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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Das Vordringen der Gletscher der Eiszeit erreichte schließlich sein Ende, sei es, daß die Berggipfel genügend abgetragen waren, sei es, daß kosmische Ursachen zur Geltung kamen – darüber ist die Wissenschaft noch nicht einig. Das Eis nahm allmählich seinen Rückzug, und die wildrauschenden mächtigen Gletscherströme verloren einen Theil ihres Wasserreichthums. Es nahte jene Zeit, bei deren Erforschung der Geologe dem Anthropologen brüderlich die Hand reicht, jene Zeit, welche die allerersten „Urkunden“ der „Wissenschaft vom Menschen“, der Anthropologie, aufbewahrt hat. Bei der Durchmusterung der ihr angehörenden Schichten handelt es sich nicht mehr ausschließlich um Knochenreste untergegangener Thiergeschlechter, sondern um die Thätigkeitsspuren eines neuen Wesens, eines erfindungsreichen, herrschenden Organismus, der, man weiß nicht woher, plötzlich auftaucht – eben des Menschen.

Das specielle Bestreben, die ersten Spuren des Auftretens von Menschen in Deutschland bis zu jener Zeit zu ermitteln und zu untersuchen, wo die geschichtlichen Nachrichten einsetzen, hat sich in der „Deutschen anthropologischen Gesellschaft“ zusammengefaßt, welche soeben die unvergeßlichen Tage ihrer elften Jahresversammlung, 4. bis 12. August 1880, in Berlin gefeiert hat. Ihre Arbeiten haben das Material zur Construction einer „deutschen Prähistorie“, einer Geschichte des Menschen vor der Geschichte in unserm Vaterlande, in der zur Zeit erreichbaren Vollständigkeit geliefert, und sie hat jüngst in Verbindung mit der erwähnten Jahresversammlung dem Publicum in Berlin vom 5. bis 21. August eine Ausstellung wichtiger Funde aus der Urzeit geboten, welche den Gedanken nahe legt, einmal die Ergebnisse dieses ganzen Forschungsgebietes für einen weiteren Leserkreis zusammenzufassen. Zum Voraus sei betont, daß es sich hier nicht um Phantasien und Hypothesen, sondern um unbezweifelbare Resultate der allernüchternsten Untersuchung handelt.

Wir stehen vor der dritten großen Säugethierperiode auf Erden. Das Mammuth tritt auf und durchstreift in zahllosen Heerden fast ganz Europa, mit ihm in Gesellschaft leben das doppelhörnige Rhinoceros und jene fürchterlichen gewaltigen Höhlenraubthiere: der Höhlenbär, die Höhlenhyäne und der Höhlenlöwe; ferner erscheinen der Wisent, der Auerochs oder Ur (Bos primigenius), das Elenthier, der Riesenhirsch, das Renthier, der Moschusochse, Lemming, Fuchs, Wolf, Edelhirsch, Schwein, Pferd etc. Durch einen glücklichen Zufall ist eins der ältesten aller bisher in Deutschland bekannten, mit Spuren der Menschenhand versehenen vorgeschichtlichen Fundstücke, ein ausgezeichnet schön geschlagener Feuersteinschaber mit uralter weißer Patina, von einem der kenntnißreichsten und sorgsamsten Forscher, Dr. Alfred Nehring, Oberlehrer am Gymnasium in Wolfenbüttel, entdeckt und die Localität von ihm so ausgezeichnet untersucht, verglichen und beschrieben worden, daß wir auf Grund seiner umfassenden Studien uns sehr wohl ein Bild von dem damaligen Mitteleuropa vergegenwärtigen können.

Versetzen wir uns im Geiste zurück in jene weit entlegene Zeit der Diluvialepoche, so finden wir, daß das von Nehring untersuchte Gebiet, von einer Anzahl untergegangener Geschöpfe abgesehen, fast ganz genau den Steppencharakter besitzt, den Westsibirien heut noch hat. In jenem Punkte von Mitteldeutschland, der in der Nähe des heutigen Dorfes Thiede bei Wolfenbüttel und bei Westeregeln im Kreise Wanzleben liegt, ragten damals weit über die flache Steppe hin eine Reihe zackiger, isolirter Gypsfelsen, etwa so, wie die Kreideklippen von Rügen heutzutage weithin sichtbar sind. Ueber die Steppenflora hinweg huscht und springt jene zahlreiche Schaar der kleinen Nagethiere: Steppenmurmelthiere, Zieselmäuse, Springmäuse, Wühlmäuse, Hasen, Pfeifhasen. Von weiter her aus der Umgegend streift in flüchtigen Sprüngen die Antilope und das Pferd vorüber, verfolgt vom Wolf und jenem gräulichen Ungeheuer, dem Höhlenbären. Die gigantisch-grotesken Silhouetten weidender Trupps von Mammuthelephanten und doppelhörnigen Rhinocerossen (Rhinoceros trichorhinus) zeigen sich hin und wieder am Horizont, während zur Nachtzeit allsommerlich jene riesigen katzenartigen Raubthiere: der Höhlenlöwe und die Höhlenhyäne die Gegend durchstreifen und mit ihren Gebissen selbst den größten Thieren gefährlich werden. Zur Winterzeit, wenn diese Bestien sich südlich gewandt haben, beleben Renthierherden, Polarfüchse und Lemminge die mit Schnee bedeckte Landschaft. Hoch oben auf den Gypsfelsen horsten Bussarde, Eulen und andere Raubvögel und nähren sich von kleinen Nagern, Fledermäusen, Vögeln und Fröschen.

Unter den überhängenden salzhaltigen Felsen lagert eine Schaar Menschen, unsere ältesten bis jetzt bekannten Urväter in Deutschland, umherstreifende Jäger, die vielleicht mit Weib und Kind zu gemeinsamem sommerlichem Jagdzuge bis hierher vorgedrungen sind. Ein Feuer brennt in ihrer Mitte, an dem sie das Fleisch der Nashörner, Pferde und anderer Thiere rösten und dann verzehren. Die größeren, mittelst Feuersteinschabern vom Fleisch entblößten Knochen werden vielfach von ihnen gewaltsam mit Steinen zertrümmert, um das Mark zu gewinnen; die das Gehirn umgebenden größeren Knochen werden durchweg zerschlagen.

Später bricht die Horde auf; schlau vermeidet sie die Begegnung mit den Raubthieren; listig und gewandt lauert sie dem jagdbaren Wild auf seinem Pfade auf, von einem Tage zum andern lebend, ohne Wohnsitz, vielleicht der jährlichen Wanderung der Thierwelt folgend, im Kampfe mit den Elementen, mit den Raubthieren und oft wohl auch mit dem Hunger. Ganz so wie unsere heutigen uncivilisirten Naturvölker können wir uns diese unsere Urahnen zur Mammuthzeit vorstellen; vielleicht sind die Eskimos des arktischen Nordens die ihnen am meisten verwandten Typen.

Es giebt noch eine Reihe anderer Localitäten in Deutschland, an denen in den letzten Jahren menschliche Reste, Knochen und Werkzeuge mit den Resten diluvialer Thiere, namentlich des Mammuthelephanten, des doppelhörnigen Rhinoceros, des Höhlenbären und anderer, zusammen gefunden sind. Als ein Seitenstück zu jener obengenannten Felsengruppe von Thiede und Westeregeln kann die im Jahre 1874 in der Nähe von Gera im Dolomit bloßgelegte „Lindenthaler Hyänenhöhle“ bezeichnet werden, welche neben Feuersteinmessern zahlreiche Ueberreste derselben Thierart enthielt und welche ihr wissenschaftlicher Erforscher, Professor E. Liebe in Gera, als einen Hyänenhorst nachgewiesen hat. Ferner haben wir in Westfalen die bekannte Höhle von Balve im Regierungsbezirk Arnsberg zu nennen, welche eine von denjenigen Localitäten ist, die der Mensch schon frühzeitig und wahrscheinlich während einer sehr langen Dauer als Wohnort benutzt hat. Schon vor mehr als zehn Jahren hat Virchow diese Höhle untersucht. Der Boden besteht hier aus drei Hauptschichten, deren obere vorzugsweise mit Renthierknochen angefüllt ist; die darunter folgende, welche sehr viele abgerollte Steine enthält, lieferte Reste des Bären, und in der dritten haben sich Mammuth- und Rhinocerosknochen gefunden. Außerdem enthielt die Höhle menschliche Kunstproducte, Feuersteinmesser und spätere Reste gebrannter Topfgefäße. Auf der Berliner prähistorischen Ausstellung waren zahlreiche Gegenstände aus dieser Höhle vorhanden, darunter Feuersteinwaffen, ein zugeschliffenes Geweihstück, ein Rhinocerosknochen mit bearbeitetem Rande des abgebrochenen Theiles.

Unter den westfälischen Höhlen ist noch die von Geheimerath Schaaffhausen in Bonn untersuchte Martinshöhle in Letmathe zu nennen. Er fand in ihr, außer Feuersteinmessern und Steinkernen, zahlreiche von Menschen aufgeschlagene Thierknochen, darunter solche vom Höhlenbären und Rhinoceros. Derselbe Gelehrte hat im Verein mit von Cohausen die sehr interessante Höhle bei Steeten an der Lahn wissenschaftlich erforscht. Als man die Höhlensohle zwei Meter tiefer legte, stieß man am Eingange, „noch ehe die eigentliche Höhle erreicht war, auf unzählige, aber immer zerschlagene Knochen, Geweihe und Zähne und dazwischen auf eine Menge von Feuersteinmessern. Beim weiteren Vorgehen traf man nicht ganz so tief eine Brandschicht und in mitten derselben einen großen Haufen Asche und verbrannte Knochen aller Art. Eine Mischung und durch Kalkfiltrate bewirkte unmittelbare Verbindung von mächtigen Elfenbeinsplittern mit Feuersteinmessern giebt von dem Zusammenleben des Menschen mit dem Mammuth ebenso Zeugniß, wie ein solches mit dem Renthier bereits constatirt ist. Man kann sagen, daß die Ausgrabung mitten in die Küchenabfälle, ja in die ganze Unordnung der Küche selbst gefallen ist“.

Aus dieser Höhle von Steeten befanden sich auf der deutschen prähistorischen Ausstellung ein elfenbeinernes „Falzbein“ mit Gitterverzierung, ein aus einer Rippe gebildetes ähnliches Instrument, mehrere andere Knochenstücke mit eingekratzter Verzierung, Vogelknochen mit eingefeilten Zickzacklinien, Oberarmbeine von Menschen, ein Mammuthzahn, Steinspähne, ein zu einem Dolch gearbeiteter Mammuthknochen, Thonscherben, zahlreiche Reste vom Bären, Renthier, Hirsch, Pferd, Rhinoceros u. dergl. m. Was den Mammuthknochen-Dolch betrifft, so äußerte sich Geheimerath Schaaffhausen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 584. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_584.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)