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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


diensteifrig die braune Hand zur Hülfe beim Einsteigen hin. Er lächelte stillzufrieden in sich hinein, als sein Blick meine Hünengestalt überlief. So etwas imponirt den Söhnen des Meeresstrandes mehr, als Titel und Würden. Die Kraft, die rohe elementare Kraft ist Capital; sie schätzen diese daher naturgemäß am höchsten.

Das „Frölen“ saß bereits im Boot; sie war aufgestanden. Ich bewunderte, wie fest und sicher sie sich auf ihren Füßen hielt, während der Bootsknecht uns in das zischende Element hinein schob. Sie reichte mir eine kräftige weiße Hand über die Bänke fort und setzte sich erst wieder, als nun Korl (so nannte sie ihn) sich zu uns hinein über den Bootsrand schwang, daß das Fahrzeug einen Moment gefährlich von einer Seite zur anderen kippte. Viel von ihr sehen konnte ich bei der schwachen Beleuchtung nicht: zwei handbreite, helle Zöpfe, die ihr im Nacken bis über die Hüften hinunter hingen, ein Auge, das klar und hell wie Diamant zu leuchten schien, und ungewöhnlich kräftige Gliedmaßen, die ein dunkler Regenmantel von schwarzem Wachstuche übrigens vollständig verhüllte.

„Frölen, segeln?“ fragte Karl.

Sie nickte. Er wickelte das Tau um das Focksegel schnell vom Maste los, und das Frölen hatte die feste, unbekleidete Hand sofort auf dem Steuer. Unser Boot legte sich auf die Seite; zischend durchschnitt der Kiel die aufbäumenden Wogen. Wie ein Aar durch die Lüfte schossen wir blitzschnell dahin, und falkengleich scharf durchdrangen des Mädchens helle Augen aufmerksam das Halbdunkel.

Ich hätte an das Mädchen die Frage richten können, die mir in der Seele brannte, aber sie saß so ernst und still am Ruder, wie eine Nonne – und dann giebt es Fragen, vor deren Antwort es einem bangt.

Um uns heulte unheimlich der Wind. In den Segeln pfiff er und die Raa ächzte und knarrte beunruhigend.

Wie in dunkler stürmischer Octobernacht tobten die Elemente – eine passende Begleitung des Familiendramas, dem ich entgegen ging! Ein paar Mal schossen die Spritzwellen am Kiel empor und versprengten sich gleich Sprühregen über unser Boot hin. Gleichmüthig trocknete das „Frölen“ mit dem Rücken der linken Hand die Salzdouche von der Stirn, während die rechte nicht einen Moment das Steuer losließ.

„Möchten Sie mir wohl die Kapuze über den Kopf ziehen, Herr Professor,“ sagte sie mit ihrer klangvollen hellen Stimme, als verstünde sich das von selbst. Sie zuckte auch nicht prüde zurück, als meine Finger zufällig dabei ihren warmen Hals berührten; sie dankte auch nicht einmal. Ohne alle Ziererei und übertriebene Anerkennung nahm sie einen Dienst hin, den sie wohl ebenso bereitwillig mir und jedem Anderen geleistet hätte.

Wir sprachen kein Wort mehr mit einander, und ich hatte Zeit, meine Gedanken wandern zu lassen, weit, weit fort in eine längst versunkene Vergangenheit:

So werde ich also – sprach ich zu mir selbst – die kleine Ina wiedersehen. Aber aus der kleinen Ina Maltiz ist inzwischen eine große Baronin Bassowitz geworden. Sie hatte mich rufen lassen; sie hatte also wieder einmal, nach Jahren einmal, ihren Hans „gebraucht“, und mit der Herrschsucht, die sie dem guten Jungen gegenüber immer geübt, hatte sie einfach commandirt. Als sie rief, hatte der Professor Hans natürlich bereitwillig seine Memoranda für den nächsten Vortrag bei Seite geworfen, gerade so wie vor Jahren der Primaner Ovid’s Metamorphosen. O, ich erinnere mich noch deutlich der Scene von damals: während ich eifrig las, lugte das Dämchen, auf den Fußspitzen stehend, in das Parterrefenster des Pfarrhauses und rief den Studirenden weinerlich als Retter an. Ina – ich weiß noch, wie sie damals aussah – hatte das große graue Perlhuhn, den Liebling ihres Vaters, mit einem kühnen Wurfe mitten in den Ententeich geschleudert – es sollte durchaus schwimmen lernen, wie die jungen Enten. Als es nicht wieder zum Vorschein kam, wurde ihr angst und bange, und sie rief jämmerlich nach mir. Natürlich warf ich, schnell bereit, den Rock ab und watete bis zur Brust in das ziemlich tiefe Wasser, rettete ihren halbtodten Liebling, wickelte ihn ihr in die Schürze und erhielt dafür ein gnädiges Kopfnicken.

Das ist nun lange, lange her; wir hatten uns sehr lieb damals, und als wir herangewachsen waren, nahm wohl Jeder in unserer Umgebung stillschweigend an, daß wir für’s Leben zusammengehören würden. Ob es meinem Vater ganz recht war, das feine zierliche Edelfräulein als künftige Tochter betrachten zu sollen, habe ich manchmal bezweifelt. Er war aus reicher Schulzenfamilie, und obschon ein grundgelehrter und studirter Herr Pfarrer, hatte er doch seinen echten, starren Bauernstolz, der es nicht gern sah, wenn Einer sich über ihn stellte. Graf Maltiz, Ina’s Vater, hätte nichts gegen die Partie gehabt, glaube ich. Er war der jovialste, gutmüthigste Kerl, den meine Augen je gesehen; er lebte und ließ leben und war jedem ein guter Camerad, der mit ihm „Rothspohn“ trank und auf die Jagd ging. – – Als ich nach dem dritten Semester in den Ferien nach Hause kam, fand ich alles verändert: Ina’s Vater war plötzlich gestorben. Der Verkehr zwischen dem Schloß und der Pfarre hatte fast gänzlich aufgehört, und das fremde kühle Wesen der Familie Maltiz hielt mich fern. Heimliche Rendezvous im Schloßgarten gab es wohl noch, aber Ina war doch verändert, verlegen oder herrisch in seltsamer Abwechselung, und ich, der gute dumme Michel, der unter den Commilitonen für ein Licht galt, ich ließ mir das Alles harmlos gefallen, und als dann wieder eine hübsche Zeit in’s Land gegangen war – ich befand mich gerade im Staatsexamen – erhielt ich die Anzeige von der Verlobung der Comtesse Iduna von Maltiz mit einem Andern – und dann wurde sie Baronin Bassowitz – ich weiß wohl: ohne Liebe.

„Komm, Hans, hilf mir!“ hatte sie mir nun telegraphirt. Ihr Nothschrei rührte mich. Nichts gab es, was mich halten durfte. Noch ehe man mich dort im Eichenhof selbst erwartete, war ich unterwegs.

Aber was war mir, im Grunde genommen, heute noch die Baronin Bassowitz? Und doch begann mein Herz immer heftiger zu klopfen, je näher ich die hellerleuchteten Schloßfenster herüberglänzen sah. – –

Als wir am Dorfe landeten, griff gleich ein Dutzend rüstiger Hände vom Steg herab nach dem schaukelnden Boot. „Das Frölen“ schwang sich behende hinauf, befahl Korl kurz, mich zu begleiten, und bewegte sich schnell die Eichenallee entlang, die auf den Edelhof mündete. Korl, eine Stalllaterne, die man ihm gegeben hatte, hin und her schaukelnd, in der ein qualmender Docht glomm, ging schweigend neben mir unter den uralten weitschattenden Bäumen.

Ich hielt es für an der Zeit, endlich zu erfahren, welcher Ursache ich die schleunige Herbeirufung verdankte.

„Ist Jemand im Schlosse krank?“ fragte ich zögernd den Mann.

„Neeh,“ sagte er gedehnt.

Sollte ich weiter forschen? Immer angstbeklommener wurde mir zu Muthe. Mein Gott, was konnte Ina geschehen sein, daß sie mich zu ihrer Hülfe herbeirief? Behandelte ihr Mann sie unzart? Meine Phantasie arbeitete kräftig. Die Leute hier zu Lande kannte ich ja; unter ein wenig äußerer Politur verbirgt sich bei ihnen ein gut Theil rücksichtsloser Brutalität – und meine arme zarte zerbrechliche Blume in rohen Fäusten! Fix und fertig stand das tragische Schicksal meines Lieblings mir vor Augen, ehe ich noch den Fuß auf die Freitreppe des Schlosses gesetzt. Meine Voreingenommenheit gegen den Schloßherrn war so groß, daß ich kühl und steif die artige Verbeugung des imposanten Herrn erwiderte, der, ein Windlicht in der Hand, von einer stattlichen Reihe von Dienern umgeben, im Portal stand. Natürlich werde ich der Willkür dieses Wütherichs meine holde Ina entreißen, sagte ich mir; meine Hand werde ich schützend über sie breiten. Wehe dem, der eines ihrer seidenen Haare zu berühren wagt!

Ich nahm es dem Baron beinahe übel, daß er mich mit feinster Höflichkeit willkommen hieß. Zögernd legte ich meine Fingerspitzen in seine mir entgegengestreckte Hand. Er war kein junger Mann mehr, aber von so stattlichem und herzgewinnendem Aeußeren, daß man sein vorgeschrittenes Alter darüber schier vergaß und mein Zorn schnell verrauchte. Er war, was man einen „schönen Mann“ zu nennen pflegt: groß, mit breiten Schultern und breitgewölbter Brust, auf die der krause Vollbart hinabwallte, mit ein paar hellblauen, intelligent und treublickenden Augen und einer lichten, hohen Stirn, die von der energischeren Färbung des übrigen Gesichts marmorweiß abstach.

Trauer, eine würdevoll und ruhig getragene Trauer lag in diesem Augenblick auf dem männlichen Gesicht; unterdrückter Schmerz kämpfte auch in der Stimme, als er mir gedämpften Tones sagte:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_546.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)