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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


‚Zwei kennen sich schon manches Jahr
Und kennen doch sich nicht am Ende;
Zwei reichen einmal sich die Hände
Und kennen sich schon manches Jahr.‘“

Beschämt reichte er mir die Hand. „Vergeben Sie mir, Herr Professor! Ich habe allen Grund Ihnen dankbar zu sein. Es ist in den letzten Stunden so Vieles, so Unerwartetes, so Fürchterliches auf mich eingedrungen, daß es mich völlig verwirrte. Vergeben Sie mir!“ wiederholte er dringend in schöner Wärme, „und ich will Ihnen dankbar sein. Für das Leben meines Sohnes will ich Ihnen das Beste geben, was ich habe: Ingeborg, den einzigen Schatz von meiner Brust reißen, der mir unvergänglich werthvoll ist. Ich hoffe, Sie werden diese reine echte Perle, die mir das Meer schenkte, zu schätzen wissen, Sie werden sie in die würdige Fassung bringen.“

Gerührt schüttelten wir uns die Hände. Ich wollte ihm von meinen Verhältnissen meiner nicht ungünstigen Lebensstellung sprechen. Er wehrte mir mit einem ungeduldig düsteren: „Nachher, nachher! Alles Geschäftliche wollen wir von beiden Seiten später feststellen.“

Nach einer Pause sagte er: „Ich muß Sie nun bitten, daß Sie Zeuge einer Unterredung mit der Frau Baronin werden.“

„Ich?“ fragte ich betreten.

„Sie gefälligst! Ich möchte einen Unbetheiligten, lieber noch einen für meine Frau parteiisch Gesinnten zwischen ihr und mir stehen haben, während – während – ich Gericht halte,“ sagte er furchtbar ernst.

Wir stiegen in die untere Etage hinab; stumm voranschreitend und nur an den Thüren mir artig den Vortritt lassend, führte er mich im linken Schloßflügel durch eine Reihe sehr einfach und stilvoll gehaltener Herrenzimmer: es waren Waffensäle, Rauch- und Arbeitszimmer und eine werthvolle Bibliothek. Dann kamen wir in das mit gediegener Pracht ausgestattete Schlafgemach, weiter in ein kleines mit äußerster Koketterie decorirtes Toilettezimmerchen, das die Verbindung mit den Wohnräumen der Baronin bildete – und an die Thür des Zimmers klopfte er gebieterisch.

(Schluß folgt.)




Portraits vom französischen Parlament.

1. Die Abgeordnetenkammer.

Das lehrreichste Haus von Paris ist ohne Frage der moderne Griechentempel, der mit seiner giebelgekrönten Säulenfront am Ufer der Seine und just dem Platze gegenüber steht, wo Ludwig der Sechszehnte hingerichtet wurde. Mancher Bau mag älter und schöner sein, aber dieser da hat Geschichte gemacht.

Vom Duodi, dem zweiten Pluviose des Jahres VI (Sonntag, 21. Januar 1798) an hat sich hier fast die ganze revolutionäre Aera Frankreichs abgespielt. Hier wurden Verfassungen gegeben und umgestürzt; hier berieth man das vollständigste Gesetzbuch seit der Römerzeit und tagten die Repräsentanten von neun verschiedenen Regierungen, von deren Häuptern einzig Ludwig der Achtzehnte im Vollbesitze der Macht gestorben ist. Die classische Freitreppe wurde nur einmal, aber von einem Riesen überschritten, von Napoleon dem Ersten, der zur Eröffnung des Gesetzgebenden Körpers kam. Zwei Kaiser und drei Könige hielten hier ihre Thronreden, und drei Revolutionen trieben die Erwählten des Volkes aus einander.

Nach dem letzten Sturme von 1870 glich das Haus neun Jahre lang einem Sarkophage; denn die Vertreter Frankreichs tagten unterdessen in Versailles, ohne daß die Atmosphäre dieser Königsstadt, wie die Gegner der Republik ohne Zweifel gehofft, sie hätte umstimmen können. Erst nach der reactionären Verschwörung von 1873, wo die Wiederherstellung der Monarchie blos an der Principientreue des „legitimen“ Kronprätendenten (Graf von Chambord) scheiterte, und nach dem 16. Mai 1877, als der Präsident Mac Mahon vor dem schon eingeleiteten Staatsstreiche zurückschreckte, zog die nationale Souverainetät am 27. November 1879 still und ohne den unter monarchischem Regiment üblichen Pomp wieder in die Hauptstadt des Landes ein.

Der neue Sitzungssaal bildet einen Halbkreis, worin die Bänke der Abgeordneten fächerartig aufgestellt sind; die Sitze sind schmal und die Gänge dazwischen eng. Man merkt, daß der Architekt, welcher statt der 429 Mitglieder und 483 Zuschauer des kaiserlichen Gesetzgebenden Körpers nunmehr 563 Deputirte und 700 Gallerienbesucher unterzubringen hatte, gewaltig in die Enge kam, wenn er die Grundmauern nicht erweitern wollte. Vor dem goldbeschlagenen Präsidentenstuhl, doch einige Stufen niedriger, stehen die Sitze der acht Secretäre und die Rednerbühne mit dem schönen Basrelief der Geschichte, das von der Tribüne von 1798 herrührt. Darüber schaut Rafael’s „Schule von Athen“ in prachtvoller Tapetenwirkerei zwischen den Standbildern der Ordnung und Freiheit hoch herab von der Wand und bildet einen angenehmen Gegensatz zur rothsammetenen Draperie des Saales. An den Wänden des Halbkreises entlang läuft ein stilvoller Säulengang von weißem Marmor, der zwischen sich auf zwei Stockwerken die diplomatischen und gemeinderäthlichen Logen die Damengallerie, die Journalistenpferche und die Räume für das große Publicum hat.

Von den Mitgliedern des sogenannten „Bureaus“, das aus dem Vorsitzenden, vier Vicepräsidenten, acht Secretären und drei Quästoren besteht, gebührt Leon Gambetta in seiner Eigenschaft als Präsident der Kammer auch hier die erste Stelle. Er ist in den letzten Jahren alt, dick und elegant geworden. Seine langen pomadeglänzenden Haare, die an der Stirn und auf dem Wirbel einem schüchternen Mondschein Platz machen, spielen leicht in’s Graue. Sein Gang wird in Folge seines stets kecker vorspringenden Schmerbauches bedächtiger, mühsamer, doch auch gravitätischer. Er präsidirt weniger kühl, methodisch und correct, als sein Vorgänger Grévy, das jetzige Staatsoberhaupt, ist aber doch mit durchgängigem Erfolge bemüht, sein südliches Temperament zu bemeistern und über den Parteien zu stehen. Freilich, wenn die Lärmer von der Rechten einen Tumult in Scene setzen, bricht manchmal die ganze vulcanische Natur des Genuesers hervor. Dann verliert er das Gefühl seiner Würde; all sein dickes Blut schießt ihm in den Kopf; die innere Gluth scheint durch sein gläsernes Auge zu leuchten; die Wildheit, mit der er sein Lineal schwingt, erinnert plötzlich an den Bierbankpolitiker vom Café Procope, und seine Stimme, die in guten Stunden erquickenden Wohllaut und hinreißende Kraft entfaltet, gurgelt wüste und rauhe Töne hervor, womit er seine Gegner in noch größere Wuth versetzt. Immerhin steht er als Redner wie als Vorsitzender thurmhoch über seinen vier Stellvertretern, dem charakterfesten, feurigen Brisson, dem eleganten Vertheidiger Bethmont, dem energielosen Legitimisten Grafen Durfort de Sivrac und dem pedantischen Sénard, der an die Stelle des zum algerischen Generalgouverneur ernannten Albert Grévy, Bruder des ersten Präsidenten, gewählt worden ist. Dieser gesammte Vorstand hat seine liebe Noth, die französisch lebhaften Gemüther zu regieren. Die silberne Präsidentenglocke, ein Geschenk Napoleon’s des Dritten, läutet manchmal unterbrochen den halben Tag lang, und die bewehrten Saalpolizisten rufen sich heiser mit ihrer höflichen, aber eindringlichen Ermahnung:

„Silence, Messieurs, faites silence, s’il vous plaît!“

Verlorene Liebesmühe! Die Privatunterhaltung und die freilich auf dem dicken Fußteppich geräuschlosen, aber doch nicht weniger störenden Spaziergänge dauern lustig fort. Nur wenn ein beliebter und einflußreicher Parteigänger die Tribüne besteigt, giebt es einigermaßen Ruhe; allein die Plauderei macht alsdann meist den tobenden Aeußerungen des Lobes oder Tadels Platz. Diese berechtigte Eigenthümlichkeit französischer Versammlungen ist guten Rednern nicht selten so erwünscht, daß sie sie gewaltsam herausfordern und auf der Stelle beantworten. Einige Leisesprecher haben sogar bestellte Helfershelfer, welche die fehlende Aufmerksamkeit durch eine heftige Unterbrechung zu erregen suchen, während Anfänger, die sich in ihrem Periodenbau verirren, nach der rechten Seite hin blos Napoleon’s Staatsstreich oder nach links die Proclamation der Republik ein Verbrechen zu nennen brauchen, um augenblicklich einen Tumult heraufzubeschwören, welcher den ehrenvollen Rückzug und die stolze Erklärung ermöglicht:

„Ich constatire, daß die Tribüne nicht frei ist, und verzichte auf’s Wort.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 566. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_566.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2021)