, weiß ich bis heute nicht; es wird ein Wunder der heiligen Barbara gewesen sein. Bäume liegen umgerissen, Ufer eingestürzt, neue Ufer angeschwemmt; endlich sehen wir den Strom quer gesperrt durch eine mächtige Palissade; vor einem Zackenjoch von Steinen liegt der Länge nach ein dicker Baum, einen festen Damm durch das Wasser treibend; murrend beugt sich der Strom dem zwingenden Joche, seinen Nacken unterhalb hindurchzwängend. Wir bahnen uns den Weg mit Fäusten und Messern durch das verschlammte Wurzel- und Zweiggestrüpp, treten das Reisig nieder und zerreißen die Schlingruthen, welche sich um Brust und Füße wickeln. Da plötzlich steht der Alte vor uns – ein Anblick des Entsetzens. Er rührt sich nicht und bohrt den Blick in das trübe Wasser. Ich folge seinem Auge; es haftet auf einem Streifen blauen Zeuges, das, von dem Zacken eines gebrochenen Astes aufgefangen, ein wenig aus dem Wasser taucht; mir stockt fast das Blut – auch ich wage nicht, mich zu rühren. Da beugt sich der Alte, von uns aus seiner Erstarrung gerissen, langsam nieder, reißt das Gezweige aus einander – und, wie der Jaguar über sein Junges brüllt, so schreit er seine Wuth, seinen Schmerz, seine Verzweiflung aus:

Dios, misericordia! Ich hab’ sie gemordet; sie ist ohne Absolution hinabgefahren.‘

Zum ersten Mal höre ich den ‚grimmen Wolf‘ Gott um Erbarmen anrufen, und während er sich ausschreit und die Zweige auseinander zerrt, taucht das untergesunkene Haupt Miguela’s mit dem langen, aufgelösten Haare aus der trüben Tiefe auf, und als wir sie aus dem Wasser ziehen, finden wir sie welk zusammengeknickt, die Rückenwirbel wie Glas zersplittert. Wir lösen sie aus dem Gestrüppe – da scheint sich eine Hand, ein Arm nach ihr auszustrecken; wir fassen auch diesen Arm und ziehen mit zerschmetterter Brust meinen armen, jungen Freund herauf. Er hatte sein Wort gehalten – und nun hielt er im Tode, was ihm das Leben versagt.

Der Alte wirft sich auf den Stein vor Miguela nieder, stützt das Kinn in beide Hände und vergräbt sein Auge, wie ein Wahnsinniger, lautlos, bewegungslos in das Antlitz der Todten. Endlich erwacht er aus seiner dumpfen Verzweiflung; er sieht mich im Sande knieen, die Hände falten und beten; als ob ein Erz aus einander schmilzt, so überkommt es ihn weich und weh, vielleicht zum ersten Male in seinem Leben. Er gleitet von dem Steine, kniet, wie ich, in den Sand nieder und ruft mit bebender Stimme und die gefalteten Hände gegen Miguela’s Leiche ausgestreckt:

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 628. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_628.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)