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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


ist eine der interessantesten Erscheinungen der Deputirtenkammer. Wenn der erst neununddreißigjährige Vertreter des Montmarte-Viertels die Tribüne besteigt, so wird es plötzlich mäuschenstill in dem menschenerfüllten Riesensaale, sobald aber die Scandalmacher ihr störendes Werk beginnen, dann bedroht er sie mit einem so schneidigen: „Sie haben nicht das Wort,“ daß sie sich am liebsten gleich unter ihre klappernden Pultdeckel verkriechen möchten. Das hagere Bleichgesicht mit den kurzgeschorenen Haaren, starken Backenknochen und phosphorescirenden Augen hat schon manchen Sturm der ganzen sich aufbäumenden Kammer bemeistert, aber weniger durch die Gewalt der Rede, als durch die der Persönlichkeit. Man erkennt an Clémenceau’s praktischem und knorrigem Wesen, daß er längere Zeit in der Union gelebt hat, aber auch sein ärztlicher Beruf verräth sich in seiner Rede; denn wenn er die socialen und politischen Schäden bloßlegt, braucht er die Feder und das Wort wie ein Scalpell. Obendrein führt er die gefürchtetste Klinge des Parlaments, und sogar dessen privilegirter Raufdegen Paul de Caffagnac duckt sich kläglich vor ihm. Clémenceau ist kein Freund gewaltsamen Umsturzes, wie sehr er nachträglich für die Commune, und die Amnestirung ihrer Mitglieder eingetreten. Sein Plan besteht vielmehr darin, die Commune zu discipliniren und mit erlaubten Mitteln zur Herrschaft zu führen. Obgleich ein Freud Gambetta’s, dem er in seinem Duell mit Fourtou als Secundant gedient, bekämpft er den jetzt am Ruder stehenden Opportunismus. Zwar greift er den Kammerpräsideten noch nicht direct an, aber an zarten Winken mit dem Zaunpfahl läßt er es nicht fehlen, wie z. B. schon bei der Wahl desselben, wo Gambetta das absolute Mehr mit nur neun Stimmen überschritt, weil die äußerste Linke ihre vierzig Zettel unbeschrieben in die Urne gelegt hatte. Von erstaunlicher Taktik sind seine Angriffe auf die Minister. Die Keulenschläge der Logik und Dolchstiche des Sarkasmus werden nicht gespart, aber er hütet sich wohl, dorthin zu treffen, wo die Wunde tödtlich wäre; denn er will ein geschwächtes Cabinet, das gleich dem Thurme von Pisa sich nach einer Seite – und zwar der seinigen – neigt und doch nicht fällt. Ebenso unterstützt er keineswegs die gemäßigten Republikaner und Reactionäre, welche Gambetta ein Portefeuille aufdrängen wollen; denn er ist fest überzeugt, daß dieser in seinem neben dem Abgeordnetenhause gelegenen prachtvollen Präsidentschaftspalaste, der Wohnung des Staatsstreichshelden Morny, alle Liebe seiner demokratischen Wähler einbüßt, ohne das ganze Vertrauen des dritten Standes zu erringen, während sich seine Adjutanten einer nach dem andern, als Minister abnützen. Erst wenn der Opportunismus verbraucht, glaubt er seine Zeit gekommen, wo es keine Bureaukratie, keinen Senat und keinen Präsidenten der Republik mehr geben soll. Der Nationalconvent wird zur obersten Macht, die Clubs gelangen wieder zum „souveränen Einfluß“, und die Commune tritt an die Stelle der administrativen Organisation. Und dann? Darauf antwortet Clémenceau wohlweislich niemals; denn er weiß zu gut, daß noch jeder Radicale einen Radicaleren gefunden hat. Bedeutsam genug heißt ja sein Nachbar: Louis Blanc.

Dieser ist noch immer der einzige hervorragende Repräsentant des revolutionären Proletariats. Man denke sich eine kaum die sprüchwörtlichen drei Käse hohen Mann, der von Weitem mit seinem bleichen glattrasirten Gesichte aber dem bis unter’s Kinn zugeknöpften schwarzen Rocke wie ein hungriger Candidat der Theologie aussieht. Erst in der Nähe wird das vermeintliche Bürschchen zu einem noch ziemlich rüstigen Greise. Seine gelblichen Hängebacken sind schlaff; die kleine Nase ist schwammig, und der weit geschlitzte Mund, den er bei jedem Worte zu einem klaffenden Viereck aufreißt, droht fortwährend ganz aus den Fugen zu gehen. Seine Reden entbehren Gambetta’s elementarer Gewalt, Rouher’s akademischer Schönheit und Clémenceau’s überzeugender Logik; sie sind im correctesten Periodenbau durchaus druckfertig und voll sorgsam auswendig gelernter Salbung. Allein dennoch elektrisirt er das Volk, wie jüngst in Marseille, wo sich die Menge vor seinen Wagen spannte, und wie damals, vor zweiunddreißig Jahren, als eine disciplinirte und zu Allem entschlossene Armee von 200,000 Arbeitern dem Agitator die Führung anbot. Seine Gewalt rührt daher, daß er voll von dem Hasse und der Leidenschaft ist, die den vierten Stand Frankreichs beseelt. Er nennt sich mit Vorliebe das „unglücklichste Kind des Volkes“, obgleich er schon in jungen Jahren weltberühmt und durch den Erlös seiner Geschichtsbücher zu bedeutendem Reichthume gelangt war. Bei Louis Blanc ist eben Alles und sogar seine tiefste Ueberzeugung Declamation, und so erklärt sich der geringe Erfolg seiner Reden im Parlamente und wahrhaft Gebildeten gegenüber. Das Volk läßt sich leichter überumpeln und bethören, namentlich die vom Elend und Alkohol aufgeregten Bewohner der Pariser Vorstädte. Und doch ist nicht zu leugnen, daß der bald siebenzigjährige Apostel des Socialismus mit seinen unpraktischen Theorien von der Organisation der Arbeit sowie durch die tolle Invasion seines Gassenheeres die zweite Republik wider Willen den „Gesellschaftsrettern“ vom Staatsstreiche in die Hände gespielt hat. Und wenn er auch gegen die Commune war, weil er den Zeitpunkt für ungünstig hielt, so ist es doch sein hohles, aber gemeinfaßliches Staats- und Gesellschaftsideal, welches das arme Volk von Belleville und der Vorstadt Saint-Antoine zur Vertheidigung der Rothen Conföderation mit Pulver und Petroleum begeisterte und verschuldete, daß die blinde Reaction nachher wieder ihr Haupt erheben konnte, um der gegenwärtigen Staatsverfassung in der Wiege den Garaus zu machen. Dies verhindert und die Sache der Freiheit durch schwere Jahre, wo die demokratische Staatsform nur dem Namen nach bestand, siegreich hindurch geführt zu haben, ist vor Allem das Verdienst des jetzigen Präsidenten der Abgeordnetenkammer. Von seiner Mäßigung hängt die Zukunft der Republik ab. Ist doch seit seiner großen Rede zu Gunsten der Amnestie sein Einfluß wie sein Ansehen in einer Weise gestiegen, daß er bereits von allen Parteien als das eigentlich leitende Haupt der französischen Nation betrachtet wird.

Gottlieb Ritter.




Skizzen aus Niederdeutschland.
Von Ferdinand Lindner
4. Das Watt. (Schluß)

Für die Schifffahrt der Gegenwart wie wohl auch der Vergangenheit spielen die Priele eine wichtige Rolle, da sie ein tieferes Fahrwasser als das Haff des Wattmeeres haben. Durch das Ab- und Anschwemmen der Fluthen sind sie aber auch unausgesetzt einer steten Veränderung und Verschiebung unterworfen, und um sie für die Schifffahrt nutzbar zu erhalten, werden sie jährlich „ausgebakt“, das heißt durch eingegrabene Birkenreiser gekennzeichnet, und zwar so, daß diese auf deutschem Gebiete für den von Nord nach Süd bis West Steuernden zur Rechten, auf holländischem Gebiete zur Linken der Fahrstraße stehen.

Die eigentlichen für die Fahrt auf den Watten bestimmten Schiffe müssen flach gehend und glatt gebaut sein und dürfen nicht mehr als ungefähr sechs Fuß Tiefgang haben. Die Fahrt im Watt ist halb See-, halb Binnenfahrt; denn im Schutze der vorliegenden Inselkette können die verschiedenen Küstenfahrzeuge mit größerer Sicherheit zwischen den einzelnen Nordseehäfen verkehren, ja selbst Flußschiffe haben die Fahrt gewagt, sind aber dabei manchmal übel angekommen. Alle Arten von Küstenfahrern beleben die See, Ewer, Tjalken, Kuffs und wie sie alle heißen. Namentlich die holländischen sind originelle Erscheinungen; das Fahrzeug bildet das einzige Besitzthum, die Geburtsstätte, die Heimath und oft genug auch die Todesstätte des Schiffers, der mit seiner ganzen Familie darauf lebt, von Holland bis Jütland immer unterwegs ist und im Winter in einem der Nordseehäfen Unterkommen findet, wo wir dann den Rauch seines Schiffsherdes behaglich in den Fleeten oder Binnenhäfen aufsteigen sehen.

Einen anderweiten Gewinn sucht der Mensch in den ausgedehnten Muschelbänken des Watts, wo er das sogenannte „Schillen“ betreibt, indem er mit Wagen oder weiter draußen mit Schiffen sich an eine solche Bank festlegt und die Muscheln mit einem einer Mistgabel ähnlichen Instrumente ausgräbt, sie in den Prielen rein wäscht und dann nach Hause schafft, wo sie an

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 568. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_568.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)