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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


hinauf zur Ueieli-Alp, allwo euch Se. Majestät der Bergkönig Tödi unwidersprechlich darthun wird, daß er ein Prachtkerl sans phrase. Welche olympische Ruhe dort oben! Welche Sicherheit vor alle dem politischen, geschäftlichen, literarischen und musikalischen Spektakel drunten! Welche Auflösung der tausend Dissonanzen des Menschendaseins in die balsamische Harmonie feierlichen Schweigens! Mit Wonne gedenk' ich noch jetzt eines milden, wolkenlosen Herbsttages, den ich, ziellos umherschweifend, vor Jahren einmal ohne jede Störniß auf der Ueieli-Alp verbrachte. Dort ist mir der Tiefsinn von Hölderlins Wort aufgegangen: „Nun versteh' ich den Menschen erst recht, da ich fern von ihm in der Einsamkeit weile.“ …

Wer aber im Lande,[WS 1] d. h. in Ragaz bleibt, um redlich warmes Wasser zu trinken, zu baden, sich nebenbei vortrefflich – vielleicht etwas vortrefflicher als kurgemäß – zu nähren, in den schönen Gärten des Quellenhofes und des Hofes Ragaz umherzuschlendern, im Waldparke droben zu träumen oder in der großen Säulenhalle vor dem Kurhause den Weisen der vortrefflichen Kurkapelle zu lauschen, der mag Vormittags zur Ruine Freudenberg spazieren, um von dort nach den sieben oder mehr Kuhfirsten (d. h. Kuhrücken, nicht Kurfürsten) am Walensee, nach den beiden Gonzen und dem Alvier auszuschauen, und mag dann gegen Abend hin die sanft ansteigende Waldzickzacksstraße hinaufwandern bis zur Ruine Wartenstein, auf die von rechtsher der kolossale Felsblock, welcher burgartig den Piz Alun krönt, herabschaut, während links unten das Rheinthal bis Zizers sich aufthut und das Auge auf dem satten Grün der Bergwände des Prätigau's ruht, von woher die Landquart durch die Klus hervorbricht, um sich unfern der Tardisbrücke dem Rhein in die Arme zu werfen. Sind Luft und Licht dir gewogen, so siehst du jenseits des Stromes Maienfeld und Jenins aus dem grünen Kranz ihrer Weingärten weiß hervorschimmern und später, wann die Dämmerung schon ihren Duftschleier auf das Thal zu breiten sich anschickt, die riesigen Felszacken des Falknis im Abendstrale roth aufglühen. Wer im Besitz eines leidlich gut erhaltenen Piedestals, sollte auch den Besuch des Dorfes Pfäfers, des nahebei gelegenen Tabor, sowie des Bergdorfes Valens nicht versäumen.[1]

Der Gang von Ragaz die Tamina entlang zum Bade Pfäfers und zur hart dahinter sich öffnenden Quellschlucht, deren Großheit keine zweite Kluft oder Klamm im ganzen Umfange der Alpen erreicht, ist für jeden Kurgast und für jede Kurgästin selbstverständlich. Wer hier einmal gewandelt, unter sich die tosend in ihrem Felsrinnsal daherströmende Sardona-Tochter, über sich die gigantesten Wölbungen einer kyklopischen Naturarchitektur, der trägt einen Eindruck mit fort, welcher sich niemals verwischt.

In Dunkel und Schweigen liebt die Natur ihre heiligsten Mysterien zu bergen. Aber der Mensch, zugleich ihr Sklave und ihr Tyrann, dringt wißbegierig und nutzungssüchtig in ihre innersten Geheimnisse. So hat er auch hier, unter den Bergen einer an urzeitliche Erdumwälzungen gemahnenden Riesenhalle, einen Schacht in den Fels gebohrt, um die dampfende Najade bei ihrem Hervorsprudeln aus der Tiefe zu fassen und zu fangen, damit sie ihm dienstbar sei. Umwirbelt von Dampfwolken, welche die Leuchte des Führers nur schwach durchhellt, stehst du, nachdem du etwa fünfzig Schritte in einem engen Stollen gethan, in einer wie von Berggeisterhänden geweiteten Höhlung und blickst über ein hölzernes Geländer hinweg in einen tiefen Kessel hinab, von wo ein leises Gemurmel und Geplätscher heraufkommt, kaum vernehmbar in dem von draußen hereindringenden Rauschen der Tamina. Dort unten quillt die Heilquelle von Pfäfers-Ragaz, krystallhell, das klarste, reinste Urwasser von 30 Gr. R. Wärme, vergleichbar nur den schwesterlichen Wassern von Gastein und Wildbad. Alswie ein von den geheimnißvoll im Erdinnern waltenden Mächten an die Oberwelt geisterhaft heraufgesandter Gruß muthet das leise Murmeln und Plätschern dich an.

Bist du dann wieder hervorgetreten aus Dampf und Dunkel auf die schmale Plattform vor dem Quellschacht, von welchem aus die Röhrenleitung zum Bade Pfäfers und, bald über, bald unter der Erde, immer die Tamina entlang oder dieselbe überbrückend, die Wegstundenlänge bis hinab nach Ragaz geht – da mag dir wohl der Gedanke kommen, wie wildschauerlich es an dieser Stelle vor 800 und etlichen 40 Jahren ausgesehen haben müsse, dazumal nämlich, als – wie Urgroßmutter Sage zu plaudern weiß – so um das Jahr 1038 herum eines Tages ein kühner Jägersmann, der Karl vom hohen Balken aus Valens, in den Taminaschlund kecklich sich hineingewagt und den Heilquell gefunden hat. Die Sage will ihr Recht, und so soll ihr nicht verübelt werden, daß sie in ihrer naivpoetischen Weise diese Findung auszuschmücken liebte. Der Jäger hatte sein Leben gewagt, um eine von krächzenden Raben in den Abgrund hineingejagte Taube vor ihren Verfolgern zu schützen – wohl ein Anklang an die Klostersage von Pfäfers-Pirminsberg, derzufolge ja eine „schneeweiße“ Taube (die Tauben sind bei solchen Gelegenheiten bekanntlich immer weiß, schneeweiß) dem heiligen Pirmin und seinem Freunde Adalbert den Weg zu der Stelle auf der Bergterrasse rechts am Fuße des Piz Alun gewiesen hatte, allwo zwischen 721 und 730 das jetzt zum Staatsirrenhaus des Kantons St. Gallen umgewandelte Kloster gegründet und mit Benediktinermönchen aus der Reichenau bevölkert wurde. Längs des tobenden Gletscherwassers durch das Gestrüppe der bislang noch von keines Menschen Fuß betretenen Urwaldwildniß sich Bahn brechend, stand der Jäger plötzlich staunend, starrend still, als er aus einem Felsspalt weiße Dampfwolken hervorwirbeln sah, welche der heiße Quell aus der verborgenen Tiefe heraufathmete. Der Finder des „Wunders“ machte als der Gotteshausmann, der er war, seinem Herrn, dem Abte von Pfäfers, schleunige Meldung. Aber 200 Jahre lang ließ man den köstlichen Fund unbenutzt. Der Ort galt für unheimlich; denn möglicher, wahrscheinlicher Weise sogar waren ja die in grauenvoller Oede gespenstig aus der Tiefe dringenden Dampfwolken wohl nichts anderes als der Odem- oder Brodemaushauch Sr. höllischen Majestät des Satans.

Die Kunde von dem erste Quellfund war so völlig verschollen, daß, als um das Jahr 1212 zwei Jäger aus Vilters, Thuoli und Vils, im Taminaschlund zufällig den Quell wieder auffanden, ihre Entdeckung für etwas ganz Neues galt. Diese zweite Findung verscholl aber nicht wieder. Der Fürst-Abt von Pfäfers, Hugo der Zweite, machte um 1242 das heilsame Naß zuerst leidenden Menschen zugänglich. Aber dieser Zugang war geradezu mit Lebensgefahr verbunden, und zwar noch lange Zeit, auch dann noch, als in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts hart beim zuweggebrachten Ausfluß der Quelle und auf quer über das tosende Rinnsal der Tamina gelegten Balken ein hölzern „Badhus“ gebaut, sowie in die Felswand am linken Ufer des Bergstroms eine Kapelle gehöhlt worden war – Spuren dieser waldursprünglichen und troglodytischen Bauten sind noch jetzt bemerkbar – auch dann noch mußten die Badegäste an Stricken oder hängenden Leitern in die furchtbare Kluft hinabklettern und in derselben Halsbruch drohenden Weise wieder hinauf.

So ist auch der schwerkranke und todmüde Flüchtling Ulrich von Hutten, von Zwingli an den reformistisch gesinnten Abt Johann Jakob Ruffinger – sein Name bleibe in Ehren! – warm empfohlen, als Gast des Prälaten im Juni oder zu Anfang Juli’s von 1523 in den Quellschlund hinunter und nach erfolgloser Kur wieder herauf gelangt. Der gute Abt erwies dem verketzerten und verfemten, namentlich von dem gelehrten Klügling Erasmus von Rotterdam bis in den Tod hinein giftig gehetzten Patrioten alle Freundlichkeit, wie solche heutzutage wahrlich kein katholischer Prälat und kein lutherischer Propst mehr einem Ketzer erwiese. Bald darauf – am letzten August oder am ersten September? – ist Hutten im Pfarrhaus auf der Insel Ufnau im Zürichsee gestorben. Der gebildetste, hochherzigste und tapferste der Reformatoren, Ulrich Zwingli, hatte bis zuletzt seine „milde und feste“ Hand schützend über dem unglücklichen Mitstreiter gehalten. Am 11. October 1523 schrieb er aus Zürich an Bonifaz Wolfhart: „Hutten hat nichts, gar nichts von irgendeinem Werthe hinterlassen: keine Bücher, keine Fahrhabe, nichts als seine Feder“ (nihil reliquit, quod ullius sit pretii: libros nullos habuit, supellectilem nullam praeter calamum). „Nichts als seine Feder!“ Natürlich. Er hatte ja sein Vaterland mehr geliebt als sich selbst. Wäre er ein Opportunitätsschwabbeler, Zweiächsler und Manteldreher gewesen wie sein Denunciant und Verfolger Erasmus und alle die zahlreiche Erasmi unserer eigenen Tage, so würde er reich in seinem eigenen Haus und Bette gestorben

  1. Allen Besuchern von Ragaz, namentlich meinen deutschen Landsleuten, empfehle ich angelegentlich das 1880 in zweiter, umgearbeiteter und vermehrter Auflage erschienene Buch „Ragaz-Pfäfers und ihr Excursionsgebiet“ von H. Kaiser, Reallehrer in Ragaz. Das ist ein kundiger Führer. Die balneologischen Abhandlungen über Pfäfers-Ragaz von Dr. Kaiser, Dr. Vogt, Dr. Planta u. a. sind bekannt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Laude
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 617. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_617.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)