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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Abends war in dem von elektrischem Lichte taghell erleuchteten riesigen Raume ein ausnehmend interessantes Leben und Treiben. Es war Mode geworden, jeden Abend nach dem „Pavilion“ zu gehen, wo man mit seinen Bekannten sicher zusammentraf. Selbst Solche, die anfangs am meisten gegen das barbarische Schauspiel geeifert hatten, konnten dem Reize, dasselbe mit anzuschauen, nicht widerstehen, wenn sie in einer schwachen Stunde erst einmal dort gewesen waren.

Die mit einer großen weißen Nummer auf der Brust und in ein phantastisches Costüm gekleideten Fußgänger stellten mitunter bei rauschender Musik ein förmliches Wettrennen unter einander an. Wenn sich einer der bevorzugten Lieblinge des Publicums durch Schnelligkeit besonders hervorthat, so wurde er mit lautem Jubel beim Vorbeigehen begrüßt, und die ganze Menschenmenge wogte wie eine Sturmwelle von einer Seite des großen Gebäudes nach der andern hinüber, um den Rivalen des Riesen mit den Siebenmeilenstiefeln in nächster Nähe anstaunen zu können. Alle Gesellschaftsstände waren unter den Zuschauern vertreten. Der reiche Kaufherr und sein Clerc, der Bonanzakönig und der einfache Miner, die haute volée der Stadt und die Arbeiter und Handwerker, Damen in Seidenroben und Biberpelzen und irische Köchinnen in grellfarbenen Kattunkleidern, Hoodlums (der Straßenpöbel) und ehrbare Bürger – Alles war hier auf gleichem Niveau unter einander gemengt.

Diese Gehturniere zeigten, welchen erstaunlichen Strapazen der menschliche Körper zu widerstehen vermag. Es befanden sich Mehrere unter den Fußgängern, welche fünfundsiebenzig bis hundert englische (nahezu zwanzig deutsche) Meilen innerhalb vierundzwanzig Stunden zurücklegten. Aber welche Jammergestalten waren sie, als das Turnier sich seinem Ende näherte! Hohläugig, mit wankenden Schritten durchmaßen die meisten Wettläufer die Bahn, und selbst die Sieger sahen aus wie wandelnde Sterbende. Die größte Meilenzahl, welche zurückgelegt wurde, belief sich auf fünfhundert englische Meilen in sechsmal vierundzwanzig Stunden, allerdings fünfzig englische Meilen weniger, als der berühmte Fußgänger Weston in London in derselben Zeit machte, aber immerhin eine recht anerkennenswerthe Leistung.

Das Gehturnier der Damen versetzte die Stadt in eine wo möglich noch größere Aufregung, als der Wettlauf der Männer es gethan hatte. Madame La Chapelle schwor, ihre Todfeindin Fanny Edwards diesmal zu besiegen, oder sich nie mehr unter Menschen zu zeigen. Und es gelang ihr sozusagen mit fliegenden Fahnen. Nie in meinem Leben habe ich ein weibliches Wesen so schnell auf den Füßen gesehen, wie Madame La Chapelle. Wenn es ihr darauf ankam, ihre Schnelligkeit zu produciren, flog sie fast um die Arena herum, nicht laufend, sondern in einem langgestreckten Sturmschritt. Ihre Jockeykappe schien alsdann über den Köpfen der dichtversammelten Menge wie ein bunter Vogel durch die Luft zu streichen. Am letzten Abende war sie scheinbar so frisch und munter wie am ersten Tage. Fanny hielt sich ziemlich rüstig aufrecht, aber einige andere Damen kamen dahergewandelt, als hätten sie soeben die Bastonnade empfangen. Das schmerzliche Lächeln, mit dem sie die ermunternden Zurufe des Publicums entgegennahmen, hätte Mitleid erregen müssen, wenn man nicht überzeugt gewesen wäre, daß sie in Folge einer eitlen Ruhmgier sich ihre Pein freiwillig auferlegten.

Die Zeitungen besprachen täglich die Fortschritte und Ergebnisse der verschiedenen Gehturniere in langen Leitartikeln; die Theater und Concerte waren verödet, und es schien, als ob San Francisco für nichts mehr Sinn hätte, als für diese sinnlosen Wettmärsche. Vor den in den Hauptstraßen angebrachten riesigen Tafeln, auf welchen stündlich die zurückgelegte Meilenzahl der einzelnen Laufhelden mit Kreide verzeichnet wurde, befand sich stets eine dichte Menschenmenge, und die ganze Stadt stand, wie der Amerikaner poetisch zu sagen pflegt, „auf den Fußspitzen der Erwartung“, um zu erfahren, wer Sieger oder Siegerin in diesen neuesten „olympischen Spielen“ sein würde. An den Schlußabenden der verschiedenen Gehturniere befanden sich oft acht- bis zehntausend Menschen im „Mechanick’s Pavilion“, welche den Obolus von einem halben Dollar für die Person als Eintrittsgeld mit Vergnügen auf den Altar des „Fortschritts“ legten.

Nachdem sich noch einige Apache-Indianer als Wettläufer producirt hatten, fand zum Schluß ein sechstägiger Dauerlauf zwischen Männern und Pferden statt. Es war noch nie entschieden worden, wer mehr auszuhalten vermöchte, ein Mann oder ein Pferd, obgleich sich die öffentliche Meinung mehr auf die Seite der Männer hinneigte. In dieser wichtigen Streitfrage konnte nur der Versuch entscheiden.

Sechs Pferde betraten die Arena, und sieben wackere Männer nahmen die Herausforderung der Vierfüßler trotzig an. Da jedes Roß noch einen Reiter tragen mußte, der jedoch auch abwechselnd mit einer langen Leine in der Hand nebenher laufen durfte, so waren die Fußgänger eigentlich bedeutend im Vortheil, was die Rosse jedoch mit Gleichmuth hinzunehmen schienen. Unter letzteren befand sich der aus einer hocharistokratischen Pferdefamilie stammende Traber „Controller“, dessen Vettern und Tanten bereits Derbyrennen gewonnen haben und der selbst einmal zwanzig englische Meilen in achtundfünfzig Minuten und siebenundfünfzig Secunden trabend zurückgelegt hat, eine Leistung, die auf dem weiten Erdball noch nie übertroffen worden ist.

Die Pferde errangen einen glänzenden Sieg über ihre zweibeinigen Rivalen. Aber es war nicht der vor ein leichtes Cabriolet geschirrte aristokratische „Controller“, welcher den Sieg davontrug, auch nicht seine Collegen „Hoodlum“ und „Denver Jim“, die als Rennpferde in Californien einen respectablen Ruf genießen, sondern ein ganz gewöhnlicher Leihstallschimmel mit Namen „Pinafore“[1], der sogar eine sehr unelegante Gangart hatte. 559 englische Meilen legte der Gaul „Pinafore“ in sechsmal vierundzwanzig Stunden zurück, ohne sich besonders dabei zu echauffiren. „Pinafore“ ist nicht mehr ein obscurer Schimmel, sondern wird mit einem geschichtlichen Namen wie „Bucephalos“ auf die Nachwelt kommen. Er hat den berühmten Engländer Weston um volle neun englische Meilen geschlagen und damit die welterschütternde Frage, ob Menschen oder Pferde am meisten auszuhalten vermögen, endgültig entschieden.

Der aufmerksame Leser, welcher die Beschreibung dieser Wettläufe zwischen Männern, Frauen und Pferden verfolgt hat, wird dadurch gewiß eine sehr geringe Meinung von dem Culturzustande der berühmten Goldstadt erlangt haben. Als Entschuldigung für die Laufmanie kann nur der Umstand dienen, daß dieselbe wieder einmal ein „Excitement“ war, welches alle Schichten der Bevölkerung in seinen Strudel hineinriß.

Während jedoch die Turniere in der Gehbahn scheinbar alles Interesse absorbirten, wurden bereits umfassende Vorbereitungen für ein anderes, großartigeres öffentliches Fest getroffen, welches der Welt den Beweis liefern sollte, daß die Bevölkerung von San Francisco durchaus nicht so verwahrlost sei, wie Mancher vorauszusetzen wohl geneigt war, daß es vielmehr nur nöthig sei, den richtigen Impuls für ein feineres Vergnügen zu geben, um die Bewohner der Handelsmetropole des Goldlandes für ein solches zu enthusiasmiren. Ich meine den während der letzten Woche des October vorigen Jahres ebenfalls im „Mechanick’s Pavilion“ abgehaltenen „Autoren-Carneval“, eine originelle Schaustellung, die mit einem Glanz und Erfolg in’s Werk gesetzt wurde, welche ihres Gleichen suchen. Von dem „Autoren-Carneval“ im zweiten und letzten Abschnitt dieses Artikels!



Blätter und Blüthen.


Die englische Culturblüthe. „Wiederholt hat man das britische Volk eine ‚Nation von Krämern‘ genannt. Gleichwohl wäre es höchst ungerecht, nicht glauben zu wollen, daß das heutige Menschengeschlecht unter allen Längen- und Breitengraden seine gesellschaftliche Vervollkommnung zum großen Theile dieser ‚nation boutiquière‘ zu danken hat. Seine industrielle Culturmission unverwandt im Auge haltend, hat der angelsächsische Volksstamm einen durch alle Erdtheile sich erstreckenden Staatsorganismus auferbaut, mit dessen Macht, Wohlfahrt und Glanz kein Reich des Alterthums und der Neuzeit verglichen werden kann. Niemals hätte Waffenglück allein, wenn nicht von einer guten Wirthschaftspolitik begleitet, solche Weltsiege zu erringen vermocht! Wie zur See, so ward auch auf allen Continenten, wenigstens in industrieller Beziehung, die Herrschaft Großbritanniens hergestellt. Maschinen, Dampf und Freihandel haben sich unwiderstehlicher erwiesen, als Gußstahlkanonen und Präcisionsgewehre. Mit ihrer Hülfe ist England der Spinner, der Weber, der Schiffbauer, der Metallarbeiter, der Ingenieur, der Verfrachter, der

  1. „Pinafore“, eine in der englisch sprechenden Welt allbekannte neue Spieloper von Sullivan, deren Melodien dort auf allen Gassen gepfiffen werden.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_607.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)